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Neuntes Kapitel.
Typhus

Es war eine Ehetragödie im Stil der neunziger Jahre.

(Wie schon gesagt, nicht nur die Bilder, auch die Schicksale werden im Wandel der Zeiten zum Kostüm. Wir betrachten eine Aufnahme aus den ersten Jahren der photographischen Kunst. Im Vordergrund einer Gartenlandschaft steht ein Herr, der seinen hohen Zylinder in der Hand hält und sich, den linken Fuß leicht über den rechten kreuzend, auf einen Stock stützt. Daß dieser Herr altmodisch wirkt, ist weiter nicht verwunderlich, aber warum sehen auch die Bäume so unnatürlich stilisiert aus, als wären sie von einem Vorgänger Corots gemalt? Verdient das Objektiv der Kamera nicht, objektiv genannt zu werden? Oder ist die Natur selbst dem Ablauf der Moden unterworfen, so daß auch die Bäume ihr Laubgewand alle dreißig Jahre auf eine andere Art raffen? Nicht zu leugnen ist es, daß die bittersten Schicksale und Nöte des Menschen nach einiger Zeit in uns einen veraltet stilisierten Eindruck hervorrufen. Sie scheinen den steifgewordenen Theaterstücken ihrer verrauschten Gegenwart entsprungen zu sein. Die überlieferten Worte und Handlungen der Toten gemahnen an den Text jener Komödien, der in stockfleckigen Soufflierbüchern aufbewahrt wird.)

Von den Personen der großen Szene in dem ländlichen Hotelzimmer war in Ferdinands Gedächtnis weder Papa in Feldmontur zurückgeblieben noch Mama oder Onkel Bogdan. Nur das schreckhafte Erwachen lebte weiter, die warnende Laternenschrift an der Wand und das Gefühl, durch einen langen Gang getragen zu werden, der zugleich ein Spalier höhnisch geöffneter Türen ist.

Des genaueren Folgenablaufs jener Nacht ist sich Ferdinand auch nicht völlig bewußt. So zum Beispiel weiß er nicht, ob zwischen Papa und Onkel Bogdan ein Zweikampf stattfand. Fest steht, daß er Mama zu Hause nicht wiedersah. Doch es befällt ihn noch oft das Andenken an die letzte Begegnung mit ihr. Sie fand in den städtischen Anlagen statt. Fest steht ferner, daß der Rittmeister sogleich den Dienst quittierte oder quittieren mußte, und daß er in der Weihnachtswoche desselbigen Jahres sich heimlich mit Mama in Genua einschiffte und mit ihr nach Argentinien floh.

Ferdinand aber erkrankte am Abend des Allerseelenfestes schwer. Es liegt keine Notwendigkeit vor, seine Erkrankung mit jenem schweren Erlebnis, so gefährlich es sich auch eingewühlt hatte, in Zusammenhang zu bringen. Typhusepidemien waren zu damaliger Zeit in der Hauptstadt an der Tagesordnung. Barbara hatte dem Knaben gerade das Abendessen gebracht. Es bestand aus zwei kernweich gekochten Eiern und einem Stück Butterbrot. Sie schlug die Schalen auf und schob Ferdinand den Becher hin. Er begann träge das dickflüssige Dotter zu löffeln. Kaum aber hatte er einige Bissen geschluckt, als ihn ein tiefer Ekel erfaßte. Keine Speise der Welt schien ihm jetzt widerwärtiger zu sein als kernweiche Eier.

»Das ist schlecht, es schmeckt mir nicht«, sagte er. Barbara roch zu dem Ei:

»Nein, es ist ein wunderbares Ei. Er muß es brav aufessen!«

Dagegen gab es keine Berufung. Ferdinand bezwang sich und würgte noch zwei Löffel hinunter. Dann aber starrte er Barbara an:

»Da heraus kommen die Hühner, was?«

»Ja, ja! Ess' Er nur brav weiter!«

»Aber die Hühner haben doch Blut ...«

Er stand auf und mußte sich übergeben. Barbara brachte ihn zu Bett. Das Fieber stieg sogleich hoch hinan.

Kein Wunder, daß der Oberst, der ja in diesen Wochen um den Besitz seines Sohnes kämpfte, Tag und Nacht für Ferdinands Leben bangte und alles aufbot, um die Krankheit niederzukämpfen. Nicht nur erschien allabendlich der Regimentsarzt Doktor Lederer – dessen lustige Art anfangs eine erfreuliche Abwechslung bot –, es kamen einmal zwei finstere Herren mit ihm und umflüsterten das Kinderbett. Ferdinand schenkte ihnen nicht die geringste Beachtung; selbst für Papa hatte er nur eine geduldige Gleichgültigkeit übrig. Je weiter die Krankheit vorschritt, um so mehr verdrängte sie alle Gestalten aus seinem Bewußtsein, bis auf Barbara.

Er lernte erleben, daß die Wirklichkeit in mehreren Schichten und Zuständen an uns herankommt. Es gab für den Kranken zwei Hauptwirklichkeiten: die Gegenstände des Zimmers, der Wechsel der Tageszeiten, die Ärzte, Papa, Vojta, dies war die eine, entfernt, traumhaft wie ein dumpfer Lärm. Barbara aber hieß die andere, eigentliche Wirklichkeit, und nicht nur die Frau selbst, sondern alles, was mit ihr zusammenhing, was sie tat und redete. Selbst die dicke Gerstenschleimsuppe, die sie ihm immer zur gleichen Stunde brachte, gehörte zu dieser anderen Wirklichkeit. Manchmal, wenn es Abend wurde, zündete sie auf einem Aschenbecher kleine Räucherkerzen an, die man hierzulande Franziskerln nannte und die zu Winterbeginn auf den Straßen der Stadt feilgeboten wurden. Ferdinand sah ins blaue Kräuseln, roch den brenzligen Duft, und ein erhaben beruhigender Klang zog durch seinen Sinn. Oft saß Barbara stundenlang mit einer Arbeit an seinem Bett, und weil er es forderte, erzählte sie ihm immer wieder die gleichen Geschichten und Gedichte. Die Sonne brennt unerträglich aufs goldene Getreidefeld. Den ungezogenen Jungen schilt die Mutter: »Geh nur! Die Mittagsfee wird dich holen.« Und da taucht sie auf aus dem Gewoge des Roggens, mit Kornblumen bekränzt, überschüttet von losen Halmen. In der Hand trägt sie eine riesige rote Mohnblume. In trunkenen Kreisen schleicht sie näher und näher. Sie gleicht Barbara nicht ganz, aber ein wenig doch. – Dort am Bach steht eine große Weide, die Ferdinand genau sieht. Holzarbeiter kommen mit ihren silbernen Äxten, die Weide zu schlagen:

»Oh, fällt die Weide, fällt die Weide nicht!
Allnächtlich kommt ein Kind im Mondenscheine,
Das um die Mutter seine Ärmchen flicht ...«

Die Weide ist eine Frau, die vom Winde hin- und herbewegt wird. Wiederum ein wenig Barbara und doch auch nicht.

»Hast du denn kein Kind?« fragt Ferdinand.

Er bekommt keine klare Antwort:

»Vielleicht hab' ich einmal so ein's gehabt wie du bist.«

Eines Tages aber gab die Kinderfrau den Betteleien Ferdinands nicht mehr nach. Sie hörte auf, ihm die alten Geschichten vorzusingen, als wären die Sagengestalten unfreundliche Mächte, die man nicht in ein Krankenzimmer lassen soll.

Dann kam der Abend, da Doktor Lederer, sich selber mißtrauend, die Herren des Konsiliums mitbrachte. Eine endlose Nacht nachher und wieder ein endloser Tag wie ein fader quälender Nachgeschmack. Nun aber entfernte sich auch die Wirklichkeit Barbaras von Ferdinand; auch ihr Gehen und Kommen wurde undeutlich schattenhaft. Eine dritte Wirklichkeit nahm ihn in Besitz, und ihr Inhalt war sein Körper, der sein ganzes Bewußtsein auszufüllen begann. Manchmal war dieser Körper eine große halbdunkle Höhle, in der Ferdinand ängstlich hockte, nur noch ein anderes Wesen neben sich, unsichtbar, aber laut, den Atem. Manchmal war dieser Körper eine weitgedehnte Landschaft. Zwischen Kopf und Füßen lagen mühsame Wegstrecken. Meist war der Knabe damit beschäftigt, sich in den neuen Verhältnissen seines Lebens zurechtzufinden. Nur einmal sah er auf. Sein Blick traf die Weckeruhr auf dem Tisch. Uhren zu lesen hatte er lang schon gelernt. Er versuchte den Zeigerstand zu enträtseln. Aber die Zeit spielte mit ihm Verstecken. Sie neckte ihn. Jetzt war es fünf Uhr und im nächsten Augenblick dreiviertel zwölf. Schnell gab er den anstrengenden Kampf mit der Zeit auf. Sogleich – dies war die wunderbare Folge – hatte er das Wohlgefühl, auf einer wasserähnlichen Fläche friedlich hinzuschweben, oder besser, das Fließende selbst zu sein. Ein namenloses Einverständnis mit seinem Zustand durchschwang ihn. Er bemerkte Barbara gar nicht mehr, die in diesem Augenblick eintrat.

Mißtrauisch betrachtete sie ihn, ergriff seine Hände, ließ sie wieder fallen, tastete ihm über die Brust. Dann stürzte sie aus dem Zimmer. Rauh erscholl ihre Stimme auf dem Gang: »Vojta!« Vojta aber, der jetzt vom Joch seiner Herrin befreit war, beehrte das Haus tagsüber selten mit seiner Anwesenheit. Barbara lief ins Zimmer zurück. Um ihren Kopf hatte sie unordentlich ein Tuch geschlungen. Vielleicht wollte sie Hilfe holen. Sie weinte nicht, aber keuchende, bedeutungslose Laute entrangen sich ihrem Mund. Mit Ferdinand war eine neue Veränderung vor sich gegangen. Er sah jetzt deutlich Barbaras verzweifeltes Huschen von der Tür zum Bett, vom Bett zur Tür. Eine beobachtende Verwunderung erwachte in ihm. Es war ihm, als liege er nicht nur gelähmt im Bette, sondern schwebe zugleich eine kleine Spanne hoch über seinem eigenen Daliegen. Kranke in diesem Zustand haben ein »verwackeltes« Bewußtsein. Barbara aber, die erkannte, daß sie das Kind jetzt nicht verlassen dürfe, um einen Arzt zu rufen, faßte sich plötzlich. Ein dunkler mächtiger Entschluß trat in ihre Züge. Sie kniete mit festgefalteten Händen mitten im Zimmer nieder, ohne Ferdinand zu beobachten, ohne Verzweiflung zu zeigen. Tief senkte sie den Kopf und verblieb regungslos in der anbrechenden Dämmerung, die das Schweigen des Raumes verzehnfachte. Die Gestalt der knienden Frau ballte sich zu einem schmalen schwarzen Berg zusammen, der aus der Zimmerlandschaft faltig emporwuchs. Das Kopftuch fiel ihr übers Gesicht. Ferdinands Haut begann auf einmal zu jucken. Er wimmerte leise auf. Barbara regte sich noch immer nicht. Das Jucken ging in ein Brennen über. Zugleich drückte und zog ihn etwas von allen Seiten ins Bett zurück. Jetzt fing er zu weinen an ...

Barbara erhob sich, ging mit ruhigem Schritt zum Bett, schob das Hemd des Kindes zurück und legte ihre arbeitsharten Hände auf seine Stirn und Herzgrube. Ferdinand bäumte sich empor. Vielleicht war in ihren Händen der Strom des Gebetes so stark noch geschlossen, daß er wie ein elektrischer Schlag seinen Körper durchschütterte. Nach wenigen Minuten schlief er ein.


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