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Ferdinand ist überzeugt davon, daß der Begräbnistag seines Vaters der eitelste Tag seiner Kindheit war. Das militärische Schaugepränge, das anläßlich der Trauerfeier entfaltet wurde und den kleinen Sohn des Toten in die glänzende Mitte nahm, bot auch Grund genug zur Eitelkeit.
Doch schon vorher tauchten mehr oder weniger fremde Leute auf, die Ferdinand mit Liebesbeweisen und Zeichen der Anteilnahme überschütteten. Tante Karolin, die man sonst nur selten zu Gesicht bekam, drang mit scharfer Energie in die Wohnung und in die Gemeinsamkeit von Ferdinand und Barbara ein. Zwischen dem Obersten und Karolin hatte sich nach Mamas Verschwinden eine höchst unerquickliche Szene abgespielt, in deren Verlauf ein Hagel von Anklagen über ihr Haupt niedergegangen war. Sie trage die Hauptschuld am Zusammenbruch seiner Ehe, hatte der Oberst behauptet, sie habe sich immer als böses Prinzip erwiesen und in ihrer jungen Schwester stets Unzufriedenheit, Hochmut, dünkelhaftes Streben und verbotene Süchte erweckt. Anstatt als weitaus Ältere dahin zu wirken, daß die Mißverständnisse zwischen Mann und Frau sich mindern, habe sie aus reiner Bosheit jedes kleine Ärgernis aufgebauscht, unablässig Gift gestreut und nicht eher geruht, bis das Glück in Trümmern lag. Nach dieser blutigen Anklage war Karolin damals weinend davongestürzt und hatte geschworen, das Haus ihres ehemaligen Schwagers bei seinem Lebzeiten nicht mehr zu betreten. Das Schicksal erleichterte ihr es, diesen Schwur zu halten. Sie erschien am Tage nach Papas Ableben schon um neun Uhr morgens und erbot sich, das Kind ihrer Schwester sogleich zu sich zu nehmen. Da sie Witwe war und eine große Wohnung besaß, lag dieser Entschluß sehr nahe. Erst den gewichtigen Gründen, die Barbara ins Treffen führte, gelang es, die Entscheidung über Ferdinands Zukunft auf die Tage nach den Funeralien zu verlegen. – Bis dahin setzte sich Tante Karolin im Hause fest und nahm die Beileidsbesuche entgegen, denn es prangte, obgleich sie mit dem Verstorbenen in schwerer Fehde gelegen, neben Ferdinands Namen einzig der ihre auf der Totenparte. Mochten es auch die Eingeweihten für abgeschmackt halten, sie thronte im Salon, sprach leise, trug Trauer, zeigte in Gegenwart der Besucher Tränenspuren und ließ jedesmal Ferdinand von Vojta hereinführen, der nun wieder Livree tragen mußte. Sie hielt für ihre Gäste Teegebäck und eine nicht minder trockene Phrase bereit, in der das Wort »der arme Junge« die erbarmenswürdige Hauptrolle spielte. Wenn es ertönte, empfand Ferdinand immer einen bittersüßen Stolz, der, indem er weh tat, wohltat. Wie seltsam vermischte sich doch das Angenehme mit dem Leidvollen! Hatte man unter dem Daumennagel eine wunde Stelle, so rief man gewiß durch Schieben und Quetschen unablässig jenen leicht-brennenden Schmerz hervor, der zugleich Lust bereitete.
Der plötzliche Tod des Obersten hatte in der Stadt einiges Aufsehen gemacht. Ein stiller rechtlicher Mann, in keiner Weise sich vordrängend, war einige Monate nach der niederschmetternden Tragödie seines Lebens vom Schlage hingerafft worden. Romantische Verknüpfungen lagen auf der Hand. Hier ein ergrauender Krieger, der alten Generation noch angehörend, dort eine weit jüngere Frau, emanzipiert, den verbrauchten Ehrbegriffen abhold, von der Leidenschaft besessen, »sich auszuleben«! Sich ausleben, in diesem abgestandenen Wort aus der Perspektive des Jahrhundertendes ist der moralische Geruch jener Zeit gut eingefangen, alles, was ein gefestiger Mitmensch damals Mama und ihresgleichen vorzuwerfen liebte. Wie leicht also war es zu begreifen, daß ein älterer Ehrenmann, der noch an die Heiligkeit der Ehe glaubte, durch solche Enttäuschung zugrunde ging.
Der Korpskommandant der Hauptstadt, Feldzeugmeister Baron Röthel, dessen fideler Stab im Vorjahre dieser Ehetragödie Vorschub geleistet hatte, ließ sich das Konduite- und Beschreibungsblatt des Obersten vorlegen. Dabei stellte sich heraus, daß der Hingeschiedene zu der dünngewordenen Garde von Offizieren gehörte, die noch den Feldzug von 1866 mitgekämpft hatten, wobei ihm eine schöne Auszeichnung zuteil geworden war. Fast niemand unter seinen Kameraden wußte etwas von dieser kriegerischen Vergangenheit, da er niemals davon gesprochen hatte. Es zeigte sich ferner, daß man ihn nach den diesjährigen Kaisermanövern keinesfalls hätte im Avancement übergehen dürfen, da er nicht nur ein tüchtiger Truppier gewesen, sondern laut der Qualifikationsliste all jene Kurse absolviert hatte, die den höheren militärwissenschaftlichen Anforderungen entsprachen. Es gereichte ihm auch zu besonderem Ruhme, daß er im Gegensatz zu allen Strebern keinen Schritt zur Förderung seiner Interessen unternommen und nirgends und bei niemandem vorgesprochen hatte. In einer Tageszeitung erschien eine verständnisvolle Würdigung seines milden und dabei unbeugsamen Wesens. Sie stammte aus der routinierten Feder eines früheren Einjährig-Freiwilligen und war von der erstaunten Rührung verklärt, die wir gerne für einen Mächtigen empfinden, der uns menschlich behandelt oder auch nur in Ruhe läßt, wo er uns doch ebenso leicht kujonieren könnte. Dieser Aufsatz, der auch in anderen Blättern nachgedruckt wurde, trug nicht wenig zur Hebung des militärischen Ansehens in einer Stadt bei, die alles eher als armeefreundlich war.
Daraufhin beschloß Feldzeugmeister Baron Röthel dem Obersten ein Leichenbegängnis zuzubilligen, wie es sonst nur Gebühr der Generalität war. Daß ihm bei dieser Verfügung die peinliche Nachtszene in dem kleinen Hotel unangenehm in Erinnerung trat, war weiter nicht verwunderlich.
Eine »Generalsleich« unterscheidet sich von einer rangsniedrigeren Leich durch drei Dinge: durch den schwarzen Ritter, durch das Ordenskissen und durch das Leib- und Schlachtroß. Bis auf das Schlachtroß, das gewürdigt ist, dem Feldherrnsarg voranzuschreiten, bis auf diese erhabene Prunkgebärde, die den höchsten Chargen vorbehalten bleibt, wurden dem armen Obersten die Gebräuche einer Generalsleich so ziemlich zugestanden. Ein Ritter in schwarzer Rüstung, dem man den Fahrkanonier nicht anmerkte, folgte wuchtig dem Leichenwagen nach, von dessen Turmknauf ein schwarzer Roßschweif niederwehte. Der Stabsfeldwebel trug das Kissen mit den Orden. Ein volles Bataillon bildete die Abteilungen des Zuges, in dessen Vorhut die Regimentsmusik mit Kedvesch und dem Trommelwägelchen marschierte. In der Mitte der Kolonne schritt Ferdinand neben Tante Karolin: dicht hinter ihnen das gesamte Offizierskorps der Stadt. Barbara, die einen würdigeren Platz verdient hätte, ging unter dem zusammengewürfelten Volke, das aus Schaugier und Musikhunger dem Gepränge folgte. Als diese zufälligen Trauergäste sich nach und nach verloren, fand sie an ihrer Seite eine alte Bäuerin, die mit erschrockener und scheuer Miene zum Friedhof strebte. Da sie nichts sprach und außerhalb des Trauergefolges blieb, konnte niemand wissen, daß es die einzige Anverwandte des Toten war.
Am Grabe erfolgten mit ehrenvoller Ausführlichkeit die vorgesehenen Zeremonien. Der Brigadier und jener Oberstleutnant, den Doktor Lederer hinausgeworfen hatte, hielten Nachrufe, wobei sich der Oberstleutnant wiederum als unzügelbarer Redner erwies. Ferdinand schwankte an der Hand der fremden Frau hin und her. Von all den Stimmen, Farben, Klängen, von diesem wirren Gestöber, von den Gedanken, die er nicht denken konnte, von den Gefühlen, aus denen nichts wurde, war sein Kopf wie betrunken. Die Worte der Redner, die laut die Tugenden des Kameraden priesen, knallten ihm abgehackt ins Ohr. Es schien, als ob die sprachgewandten Offiziere dem Toten Grobheiten sagten, denn sie befleißigten sich auch angesichts des aufgeworfenen Hügels ihres barschen Berufstones. Ferdinand verstand nichts davon. Als jedoch die zur Generaldecharge kommandierte Kompagnie ihre Salve abfeuerte und in den lang nachrollenden Knall der feierliche Donner der Volkshymne erschütternd brach, da weinte der Sohn jäh auf. Er weinte, weil ihm das gewaltige Getöse das Herz zerschlug, weil es ihm zeigte, daß sein Papa nun tot, gleichzeitig aber in diesem erhabenen Donner zum Mittelpunkt des Weltalls geworden war.
Als Barbara an diesem Abend Ferdinand zu Bett brachte und er sich gerade anschickte, sein Nachtgebet aufzusagen, ließ er die gefalteten Hände wieder sinken, und es ereignete sich folgendes Gespräch:
»Und wo ist denn der Papa jetzt?«
»Im Fegefeuer, mein Schatz.«
»Warum?«
»Das ist einmal so. Von hier kommen wir alle zuerst in das Fegefeuer.«
»Was ist das Fegefeuer?«
»Es ist halt ein Feuer.«
»Ein Feuer, so wie im Ofen?«
»Wer weiß? Vielleicht ähnlich ...«
»Aber das tut ja furchtbar weh.«
»Es tut schon weh. Aber so furchtbar weh tut's nicht. Man wird es wohl aushalten können.«
»Wenn man sich nur ein bißchen verbrennt, tut's ja furchtbar weh.«
»Aber die Seelchen, mein Schatz, die Seelchen! Das ist doch ganz etwas anderes.«
»Und alle Seelchen kommen ins Fegefeuer?«
»Vielleicht nur die Heiligen nicht. Aber von den armen Seelchen werden die Sünden weggeputzt, ehe sie in den Himmel kommen dürfen.«
»Ist das Fegefeuer in einem Haus oder im Freien?«
»Wer kann das wissen? Aber es wird wohl im Freien sein, denn in einem Haus wäre nicht Platz genug.«
»Es muß doch sehr weh tun ...«
»Deshalb muß man beten, damit es nicht sehr weh tut. Wenn man für sie betet, spüren die armen Seelchen fast gar nichts.«
»Dann möchte ich beten ...«
»Ja, wir werden beten, mein Schatz.«
»Und Mama? Ist Mama auch im Fegefeuer?«
Barbara zögerte einen Augenblick. Auch sie hatte dem Knaben bisher noch nichts vom Tode seiner Mutter gesagt. Das Schweigen des Vaters war einem peinvollen Zwang entsprungen, über den er sich selber keine Rechenschaft hatte geben können; das Schweigen Barbaras entsprang dem Erbarmen mit diesem geliebten Kinde. Gegen die ungetreue Herrin, die sich nach ihrer Ansicht schwer versündigt hatte, empfand Barbara eine strenge Abneigung. Aber nicht die Sünde war es, weswegen sich ihr Herz der Ärmsten gegenüber verhärtete. Sie sah in der Besiegten noch immer die Feindin. Der geheime Kampf um das Kind, den das Schicksal zu ihren Gunsten entschieden hatte, klang noch immer in ihr nach. Kein Zweifel, daß Gott ihr den kleinen Ferdinand zugesprochen hatte und keiner andern Frau der Welt. Sie erblickte ein himmlisches Rechtsurteil darin. Der abgeschiedenen Seele wünschte sie alles Gute, obgleich sie nicht glauben konnte, daß die Sünderin einen so milden Aufenthaltsort gefunden habe, wie es das Fegefeuer ist. Um des Kindes willen aber sagte sie:
»Ja! Auch Mama ist im Fegefeuer.«
Ferdinand dachte lange nach, ehe er entschied:
»Für Mama muß man besonders viel beten, damit es ihr nicht weh tut.«
Barbara, die gar nicht überrascht war, daß Ferdinand alles wußte, stimmte dieser Ansicht eifrig zu. Dann drehte sie das Gaslicht ab, um der Unterredung ein Ende zu setzen. Ferdinand starrte scharf ins Dunkel.
»Papa und Mama leben jetzt im Fegefeuer zusammen, was?« Barbara hielt schon die Kleider und Schuhe des Knaben in der Hand, die sie allabendlich reinigte.
»Gewiß, Papa und Mama leben jetzt zusammen«, verkündigte sie.
»Gut!«
Ferdinand streckte die Glieder. Die schmerzhafte Spannung dieser Tage löste sich in trauliche Müdigkeit. Das tröstende Bewußtsein der elterlichen Wiedervereinigung trug ihn angenehm in den Schlaf hinüber.