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Elftes Kapitel.
Spiegel und Tod

Nicht nur Liebe war es, die Ferdinand und Barbara miteinander verband. Es hatte sich zwischen ihnen eine tiefe Einheit herausgebildet, eine Einheit, in der beide aufgingen. So widerspruchsvoll es klingt, diese Einheit wäre nicht so mächtig gewesen, wenn das Paar, gleichen Blutes, ineinander Mutter und Kind hätte lieben müssen. Daß sie sich nur durch Zufall gefunden hatten, daß die äußeren Mächte sie einst bestimmt auseinanderreißen würden, dies verlieh ihrem Bund eine angstvolle Zärtlichkeit.

Das erste Bild, das Ferdinand beim Erwachen sah, war Barbara. Barbara entkleidete ihn auch und zog den Vorhang des Schlafes über sein Bewußtsein. Vorher sprach sie gemeinsam mit ihm ein kurzes Kindergebet. Man darf nicht meinen, daß sie das Gemüt des Knaben immerzu mit religiösen Worten und Vorstellungen erfüllt hätte. Im Gegensatz zu andren älteren Frauen gebrauchte sie den Namen Gottes und der Heiligen auffallend selten. Dessen hatte es bei ihr nicht Not. Heute will es Ferdinand R. scheinen, daß jede ihrer Bewegungen, jede Handreichung, jeder Gruß, jedes Lächeln dieser unendlichen Inhalte voll gewesen sei, die nicht erst wörtlich beschworen werden mußten.

Der Schiffsarzt vertritt mit Vorliebe die Ansicht, daß die Menschen ein und desselben Zeitalters, des unsrigen zum Beispiel, durchaus nicht der gleichen geschichtlichen Epoche angehören müssen. Zwischen den Bewohnern eines Bauerngehöfts, mögen sie auch noch so gut mit dem Radio umgehen, und den Inhalten eines Literatencafés, mögen sie sich auch noch so sehr zur proletarischen Einfalt bekennen – klafft der Abgrund einiger Jahrzehntausende. Ferdinand, der, wie es sich zeigen wird, Bauernhöfe und Literatencafés kennengelernt hat, hält den Weg dieser Jahrzehntausende weiter für keinen Fortschritt. Er sieht nur in gewissen Menschen den Ausdruck verschiedener historischer Zeiten. Auf den Straßen gehen Gestalten aus der jüngeren Steinzeit einträchtig neben gezierten Figuren des achtzehnten Jahrhunderts. Man muß nur den Blick dafür haben, um diese Vielfalt zu entdecken. In Barbara könnte man eine Frau des zwölften oder dreizehnten Jahrhunderts erblicken. Für Ferdinand wenigstens ist sie auf Goldgrund gemalt.

Noch heute dünkt es ihn, daß selbst das Animalische seiner frühen Kindheit von Heiligung durchdrungen war. Er erinnert sich bestimmter, sehr wohlschmeckender Speisen, die ihm Barbara einst zubereitete. Wenn er den Geschmack dieser Speisen in sich hervorruft, beschleicht ihn ein zartes Ergriffensein, dessen Eigenart vielleicht am nächsten dem Worte »fromm« benachbart ist. Ja, er bewahrt in seinem Gedächtnis den Geruch und die Würze solcher Gerichte, wie man sich mit Rührung verschollener Landschaften erinnert, von denen man nicht weiß, ob man sie in Wirklichkeit, im Traum oder in einem anderen Leben gesehen hat.

Es kann nicht wundernehmen, daß Ferdinands Beziehung zu Papa in diesen Wochen immer schwächer und kühler wurde. Die Krankheit des Winters hatte seine Sinne geöffnet und seine Fühlenskraft gealtert. Niemals noch waren seine Tage reicher gewesen als während dieses Frühlings. Die Einheit zwischen ihm und Barbara aber konnte ein Dritter nicht durchbrechen. Auch beging Papa, nachdem sein Werben um Ferdinand mißlungen war, neuerdings einen Fehler dadurch, daß er jetzt ein strenges, forderndes Wesen annahm. Der Bub war nun bald sechs Jahre alt. Andere Kinder hatten schon vor Schulantritt die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens inne. Ferdinand neigte offensichtlich zum Nichtstun, zur verträumten Trägheit. Man würde ihn sehr früh schon in geregelte »Beschäftigung« spannen müssen. Papa brachte als letztes Geschenk einen Malkasten und Vorlagen mit. Ferdinand erhielt den Auftrag, alltäglich eines dieser Muster abzupinseln. Hatte er bisher mit Leidenschaft farbige Absonderlichkeiten zu Papier gebracht, so erstickte Papas Forderung nun sogleich die Lust daran. Er versäumte die anbefohlene Beschäftigung und lernte nun die Angst des Arbeitsscheuen kennen, wenn Papa am Nachmittag in sein Zimmer trat. Wer weiß, wie sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn noch weiter verändert hätte, wäre nicht jenes verhängnisvolle Ereignis eingetreten, das Ferdinands Kindheit so frühzeitig zerstörte.

Der Juli neigte seinem Ende zu. Die Garnison rüstete sich schon, die Übungslager zu beziehen. Es fanden die letzten großen Ausrückungen in der hauptstädtischen Umgebung statt, während welcher sich die Kommandanten von der kriegerischen Tauglichkeit ihrer Truppenkörper überzeugen wollten, ehe sie die Bataillone »draußen« der pedantischen Nörgelei oder der hochnäsigen Süffisance alter Generale und junger Generalstäbler aussetzen mußten. Die Kasernen hatten ihre nervösen Tage. Standeslisten, Anforderungen, Verrechnungen, Schikanen häuften sich auf den Kanzleischreibtischen. Übernahme und Fassung verwirrte die Ruhe der Magazine. Reservisten rückten zur Waffenübung ein und brachten mit dem phlegmatischen Widerstand ihrer verbürgerten Körper die Kompagnieverhältnisse in Unordnung. Alljährlich um diese Zeit fand eine kleine Mobilisierung statt. Keiner wußte, wo ihm der Kopf stand. Die Chefs der einzelnen Regimenter durchlebten erregte Stunden, da sie sich für den Glanz ihrer Truppe verantwortlich fühlten und davor zitterten, daß im entscheidenden Augenblick etwas nicht klappen könnte. Auch die älteren Herren, die eigentlich nichts anderes zu fürchten hatten als eine unwesentlich verfrühte Pensionierung, dampften vor Angst und Ehrgeiz. Es gehört ja zum Wesen des militärischen Lebens, daß es die Empfindungen, die es dem Menschen beläßt, ohne Rücksicht auf Sinn und Vernunft automatisch auslöst. Vor der Manöverepisode des Jahres war eben Jung und Alt vorschriftsgemäß erregt. Dies gehörte sich so. Die Erregung hatte heuer sogar einen besonders feierlichen Anlaß, denn das Korps der Hauptstadt war dazu bestimmt worden, bei den diesfälligen Kaisermanövern in Mähren die Angriffsarmee zu bilden.

Auch die Nervosität des Obersten hatte einen ungewöhnlichen Grad erreicht. Ihm war die erwünschte Aufgabe zugefallen, die Kaisermanöver an der Spitze seines Regiments mitzukämpfen. Ein verzehrender Ehrgeiz erwachte in ihm – auch dies war eine epidemische Erscheinung –, Seiner Majestät, dem Kaiser, Bataillone ohnegleichen vorzuführen, Soldaten mit blitzenden Knöpfen, blank von der Kappe bis zu den Stiefeln, eine herrliche Schar, deren reglementarischer Glanz auch in der Hitze des Gefechtes nicht verlorengehen sollte. Ebenso wie alle andern Offiziere war auch dieser feiner empfindende Mann von dem allgemeinen Traume heimgesucht, gerade er und sein Regiment werde durch eine unvorhergesehene Fügung den Augen des Monarchen auffallen. Auch er hörte schon bei der »Kritik« einen freundlichen Ausruf der Allerhöchsten Person, ein Lobeswort, er sah sich ausgezeichnet und vom knirschenden Neid dunkel gebliebener Kameraden beglückwünscht. Der Oberst kümmerte sich um alles, vom festgerollten Soldatenmantel bis zum Brotsack, vom Gewehrverschluß bis zur Fahrküche, vom Stabsoffizier bis zu Kedvesch. Er arbeitete tief in die Nacht hinein in der Regimentskanzlei. Einige Tage lang bekam ihn Ferdinand überhaupt nicht zu Gesicht.

Für Donnerstag und Freitag waren die letzten Ausrückungen auf den »Weißen Berg« angesetzt; Donnerstag ein Gefechtsakt, die Erstürmung supponierter Artilleriestellungen bei der Kapelle, Freitag aber eine Parade sämtlicher Kompagnien, eine Generalprobe der Exerziertüchtigkeit und guten Haltung der eingerückten Jahrgänge. Das Unglück wollte es, daß bei den endlosen Übungen eine Hitze sondergleichen herrschte. An beiden Tagen blieb der Oberst stundenlang im Sattel, ohne aus der prallsten Sonnenglut zu weichen, womit er den Seinen das Beispiel einer tapferen Ausdauer geben wollte, die vor keiner Elementargewalt zurückweicht. Der Freitag wuchs sich zu einem Katastrophentag erster Ordnung aus. Er begann schon mit Verdruß. Zwei jüngere Offiziere nämlich trafen verspätet auf dem Exerzierfeld ein, und der Herr Oberst war infolgedessen gezwungen, sein eigenes Erscheinen zurückzuhalten, da durch diese Verwirrung die dienstgemäße Stufenleiter der Meldungen nicht zustande kam und volle zehn Minuten (nach militärischen Begriffen eine ungeheuerliche Zeit) vergehen mußten, ehe der älteste Bataillonskommandant auf den Chef zuritt, den Säbel senkte und ihm mit bebender Stimme die Zahl der ausgerückten Feuergewehre meldete. Nur wer Soldat gewesen ist, kann ermessen, welch eine niedergedrückte Stimmung von solchen Verstößen erzeugt wird. Ein ähnlich schmachbeladenes Gefühl entsteht in einem Orchester, wenn einige Takte »geschmissen« werden. Aber bei diesem anfänglichen Schmiß blieb es nicht, denn ein Anstand folgte auf den andern. Das Regiment erwies sich nach der immer wieder geäußerten Ansicht seines Führers als eine »Zivilistenhorde« und ein »Sauhaufen«. Das Maß war voll, als ein Einjährig-Freiwilliger dem Kommandanten eine unschickliche Antwort gab. Gegen seine sonstige Art geriet der Oberst außer sich und verdonnerte den Frevler, ohne ihn erst zum Regimentsrapport zu befehlen, auf der Stelle zu einer ausgedehnten Arreststrafe. Alles hatte sich verschworen, denn gerade während dieser unerquicklichen Episode meldete ein Adjutant die Ankunft des Herrn Divisionärs, der den Übungen beizuwohnen wünschte. Dieser unangesagte Überfall durch einen hohen Vorgesetzen war nicht darnach angetan, den Gemütszustand des Obersten aufzuhellen. Als dann die alte Exzellenz, eine magenkranke Verdrußgestalt, herumzumäkeln begann und, um ihre Kenntnisse ins rechte Licht zu rücken, dies und jenes ausstellte, platzte die Bombe. Gegen alle soldatische Sitte brach der Oberst die Übung ab und meldete dem General gehorsamst, daß er seine Leute den Gefahren des Hitzschlags nicht länger auszusetzen gedenke.

Abends, auf dem Heimweg von der Kaserne befielen ihn dann Gewissensbisse. Sie galten aber nicht, wie man leicht annehmen könnte, der scharfen Lehre, die er seinem Vorgesetzten erteilt hatte, sie galten einem Untergebenen. Er hatte nämlich erfahren, daß jener gemaßregelte Einjährige den doppelten Doktortitel besitze und eine Hoffnung der Wissenschaft vorstelle. Der Oberst litt stets unter dem Bewußtsein einer unzulänglichen Bildung. Trotz seines Ranges gemahnte ihn das Leben immer wieder an seine Herkunft und an seine einseitig beschränkten Kenntnisse. Dazu kam, daß er, wie alle strebsamen Militärs, eine abergläubliche Ehrfurcht vor dem Zauberwort »Wissenschaft« empfand. Nun war durch einen Zufall ein sehr gelehrter und durchgebildeter Geist unter seine Fuchtel geraten. Und er hatte es in einer plebejischen Zornesanwandlung nicht verschmäht, diesen Gelehrten, der vor Gott höher stand als er selbst, seine Macht fühlen zu lassen. Von solch trüben Gedanken verfolgt, betrat der Oberst seine Wohnung. Barbara hatte Ferdinand schon zu Bette gebracht. Papa zog einen Stuhl heran und betrachtete eingehend und stumm seinen Jungen. Ja, auch dieser hier war aus einem andern Holze geschnitzt als er, aus dem Holze des sehr studierten Einjährig-Freiwilligen vielleicht. Über kurz oder lang würde auch er zu seinen Feinden übergehen. Der Oberst hörte den Ton, mit welchem der doppelte Doktor heute vor der Front seine scharfe Frage, »Haben Sie verstanden«, beantwortet hatte: »Zu Befehl, Herr Oberst!« Vier Worte nur! Aber wer hören konnte, entnahm ihnen eine unbändige Verachtung. Nein, nein, Ferdinand sollte nicht Soldat werden. Aber was sollte er denn werden? Zum Studium gehörte Geld. Papa dachte mit eiskaltem Grauen an gewisse Wechsel, die er vorgestern unterfertigt hatte. Dumpfe Sorgen durchwölkten den Sinn des Mannes. Er nahm Ferdinands Hand:

»Also, Bubi, in acht Tagen geht es los. Willst du mitkommen? Ich werde dich und Babi schon irgendwo unterbringen.«

»Ja, Papa.«

In Ferdinands Stimme lag keine große Begeisterung. Litt der Bub vielleicht unter der Trennung von seiner Mutter? Ach, und er wußte ja gar nicht, daß sie tot war. Ein verwickelter Konflikt wuchs groß. Die Frage, die Papa jetzt an seinen Sohn stellte, klang fast demütig:

»Ist es dir vielleicht lieber, mit Babi in der Stadt zu bleiben?« Ferdinand schwieg vorsichtig. Daraufhin entwickelte der Oberst einen andern Plan:

»... Oder warte! Ich werde hier in der Nähe, auf dem Lande draußen, etwas Geeignetes für euch suchen. Du siehst ja elend aus. In der Stadt kannst du nicht bleiben. Du mußt frische Luft haben. Wie?«

»Was dir lieber ist, Papa ...«

Ferdinands frostige Teilnahmslosigkeit machte dem Obersten seine eigene Erschöpfung bewußt. Er sagte gute Nacht und erhob sich. Langsam ging er durch die dunklen Räume. Vor dem Klavier zögerte er einen Augenblick. Aus der Küche drang die Stimme des Burschen Vojta:

»Korn hab' ich gesät,
Doch ich werd's nicht mähn.«

Die heulende Stimme beklagte in einem nicht ganz verständlichen Vers die Härte eines Mädchens, ehe sie sich zum Verzicht aufschwang:

»Wer sie führt zur Ehe,
Auch den Roggen mähe ...«

Der Oberst betrat sein Zimmer. Hier erfaßte ihn ein absonderlicher Anfall von Einsamkeitsfieber. Er hielt sich mit beiden Händen am Schreibtisch fest, dann ließ er sich los wie einen Gegenstand, der von fremden Kräften angetrieben wird, und umjagte einige Dutzend Male das Zimmerrechteck. Zuletzt erwischte er eine Porzellanfigur (ein Geschenk Mamas) und drückte sie als Kühlung an seine Stirn, denn er glaubte, vor Kopfschmerzen wahnsinnig werden zu müssen. Es war nicht auszuhalten. Nur fort aus dem Hause, irgendwohin, in ein Varieté, in ein Kaffeehaus, unter Menschen! Ein Weib aufgabeln und die Nacht mit ihr in einem Hotel verbringen! Nur fort! Er begann sich umzukleiden. Die Handhabung mit dem ungewohnten Zivil, mit Kragen und Krawatte, beruhigte ihn etwas. Endlich war er fertig und trat vor den Spiegel. Abgründiges Erstaunen wandelte ihn an. Eine eckige Gestalt stand da im steifen, gleichsam ausgewachsenen Gewand, das den Körper entstellte. Ein Anblick, der keine Befriedigung gewähren konnte. Wer war dieser Prolet im Sonntagsanzug, dieser in die Stadt verschlagene Knecht, der ihn dumpf anstierte? Der Oberst machte einige Bewegungen, um zu sehen, ob das Spiegelbild sie erwidern werde. Und wahrhaftig, der Sohn des Verwalters im Spiegel erwiderte sie.

In dieser Nacht wurde Ferdinand von einem schweren bilderkranken Schlaf gequält. Es lag schon die erste Dämmerung im Zimmer, als ihn ein Geräusch erschreckte, das in dem hallenden Hohlraum dieser Stunde sonderbar übertrieben klang. Papas Schlüssel rauschte im Schloß der Wohnungstür, die mit einem langen Seufzer aufging. Die schweren, unsicheren Schritte eines Menschen, der nichts sieht, tappten im Vorraum. Ferdinand fürchtete sich jetzt vor Papas Schritten wie vor einem Gespenst. Er fühlte, daß sie sein Zimmer suchten. Ängstlich umarmte er sein Kissen und preßte die Augen zu. Das Tappen kam immer näher. Endlich stand es vor seinem Bette still. Der Knabe zweifelte nun, ob diese unbekannten Schritte seinem Vater angehörten. Vielleicht war ein Fremder, ein Feind in sein Zimmer eingebrochen. Er hielt seinen Atem an. Der fremde Mann machte keine Bewegung, und Ferdinand versteckte sich in dem fernsten Winkel seines Halbtraumes. Schwer kämpfender Atem wurde vernehmlich. Da spürte Ferdinand, daß sich das Gesicht des Eindringlings ihm annäherte, und im nächsten Augenblick streifte ein schnurrbärtiger Kuß seine angstfeuchte Stirn. Dies war der einzige väterliche Kuß, der ihm in Erinnerung geblieben ist. Nach einer Ewigkeit hob das Stapfen wieder an. Er hörte es nur mehr wie ein murrendes Gewitter, das viele Meilen weit von hier niederging. Als Barbara am Morgen sah, wie tief er noch schlummerte, weckte sie ihn erst zu später Stunde auf. Er konnte aber nicht recht erwachen. Immer wieder fiel er in neue Schlafumklammerung zurück. Es war schon zehn Uhr, als er am Tisch saß, um seine Frühstücksmilch zu trinken.

Kaum jedoch hatte er begonnen, öffnete sich die Tür und Vojta stürzte mit entsetzensverzerrter Grimasse herein. Er winkte Barbara mit irren Gebärden und flüsterte ihr unverständliche Worte zu. Sie wurde totenblaß und rief:

»Komm nur schnell, laß die Milch stehen ...«

Und schon rannten alle drei die Haustreppe hinab. Unten wartete eine Droschke, die Vojta requiriert hatte. Der Kleine setzte sich in den Fond. Der Diener aber und die Magd hockten auf dem Rücksitz, als gebühre es ihnen in dieser Stunde nicht, neben dem Sohne des Obersten Platz zu nehmen. Der müde Wagen holperte über ein widerspenstiges Pflaster der Kasernenvorstadt zu. Barbara und Vojta tuschelten heftig miteinander. Ferdinand erhielt immer die gleiche, eintönige Antwort:

»Papa ist ein bißchen krank geworden.«

In der Kaserne herrschte ein verlegenes Gedränge. Die Leute verrichteten mit aufdringlicher Geschäftigkeit ihre Arbeit, sprachen aber wenig und nur gedämpft. Die geschäftige Arbeitsleistung konnte darüber nicht hinwegtäuschen, daß all die klappernde Tätigkeit heute nur eine Maske war, hinter der sich ganz andere Dinge verbargen. Vielsagende Blicke und kurze Bemerkungen flogen von einem zum andern, während der Dienst seines gewöhnlichen Weges zu gehen schien.

Bei Kindern, Schülern, Soldaten, bei allen Wesen, die im Stande der Sklaverei leben, löst das Unglück eines auch noch so beliebten Vorgesetzten eine eigentümliche Sensation aus. In die starre Mauer der Ordnung scheint eine Bresche gelegt, ein Glied der fesselnden Fußkette hat sich gelockert, unbestimmte Hoffnung schleicht in die Gemüter, daß nun vielleicht die Mannszucht den ersehnten Riß erhalten habe und die endgültige Befreiung nicht ferne sei. Auf dem Grund der vielsagenden Blicke lag das pfiffige Lächeln dieser unsinnigen Hoffnung, mochte es auch nicht mehr bedeuten als: Vielleicht bekommen wir morgen einen dienstfreien Tag. Alles starrte den Knaben eindringlich an, der von Vojta und Barbara die endlosen Treppen und Gänge entlang geführt wurde. Vor den ärztlichen Räumen der Kaserne wartete ein Offizier, der Ferdinand nach ein paar beruhigenden Worten bei der Hand nahm und in Doktor Lederers Ordinationszimmer brachte.

Papa lag auf dem Diwan. Sein Kopf war hochgebettet, seine Uniformbluse und das Hemd darunter geöffnet. Im Zimmer befanden sich außer Doktor Lederer, dem vor Mühewaltung und Verantwortlichkeitsgefühl der Schweiß auf der Stirne stand, nur noch ein Gehilfe und der rangälteste Stabsoffizier des Regiments. Dieser Oberstleutnant sprach ungehemmt auf den Kranken ein, und zwar mit einer lauten martialischen Stimme, deren Vollklang gleichsam beweisen wollte, daß er für seine Person mit derartigen Anfällen wohlvertraut sei und ihnen, tröstlicherweise, keine übermäßige Bedeutung zumesse. Er erzählte von ähnlichen Attacken, die Kameraden seiner Umgebung erlitten hätten, und fügte hinzu, daß die Wiederherstellung der Gesundheit niemals mehr als zwei oder drei Tage beanspruche. Dann nahm er sich's als alter Freund heraus, dem Obersten vorzuhalten, daß er seiner Kraft in den letzten Tagen allzuviel zugemutet habe, und daß solch zäher selbstvergessener Fleiß notwendig zu einem Zusammenbruch führen müsse. Er selber werde in Zukunft dafür sorgen, daß der Chef mehr seine Nerven schone.

Ferdinand erschrak vor der lauten Stimme und dem Gerede des Offiziers. Warum sprach dieser Mann Dinge aus, die er nicht glaubte? Warum benahm er sich zu Papa wie zu einem Kinde, das man nicht ernst nimmt? Ehe Leid und Herzangst ihn noch überwältigen konnten, war es Scham für Papa, die Ferdinand erfüllte. Die traurige Lage, in die das Schicksal den glänzenden, mächtigen Vater geworfen hatte, war ja so peinlich. Inzwischen wurde Doktor Lederer, der immer wieder frische Eisbeutel auf den Kopf des Kranken legte, durch den albernen Schwatz des Stabsoffiziers wütend:

»Herr Oberstleutnant«, rief er, »ich bitte gehorsamst zu bedenken, daß der Herr Oberst kaum etwas von dem auffassen kann, was Sie ihm hier erzählen.«

Daraufhin zog sich der Schwätzer zurück, und der Arzt schob Ferdinand näher zum Diwan heran. Papas Gesicht schien in unnatürlicher Art braun und sonnverbrannt. Das rechte Auge war halbgeschlossen, das linke starrte den Sohn strenge an. Alles in allem hatte der Daliegende sehr wenig mit Papa zu tun. Der Mund, der sonst so fest verrammelte, klaffte auseinander, ein langer Speichelfaden zog sich von der Unterlippe über das Kinn. Hie und da brachte der Oberst ein Wort zustande, aber gaumig-hohl, lallend und kaum vernehmlich. Er schien mit dem einzigen strengen Auge seinen Sohn gegnerisch zu messen:

»Der dort ... Vor dem Feinde ... Einjähriger Korporal ... Das Ganze herstellt ... Näher kommen ...«

Doktor Lederer beugte sich über den Kranken:

»Herr Oberst! Schauen Herr Oberst nur, wer gekommen ist!«

Und er zog den widerstrebenden Knaben ganz nahe in das Blickfeld des starrenden Auges. Dieses aber erweichte sich nicht, und die Stimme keuchte wütend:

»Haben ... Sie mich ... verstanden, ... Sie Gelehrter!?«

Ferdinand hätte fast losgeheult, aber nicht aus Schmerz um Papa, sondern weil es ihm unerträglich war, länger in diesem Zimmer zu bleiben. Jetzt schien sich der Oberst zu besinnen. Mit Riesenanstrengung versuchte er eine Hand zu bewegen. Auch das stiere Auge kämpfte um einen andern Ausdruck. Der Arzt betonte, als müsse er sich einem Schwerhörigen verständlich machen, jede Silbe:

»Was befehlen Herr Oberst?«

Nun aber hatte der Vater sein Kind erkannt. Der gelähmte Körper kämpfte. Die heiseren Atemstöße bildeten Worte:

»Nach Hause, du ... Schnell, du ... Gleich ... Mama herbringen ...«

Doktor Lederer führte Ferdinand rasch aus dem Raum und übergab ihn Barbara. Sie verbrachten beide den ganzen Nachmittag im Wartesaal des Garnisonsspitals. Die Ärzte aber ließen den Knaben nicht mehr zu seinem Vater vor. Gegen acht Uhr abends schickte man ihn und Barbara nach Hause. Was Ferdinand bisher nur selten getan hatte, geschah an diesem Abend. Er ging in das Zimmer Papas und setzte sich dort still nieder. Barbara, der eine tiefe Scheu Schweigen gebot, ließ ihren Liebling gewähren. Sie kam nur einmal in das Zimmer des Vaters, um Licht zu machen. Ferdinand sah die Glocke der Gaslampe im langen Spiegel des Kleiderkastens schwanken. Eine unbekannte Neugier erfaßte ihn. Er schlich auf Zehenspitzen näher, als habe er etwas Verbotenes, Sündhaftes vor. Und dann besah er sich sehr lange in Papas Spiegel, in demselben Spiegel, der gestern nachts dem Todgeweihten eine so fremde und armselige Gestalt dargeboten hatte.

Ferdinand betrachtete jetzt zum erstenmal mit Bewußtsein sein eigenes Bild, sein eigenes Ich im Spiegel, und dies ereignete sich in derselben Stunde, die ihn zur Waise machte.


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