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Der Regen troff gleichmäßig und willenlos vom Himmel, wie es sich für diesen Tag gehörte.
Die zwanzig Menschen, die den Beiwagen der Einundsiebziger-Elektrischen ausfüllten, deren Ziel der große Simmeringer Friedhof ist, gehörten alle der gleichen Gesellschaft an. Sie machten den Eindruck eines fremdartigen Stammes, der sich zwar nicht durch die Hautfarbe, aber durch Stimmentwicklung und Gebärdenspiel von der übrigen Bevölkerung der Stadt (den Insassen des Hauptwagens zum Beispiel) merklich abhob. Auch einige Damen bewiesen ihre Zugehörigkeit zu diesem Stamm, indem sie ebenfalls die erregte Sprache der männlichen Mitglieder brauchten, welche auf die eingeschüchterten Kleinbürger, die mit ihnen das Gefährt teilten, eine geheimnisvolle und aufreizende Wirkung machte.
Nur ein alter Herr unterschied sich sowohl durch seine soignierte Kleidung wie auch durch sein ruhiges verhaltenes Wesen vornehm von dem ausgerückten Stamm, den er, wenn man's so ausdrücken darf, mit einer abgekämpften und verachtungsvollen Sympathie betrachtete. Es war Fritz, der Oberkellner des Säulensaals.
Die Menschen, die im allgemeinen diese Linie der Straßenbahn benutzten, waren von Schicksals oder Berufs wegen schwarz gekleidet, traurig und verschnupft. Nicht so der Stamm des Säulensaals, obgleich auch er sich anschickte, einen alten Gefährten zu begraben. Er schien zu diesem Zwecke besonders aufgeräumt und geistig hochgestimmt zu sein. Die schwer durchdringliche Wesensart dieser Menschen wollte es, daß ihnen das Nahe nicht naheging, daß sie, die mehr als alle anderen im Augenblick zu leben vermeinten, stets im Nichts einer Zukunft und Vergangenheit lebten, die sie sich beliebig zurechtbogen.
Auffällig wenig wurde von Gottfried Krasny gesprochen, womit aber nicht gesagt werden soll, daß sie nicht alle den Verlust einer unvergeßlichen Erscheinung empfanden, die ihrem Leben fortan fehlen würde. Dennoch hätte es sich bei schärferer Selbstprüfung herausgestellt, daß unter dem Trauergeleit kaum jemand saß, der dem Toten in Wahrheit Sympathie zollte. Vielleicht bis auf den alten Fritz kein einziger. Das kann aus der heimlichen Kraft erklärt werden, die der Widerwärtig-Häßliche, der unerbittliche Schnorrer sein nannte, eine Kraft, welche auf das Selbstbewußtsein der Seelen wie Scheidewasser wirkte. In Krasnys Gegenwart war der Macher ein Macher, der Schaumschläger ein Schaumschläger und der Schuft ein Schuft. So unglaubwürdig es klingt, Krasny, der Kinderschreck, Krasny, die Vogelscheuche, Krasny, der Wegelagerer und Buschklepper des Cafés, der seine Mahlzeiten wie einen Räuberzoll einhob – (Ach, dieses ritterliche Handwerk hatte seinen Mann trotz alledem nicht ernährt) – Krasny war die unbestechliche Tugend, der Cato des Cafés gewesen. Nicht sein Bettlertum hatte ihm, wie viele irrtümlicherweise meinten, die hundert plumpen Erniedrigungen eingetragen, mit denen ihn so manche Leuchte des Säulensaals bedachte; nein, es war jene sonderbare Wesenskraft, die in gewissen Seelen unwiderstehlich ein Ekelgefühl ihrer eigenen Niedrigkeit hervorrief, wofür er gedemütigt werden mußte. Wer weiß, ob nicht einige von denen, die jetzt zum Friedhof fuhren, in ihrem verschwiegensten Wesen eine Erleichterung fühlten, daß diese strenge Kraft nun verstummt war.
Weiß lästerte ein wenig:
»In dem Krasny hat ein Rest von Kitsch gesteckt. Ich hab's immer gespürt ... Auch in seinen Gedichten. Ein verhungerter Dichter! Das ist doch, genaugesehn, alter Kitsch? Wie? Was?!«
Ferdinand ärgerte sich über Ronald und seine literarische Bewertung dieses Schicksals:
»Ich finde«, sagte er, »daß Krasny einen furchtbar ehrlichen Tod gestorben ist.«
Die Sparsamkeit, mit der hier des Gegenstandes gedacht wurde, dem die heutige Wallfahrt galt, mochte auch damit zusammenhängen, daß man in den Gesprächen der letzten Nacht den Fall schon erledigt hatte. Die meisten neigten der Ansicht Ronalds zu. In den Tagen, da eine neue Welt anhob, war ein Dichter verhungert. Ein pointierter Tatbestand, gut und schlecht genug, um die herztönenden Füllselspalten der Zeitungen zu beleben.
Im übrigen war während der letzten achtundvierzig Stunden so viel vorgefallen, daß auch diese lange Trauerfahrt nicht ausreichte, den ganzen Stoff aufzuarbeiten.
Die Geschichte mit Gebhart zuvörderst. Angelika ging es besser. Hedda (die Feindin) hatte sie im Spital aufgesucht. Die Genesende brannte darauf, ihrem Meister nachzufolgen. Gebhart war nämlich in Begleitung seines engeren beziehungsdeutenden Harems aus Wien verschwunden. Man erzählte abenteuerliche Dinge. Er habe, da er keinen Paß besitze, des Nachts auf Schmugglerwegen die bayrische Grenze bei Salzburg überschritten. Ferdinand, dessen Bewunderung für Gebharts große Wesenheit trotz all seines Narrentums nicht geschwunden war, behauptete, wenn jemand solchen Mut aufbringe, so nur er. Ein Skeptiker aber fragte:
»Wie verschafft man sich auf Sennhütten Kokain?«
Ferdinand wandte verletzt sein Gesicht von dem Frager ab. Ach, wie war ihm dieser witzige Ton schon widerwärtig. Da er von Krasnys Tod noch tief erfüllt war, wies er den Zweifler mit einer Bemerkung zurück, die den meisten nicht verständlich klang:
»Auch Gebhart wird wie ein Heiliger sterben. Darauf könnt ich schwören.«
Hedda – sie und zwei kleine Schauspielerinnen waren die Frauen des Geleites – zeigte sich heute in sieghafter Stimmung. Ihr war auch wirklich ein glänzender Streich gelungen. Vorgestern, als die Kommunisten-Angst der Wiener Finanzwelt auf den Siedepunkt stieg, hatte sie Papa dazu veranlaßt, jenes Kapital, das er dem ›Roten Gedanken‹ zu widmen beschloß, bei einem Notar sicherzustellen. Wer die zweite Novemberwoche in Wien miterlebt hat, wird dem Präsidenten Aschermann die schwache Stunde nicht übel anrechnen. Leute, die noch weit fester im Sattel saßen als er, Gouverneure der Banken, unbeschränkte Herrscher der Industrie, hielten schon alles zur Flucht bereit. Papas Idee, sich eine rote Hintertür offenzulassen, war damals so töricht nicht, wenn auch die Höhe der sichergestellten Summe sich nur durch die Nervosität des Augenblicks erklären läßt. Jedenfalls hatte Heddas klarer Geist einen großen Triumph errungen. Nun war die werdende Zeitschrift geborgen, und der Herausgeberin winkte nicht nur eine bedeutende Machtfülle, sondern, was noch weit kostbarer war, Unabhängigkeit.
»Wo ist Basil eigentlich?« forschte Stechler.
Man wußte wohl, daß der Schiffbrüchige des ›Aufruhrs in Gott‹ jede Begegnung mit Hedda vermeiden wollte. Dennoch fanden es einige unhübsch und kleinlich, wenn er aus solchen Gründen dem Toten die Ehre zu geben versäumte.
Im Anschluß an Heddas Meisterstück kam noch eine andere publizistische Veränderung zur Sprache. Koloman Spannweit hatte von einem Tag zum andern die Chefredaktion des scharfmacherischen ›Sieben-Uhr-Boten‹ niedergelegt und war zu einer bürgerlichen Zeitung übergegangen. Man konnte sich den jähen Verrat eines Radikaltemperaments nicht erklären. Seit zehn Tagen etwa war Spannweit auch nicht mehr im Säulensaal erschienen.
Ronald Weiß grinste allwissend:
»Also mir scheint, da gibt's noch Fachleute, die staunen ... Mir war das alles schon seit je bekannt und nicht nur mir. Spannweit ist ein erstklassiger Polizeispitzel. Natürlich heut nicht mehr so, wie ihr euch das vorstellt. Die Polizei ruft halt unterwürfig bei ihm an: Herr Chefredakteur hin und Herr Chefredakteur her! Er ist im Präsidium eine Macht. Als er aber vor zwanzig Jahren frisch aus Szeged nach Wien kam und vom Gebrauch des Akkusativs noch nichts Gewisses wußte, hat er sein Geschäft als Konfident begonnen. Sein Aufstieg vom kleinen Gerichtssaal-Schlieferl zum Chefredakteur ist ein Roman. Der Kerl hat ein Mordstalent. Während des Krieges lieferte er auf Befehl seiner hohen Kundschaft die Volksempörung gegen die kleinen Preistreiber. Und jetzt geht er ganz offen auf die zahlende Seite über. Ich kann euch sagen, das ist eines der bedenklichsten Vorzeichen in den letzten Tagen. Daß dieser Spürhund umsattelt, bedeutet etwas. Der Bourgeoisie erscheint er als reuiger Sünder, der in einem Moment zu ihr tritt, wo die meisten nach links umfallen. Also zehn Gerechte bezahlt sie nicht halb so gern wie einen reuigen Sünder. Er macht das Geschäft auf allen Seiten. Wahrscheinlich hat er über uns einen ausführlichen Bericht bei der Staatspolizei hinterlegt ...«
Blitzhaft erhellte sich in Ferdinand der Sinn des vorgestrigen Gesprächs. Er fühlte einige leichte Stiche im Zwerchfell:
»Ja, warum habt ihr ihn geduldet, wenn euch alles bekannt war?«
Weiß sah Ferdinand verwundert an:
»Ich glaub, du verstehst den Säulensaal noch immer nicht und wirst ihn nie verstehn ... Wir dulden alles. Wir leben sub specie aeternitatis wie die Schweine.«
Welch ein Rätsel war Weiß. Ferdinand erinnerte sich nicht, ihn jemals so strahlend gesehen zu haben wie an diesem Begräbnistag. Und gestern hatte er doch als Befehlshaber der Roten Wehr eine schwere Blamage erlebt. Sämtliche Morgenblätter waren mit Schimpf und Spott über ihn hergefallen. Er aber trug die Ausschnitte bei sich und verlas laut die Zeilen, in denen er ein verantwortungsloser Hanswurst, ein opportunistischer Haderlump und ein eitler Schmock genannt wurde. Er behauptete nun, daß diese Anwürfe ihn als Revolutionär ehrten und als alten Journalisten erfreuten. Für weit wichtiger als dasjenige, was über jemanden in der Zeitung stehe, halte er es, daß ein Name immerwährend genannt werde. Der Ruhm sei eine durchaus amoralische Sache. Eine Lautverbindung, die dem Publikum unablässig eingehämmert wird, weiter nichts. Vor Gott mögen alle Menschen gleich sein, vor dem Zeitungsleser sind sie es sicher. Ein Heiliger, ein Tenor und ein Raubmörder stellen den gleichen publizistischen Wert dar, sofern nur ihr Name gleich oft in die Welt posaunt wird.
(Derselbe Weiß, der jetzt solche Meinungen vertrat und über die Kotwürfe der gesamten Presse sich lachend hinwegsetzte, hatte einst im Felde tagelang darunter gelitten, daß eine Zeitungskritik eines seiner literarischen Erzeugnisse, welches er hochhielt, in sanfter Art ablehnte.)
Am widerspruchsvollsten aber erschien es Ferdinand, als Ronald, der überzeugte Revolutionär, plötzlich mit unverhohlener Zufriedenheit darüber sprach, daß sein Angriff auf das Parlament der Regierung eine gewaltige Angst eingejagt habe und nunmehr Sozialdemokraten und Polizei ein Herz und eine Seele seien:
»Was das für eine Wirkung gehabt hat, Herrschaften, kann man sich gar nicht vorstellen! Über Nacht ist alles anders geworden. Die Leute derfangen sich. Spürt ihr das nicht? Der Elkan versteckt sich irgendwo in der Leopoldstadt. Den bin ich vorläufig los. Er ist übrigens eine echte Robespierrenatur. Oft imponiert er mir. Aber mir ist so ein Danton wie ich lieber. Raten Sie, Frau Hedda, wie Danton eigentlich geheißen hat!«
»Anton.«
»Großartig! Chevalier d'Anton. Aber das war schon eine spätere Metamorphose. Er ist schlecht und recht ein geborener Aaron. Zu beweisen aus dem Semi-Gotha. Dort steht immer nur die lautere Wahrheit. Ein fescher Bursch dieser Danton! Gegen ihn ist der Kleiderstein-Robespierre ein Hund. In den nächsten Tagen werden beide, Danton und Robespierre, aufpassen müssen. Mein Ehrenwort, die Sache steht so!«
Er lachte kindlich. Hedda nahm sein Lachen auf:
»Den Weiß freut die ganze Revolution nicht, wenn keine Obrigkeit da ist.«
Darauf entgegnete er ohne allen Zynismus:
»Sie sagen da etwas sehr Gescheites, Frau Hedda. Zur Revolution gehört unbedingt die andere Partei, gegen die sie sich richtet. Und die muß stark sein, sonst ist das ganze ein Pofel. Eine siegreiche Revolution ist eigentlich ein Blödsinn. Ein Radikaler, der oben sitzt, kann sich gleich erschießen ...«
Das war durchaus kein Paradox, sondern Ronalds aufrichtige Anschauung von den Dingen. Der Storchenschritt wissenschaftlich ökonomischer Feierlichkeiten lag ihm ebensowenig wie ein pupillenstarrer Zukunftsglaube. Der alte Kellner aber nahm nun das Wort, um diese Frage weisheitsvoll und endgültig zu erledigen:
»Wie die Buben in der Schul. Zu einer richtigen Hetz g'hört auch der Herr Lehrer. Wen tät man sonst sekkieren?«
Der Wagen rumpelte schon durch jene Bezirke, wo Großstadt und Totenstadt sich zu vermischen beginnen. Nur zwei Arten von Kaufläden umsäumten die immer lückenreichere Straße. Dies waren die Lagerstätten der Steinmetzen und die Stände der Blumengreisler. Ein Schaufenster mit Lebensmitteln fiel hier auf wie etwas Fremdes, ja Ungehöriges. Die Blumenfrauen liebten es, ihre haltbaren Kränze und Gewinde mit viel Grünzeug auszustopfen und mit festgeflochtenem Draht einzuschnüren. Die unglücklichen Blüten erstickten in solchem Panzer. Hierin, wie in vielen anderen Dingen dieser Zeit, zeigte es sich, daß der ästhetische Geschmack der Menschen von der Armut gemodelt war, von dem ewigen Zwang, aus wenig viel zu machen.
Die Steinmetzen stellten ihre hochgeschichtete Denkmalsware nicht anders aus als die Möbeltischler der kleinen Leute ihre schreckhaften Kasten, Betten und Kommoden. Auch der Tod war nur eine Wohnungsfrage. Man mußte beizeiten dafür sorgen, daß man in den riesigen Zinshäusern der Verwesung nicht allzu schlecht unterkam und daß zu guter Letzt ein Stein, ein Kreuz, ein Engel, eine gebrochene Säule, ein Eisengitter, eine Zierlampe noch den Beweis erbrachte, die Familie sei nicht hergelaufen und unterscheide sich von der grabsteinlosen Plebs. Mehr noch als die Bezirke des Lebens wiesen die Begräbnisstätten der Großstadt das Kulturgrauen der Massenhaftigkeit, den Gestaltgreuel des proletarischen Zustands auf. Mit trüben Mienen sahen jetzt die Verkünder des Proletariats und der Gemeinschaft aus dem Fenster des Straßenbahnwagens auf die beklemmende Stadtschaft hinaus. Und vielleicht empfand ein oder der andere den unflickbaren Riß, der mitten durch das Leben und den Geist geht. Denn der tiefste, der leidenschaftlichste Trieb nicht nur des Menschen, sondern der Materie überhaupt ist der Wille, sich abzusondern, aus einem Kollektivum ein Individuum zu werden. Der Geist erträumt immer wieder ein Leben der Selbstaufhebung, mag er es nun in religiöser Aufrichtigkeit das »Reich Gottes« nennen oder mit wissenschaftlichen Gewissensbissen die »klassenlose Gesellschaft«. Die Lebenskraft des Atoms will aber gar nicht in einem Größeren aufgehn, sie will nicht einmal mit der Gemeinschaft auskommen, sie will ihr entkommen. Ja, der ganze Daseinszweck des Atoms scheint nichts anderes zu sein als ein verzweifeltes Streben nach Ichwerdung. Dieses Streben aber ist zugleich eine zügellose Sehnsucht nach Schönheit oder, was in einem geringeren Begriff das gleiche sagt, nach Luxus. Schönheit jedoch kann nicht als eine feststehende Größe gelten, da sie nur eine Form der Spannung zwischen Reichtum und Armut bedeutet, zwischen dem freiesten und dem unfreiesten Ich. Bei den höhlenbewohnenden Urmenschen war der Besitzer eines feiner geschnitzten und gezierten Messergriffs ein überheblicher Prasser und Ästhet. Und wenn in hundert Jahren jedermann sein Badezimmer mit fließendem Wasser besitzen sollte (was unbedingt anzustreben ist), wird die soziale Frage dennoch nicht gelöst sein, solange ein gierigeres Ich-Atom sich einen überlegenen Luxus geschaffen hat. Die Leute werden in ihren Badezimmern ebenso unglücklich sein, sich ebenso mühselig und beladen vorkommen wie heute in ihren Massenquartieren. Das soziale Lebensgefühl, die produktive Erbitterung hängt ja gar nicht von den Umständen ab, in denen der Arme vegetiert, sondern von dem Vorsprung, den der Reiche gewonnen hat. Der leidenschaftliche Lebensanspruch der Masse wird weniger durch die Not bestimmt, in der die Millionen schmachten, als durch den Überfluß, über den die Wenigen verfügen. Die siegreichen Kommunen schaffen zwar kein Glück, aber dafür einen Jammer, der in Ermangelung des Neides mit sich selber zufrieden ist. Dieser Zustand bleibt natürlich nur so lange aufrecht, als der Terror die Hetzjagd der Atome zu lähmen vermag. Dann aber beginnt wieder ein Aufsturm der Ichwerdung oder, was etwas Ähnliches ist, des Kapitalismus. Da kann man nichts machen; die Atome sind nun einmal Wettläufer, sagte sich Ferdinand, dessen Geist solche wolkige Gedanken durchzogen. Ihm war, als habe die ganze Zeit über Krasny mit ihm gesprochen, dessen starre und starke Gesinnung weder der Hunger noch die Katastrophe je hatten beugen können.
Da man dem Ziele immer näher kam, wurde nun die Frage aufgeworfen, wer den Abschiedsgruß am Grabe des Toten sprechen solle. Die Unterhaltung darüber war nichts als eine überflüssige Formsache, denn wem sonst als Ronald Weiß kam es zu, diesen Akt zu vollziehen, ihm, der in den letzten Wochen seinen Ruhm als Redner begründet und hundertmal bewährt hatte. Bescheiden willigte er ein, weil, wie er sagte, kein geübterer Sprecher anwesend sei. Ein vertrackter Gedanke freilich war's, was wohl Gottfried Krasny dazu sagen würde, wenn ihm »ein Herr Weiß« den Lebensabschied in die Erde nachrief.
Vor dem Eingang des riesigen Friedensortes kaufte Hedda noch einen Arm voll Blumen, und dann betrat die Gesellschaft eilig die Zeremonienhalle mit der bei solchen Anlässen üblichen Angst, zu spät zu kommen. Aber es stellte sich sehr bald heraus, daß in diesen Tagen auch der Fahrplan des Todes nicht eingehalten wurde. Das ist kein bloßer Scherz, sondern eine gleichnishafte Empfindung, die sich jedem aufdrängte, der den Raum der Aufbahrungen betrat. Es war eine schwarzausgeschlagene, mit religiösen Emblemen nicht allzu reich gezierte Bahnhofshalle. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß in einzelnen Nischen sieben oder acht dichte Menschenhäuflein mit finsteren oder tränenverwaschenen Mienen standen und warteten. Ähnlich warten vom Abschied heftig angerührte Verwandte und Freunde auf den Abgang eines Zuges, der einen geliebten Menschen sehr weit entführt.
Ein Blick auf die abgetragene Trauerkleidung der Begleiter, auf die spärlichen Kerzen und das armselige Blumengepäck bewies, daß die Passagiere hier alle durchwegs nur dritter Klasse reisten. Aber die dritte Klasse war ja schon die erste Stufe des bürgerlichen Behagens, wenn man in Betracht zog, daß den meisten Fahrgästen des Totenackers noch ein schlechteres und massenmäßigeres Transportmittel zuteil wurde. Hier blieb doch wenigstens der Schein gewahrt. Die Funktionäre trugen feierliche Escarpins, Dreispitz und silberne Knöpfe am Rock. Sie vollzogen ihren Dienst, ohne hart aufzutreten oder laut zu sprechen.
Dem weltlichen war ein geistlicher Verkehrsleiter beigesellt. Während der eine von der Mitte der Halle aus mit großen Handsignalen Ankunft und Abgang der Trauerzüge regelte, entwickelte der andre eine nicht minder staunenswerte Geschicklichkeit. Er verstand es, das Taylorsystem auch auf gottgeweihte Handlungen anzuwenden. Ein kunstvoll auf einen einzigen Atemzug gefädelter Kranz lateinischer Worte, drei leichte Taktschläge mit dem Weihwedel, wieder ein Atemzug voll heiligen Gesangs, ein schön über den Sarg gezeichnetes Kreuz, zuletzt die scheu-sanftmütige Priesterverbeugung ... und schon kam der nächste dran.
Krasnys Kondukt war der späteste in der Reihe. Müde und fröstelnd stellte jeder bei sich fest, daß man trotz der anerkennenswerten Behendigkeit des Geistlichen lange werde warten müssen. Auch der Stamm des Säulensaals umgab in einem engen Ring die Bahre des Gefährten und unterschied sich, wie er so traurig und schweigsam auf den schwarzumquasteten Sarg niederblickte, durch gar nichts mehr von den anderen Stämmen und Sippen an diesem Ort.
In den großen szenischen Augenblicken des Lebens benehmen sich alle Menschen, ohne es erst gelernt zu haben, wie die Statisten einer abgespielten Theatervorstellung, die ihre schlappen Gesten, Gänge und Zusammenrottungen schon bewußtlos ausführen. Das Leben gleicht darin den Spielleitern alter Schule, die sich nicht durch ehrgeizige Auffassungen auszeichnen wollten, sondern treulich dem bewährten Grundsatz anhingen: So haben wir das immer gemacht.
Auch Krasnys Trauergeleit trug der jahrtausendealten Einstudierung Rechnung, und als der Priester den Sarg endlich mit Weihwasser besprengt und eingesegnet hatte, flennten die beiden jungen Schauspielerinnen los, während selbst die Abgebrühten zitronige Gesichter zogen, wie es sich gehörte. Dann patschte man über aufgeweichte Parkwege mitten in den Regen hinein, der sich mittlerweile zu einem nieselnd grauen Nebel umgestaltet hatte. Manchmal machten die Träger halt und spuckten tiefsinnig in die Hände, ehe sie die leichte Last des Toten wieder aufnahmen. Niemand sollte glauben, daß ihr Beruf ein Vergnügen sei. Vor dem braunen Grabauswurf zog sich die einzelweis hatschende Schar der Trauergäste wieder zusammen.
Alles wäre nach der üblichen Art glatt vor sich gegangen, wenn nicht ein kleiner Zwischenfall eine erwünschte Abänderung gebracht hätte. Basil nämlich trat plötzlich aus einer effektvollen Verborgenheit vor und schritt mit seinen langen Beinen, den durchsichtigen Denkerkopf hoch erhoben, langsam auf die totenfeiernde Gruppe zu, ohne zu grüßen. Fast erweckte es den Anschein, als steige seine hohe Gestalt von weither gravitätisch über hundert Grabhügel. Klug ersonnen war dieser unerwartete Auftritt jedenfalls. Denn während die andern, durch die lange Fahrt ermüdet, seit einer Stunde schon sich die Beine in den Leib stehn mußten, hatte Basil, ruhig auf und ab wandelnd, seine Kräfte weise geschont. Die Müden sahen nun in dem weißhäuptig schönen Mann, der sie an Würde und Haltung alle weit überragte, ein Wesen höheren Wertes als sie selbst. Die Folge war ein jäher Respekt, der neuerdings von ihnen Besitz ergriff. Wer weiß, ob Basil nicht mehr war als ein gekränkter Phantast und am Ende doch geheime Beziehungen zum Vatikan unterhielt? Der Purpur eines Kardinals hätte ihn wahrlich nicht übel gekleidet. Stechler gab angesichts des Herannahenden erregt flüsternd die Meinung kund, nicht Weiß, sondern Basil sei der einzig würdige Grabredner. Alle waren einverstanden, auch Hedda. Weiß erklärte mit entthrontem Tonfall:
»Bitte sehr! Ich bin nicht ehrgeizig; für meine Bedürfnisse hab ich in den letzen Wochen genug geredet.«
Man setzte Basil durch aneifernde Zeichen vom Willen der Gesamtheit in Kenntnis. Er kehrte sich gar nicht daran, sondern bestieg versonnen und aus eigener Machtvollkommenheit den Hügel. Sein in der Seele verschollener Blick ließ mit unendlicher Gleichgültigkeit die Gesellschaft der Trauergäste links liegen und senkte sich auf das Seil- und Stangengewirre der Vorrichtung, die den Sarg in die Erde befördert.
»Gotthold Krasny«, erklang es mit innigem Laut.
Unruhe entstand und scharfes Geflüster, das den Redner eines Besseren belehren wollte:
»Gottfried! ... Gottfried!«
Basil hob den Blick aus seiner Verinnerlichung, sah die Leute wie bewußtlos an, senkte wiederum die Augen auf das verregnete ungeduldige Grab und begann von neuem:
»Gotthold Krasny!«
Nur mehr zwei Flüsterstimmen versuchten noch einmal ihr Glück, erhört zu werden: »Gottfried!« Es nützte nichts. Die andern ließen die Mahnung bleiben. Hedda aber konnte sich nicht beherrschen und raunte Weiß zu:
»Echt Basilius! Er hat sich schon so ans Lügen gewöhnt, daß er nicht einmal mehr einen wahren Vornamen aussprechen kann. Es ist wirklich großartig ...«
Alle waren durch Basils Fehler verletzt. Wäre Krasny kein Unbekannter und Verkommener gewesen, der sein Begräbnis als Almosen hinnehmen mußte, der Lapsus hätte ein schweres Ärgernis gegeben. Ferdinand war ganz unglücklich. Ihm schien die Totenfeier entwürdigt und lächerlich gemacht. Der Namensirrtum war jedoch nicht nur »echt Basilius«, sondern mindestens ebenso echt »Krasny«. Nur seinem Schicksal entsprach es genau, daß ihm drei Minuten, bevor er für immer in der Erde verschwand, selbst noch das Eigentum des Namens beschnitten wurde.
Die Peinlichkeit des Vorfalls ließ den Anfang der Grabrede verlorengehn. Basil hatte nichts gemerkt. Seine hochgetürmte Stirn durchdrang lauter und geistig das schmutzige Spätlicht. Unter ihr saß wie ein Traueremblem die schwarze Hornbrille auf dem feinen Gesimse des Profils. Die Backenknochen sprangen weit vor, die Wangenhöhlen waren tiefer denn je, und der Mund hatte den spöttischen Schnitt verloren. Ein andrer Basil stand da. Er mußte in den letzten Wochen Schweres durchlitten haben. Man sah es ihm an. Auch die Elastizität dieses Überlegenen hatte eine Grenze. Was er vor Jahren noch spielend überwunden hätte, die schnöde Lebensenttäuschung und den Zusammenbruch einer Zeitschriftengründung, diesmal konnte er's nicht mehr so schnell überwinden. Auch er war von Hunger und Entbehrung geschwächt. Seine Stimme zitterte von Bewegtheit. Ferdinand hörte erst nach und nach die Worte des Abschieds:
»– – – Du warst ein Dichter, ein echter Dichter, wie ihn diese Zeit des technischen Fortschritts, diese Zeit der Konjunkturschmierer gar nicht verstehn kann. Bald wird es in allen siegreichen und besiegten Ländern nur mehr gutgehende Romanerzeugungen und dramatische Wirkwarenfabriken geben, was ein grauenhaftes Zeichen der allgemeinen Weltniederlage bedeutet. Du aber, Krasny, hast jegliche Betriebsamkeit als das Unreine an sich wildwütend gehaßt. Und du konntest hassen, du armer, du herrlicher Atavismus, der du jetzt zu deinen großen Vätern, zu den heiligen Dichtern der Vorzeit versammelt bist. Du armer, echter Dichter! Deine Verse werden nicht leben, dein Name, den so wenige nur kannten, er wird nun für immer verschollen sein. Was tut es? Dir kam es auf Ruhm und Erfolg nicht an. Du wahrhaft Freier, nie hast du einen Vers geschmiedet, um einen Kompromiß auch nur mit dem Ehrgeiz zu schließen. Wo gibt es und gab es je einen Dichter, der seine schönsten Strophen gar nicht aufschrieb und sie nicht auf dem Papier, geschweige denn in einem eitlen Buch, sondern nur in seinem Gedächtnis bewahrte? Daß man von der Kunst nicht leben sollte, wissen viele Künstler. Ich glaube aber, daß keiner dieses hohe Prinzip restloser wahr gemacht hat als du. Ein Wortmeister gleich dir hätte bei einiger Mühe einen Verleger oder einen Mäzen leicht gewinnen können. Du aber zogst es vor, deinen Lebensunterhalt, der zum langsamen Hungertode führte, dadurch zu erwerben, daß du dich um ein Glas Wein und um ein Wurstbrot von den grausamen Aastieren deiner Umgebung bespeien ließest ...«
Bei diesem Satz erhob Basil ein wenig seine Stimme, die bisher den Ton gleichmütiger Ruhe nicht überschritten hatte. Die Mitglieder des Säulensaalstammes sahen ungerührt vor sich hin. Hinter dieser Maske aber verlebten auch die Unschuldigsten zehn ausnehmend peinliche Sekunden. Länger dauerte die Unterbrechung der Rede nicht:
»Und jetzt bin ich dort angelangt«, hob Basil von neuem an, »wo du ganz groß, ja einzigartig warst, armer Krasny. In dieser Zeit reden die Phrasendrescher überall von den Märtyrern der Arbeit. Ich weiß wohl, daß diese Märtyrer leben und leiden. Ihnen zu helfen, muß eine unserer höchsten Sorgen sein. Aber wenn es Millionen Märtyrer der Arbeit gibt, so hat es nur einen Märtyrer des Müßiggangs gegeben, und der warst du. Dein Müßiggang stammte aus keiner Arbeitsscheu, sondern aus tiefem Arbeitshaß. Dies ist sein Wert, denn du hast dir nichts leicht gemacht. Dein Arbeitshaß, er war ja nichts andres als der Stolz des seltenen Dichters, der noch ehrfürchtig unterscheiden kann zwischen dem, was fleißlos charismatisch entsteht, und dem, was mit Talentschweiß, Hirndampf, Erfolgssucht, Selbstbestätigungsmühe, jawohl gemacht wird! In der Seele des echten Dichters glimmt noch ein winziger Funken des Paradieses, ein Abglanz des uranfänglichen Gnadenlächelns, der Traum des Menschen vor dem Sündenfall und vor der Austreibung, ehe es da hieß, im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Um dieses Funkens, um dieses Gnadenlächelns, um dieses Urtraums willen ehren wir den Dichter ...«
Jetzt erst löste Basil seinen Blick von der Seil- und Stangenvorrichtung und schaute auf ins nebelwogende Oben:
»Glücklicher Krasny! Nun bist du in einer Welt, wo der Klassenkampf von Anbeginn entschieden ist, in einer Welt, wo der Sozialismus der Heiligen herrscht, den wir unter der mütterlichen Führung der allchristlichen Kirche hier auf Erden anstreben müssen und dereinst, wenn die Zeit reif ist, auch verwirklichen werden. Wir alle, die wir hier an deinem frischen Grabe stehn, haben uns dir gegenüber mancherlei vorzuwerfen: Spott, Grausamkeit, Hochmut und Quälsucht. Es ist aber in diesem Augenblick nicht einer unter uns, dessen Herz kalt bleiben und nicht leiden würde unter dem, was er dir in gottlos verschwendeten Stunden angetan hat. Verherrlichte Seele, wende dich nicht ab! Die du in unserer Mitte mit vollem Recht unversöhnlich warst, verzeih du uns nun im Reiche Gottes, denn wir alle hier sind sehr elend ... Und somit, lebwohl, Gotthold Krasny!«
»Schade, er hat schön gesprochen ...«
Das war die Meinung aller, denn der Namenstausch im letzten Abschiedsruf hatte wiederum wie ein Klecks gewirkt.
Einige ergriffen Basils Hand, der vom Erdaufwurf herabtrat.
»Gottfried, Gottfried«, zischten vorwurfsvolle Stimmen. Basil nahm die Brille von seinem durchsichtigen Gesicht und putzte sie. Man sah, daß er geweint hatte.
»Gotthold, Gottfried, das ist doch äußerst Wurscht«, brummte der Mann wohlklingender Pseudonyme, »Gotthold gefällt mir viel besser.«
Und des weiteren Begängnisses nicht achtend, schritt er ebenso langsam und weitbeinig von dannen, wie er gekommen war.
Alle starrten dem Entschwindenden nach, ohne zu grüßen. Nur der alte Fritz zog den steifen Hut und komplimentierte Basils Rücken, wie er's von seinem Dienst her gewohnt war:
»Hab die Ehre, Herr Professor!«
Nun benutzte man, der Sitte gemäß, die kleinen Schaufeln, um Erdschollen auf den Sarg poltern zu lassen. Als letzter warf Fritz drei feuchte Klümpchen ins Grab, wobei seine Züge angelegentlich lächelten, als amüsiere ihn, während seine Hand die traurige Tätigkeit vollführte, ein kostbarer Gedanke.
Diese unbegründete und auffällige Heiterkeit erregte Verwunderung, die sich, da man nun Krasnys Totenort für alle Zeit und Ewigkeit verließ, zu einem zergliedernden Gespräche steigerte, wie es unter aufgeklärten Menschen zu damaliger Zeit Brauch war. Fritz wußte weder, daß er gelacht, noch, daß er komisch dreingeschaut habe. Er suchte sein strafwürdiges Verhalten zu entschuldigen:
»Meine Herren! In meine Jahr hat man vor dem Dreckslöcherl kan Schrocken mehr ...«
»Wie alt sind S' denn eigentlich, Herr Leimgruber?« fragte Weiß und bewies damit, daß er, im Gegensatz zu anderen, den Familiennamen des Obers kannte. Für ihn war er nicht ein Figurant des völlig unpersönlichen Kellnerberufs, kein Fritz also, der außerhalb seines Lokals nicht lebte, sondern ein alter Herr namens Leimgruber, der in einer bürgerlichen Wohnung wohnte, eine Familie besaß, am häuslichen Tische speiste (wobei er, der Kellner, bedient wurde), nachts sich ins Bett legte und morgens aufstand. Beim Namen Leimgruber horchten alle erstaunt auf, als treffe sie mit diesen drei Silben ein Hauch wärmender Intimität. Fritz aber stand Rede und Antwort.
»So uma dreiundsiebzig wird's scho sein.«
Auch Hedda war in das Wesen des Kellners tiefer eingedrungen, als man gemeiniglich annahm:
»Ich wundere mich über nichts. Fritz ist eine neurasthenische Künstlerseele, vielleicht die einzige im Säulensaal.«
Stechler hatte eine Erklärung für das sonderbare Lächeln am frischen Grabe:
»Das ist doch klar. Fritz war an den Krasny kolossal fixiert.«
»Aber gehts mir mit euren Fixationen«, zwinkerte Weiß. »Habt ihr noch nicht bemerkt, daß Fritz sich immer amüsiert, wenn ihm jemand die Zeche schuldig bleibt? Mein Ehrenwort, das ist so! Nicht wahr, Herr Leimgruber? Er ist der einzige Oberkellner auf der Welt, der mitleidig lächelt, wenn ihm einer sagt: Fritz, ich hab heut zufällig kein Geld bei mir. Schreiben Sie's auf! ... Und vorhin hat er nur deshalb so komisch gelacht, weil ihm ein Gast mit der ganzen Schuld ins Jenseits durchgegangen ist. Wie hoch steht das Konto Krasny, Herr Leimgruber?«
»Hundertfünfundzwanzig Kronen rund, Herr von Weiß, ich hab's gestern nämlich abgeschlossen«, erwiderte prompt der alte Kellner.
Während dieses Gespräches waren sie vom Hauptweg abgekommen und irrten nun zwischen gleichmäßigen, nur mit kleinen Tafeln bezeichneten Gräberreihen, die sich ins Unendliche erstreckten. Die schiefergraue Dämmerung des Novembertages war der sepiagrauen Dämmerung des Novemberabends gewichen. Trotz des verlorenen Weges aber, trotz der gliederdurchkriechenden Nässe, trotz der traurigen Stunde, trotz des ungemütlichen Ortes, war die Gesellschaft immer übermütiger geworden.
»Was heißt das«, ereiferte sich Weiß, »ein ganzer Tag ist vorbei, und ich hab keine Rede gehalten? Das geht doch nicht.«
Man kann diesem Scherze entnehmen, wie wenig er es überwunden hatte, daß Basil und nicht er zu Worte gekommen war.
»Halt eine Rede an alle Toten hier, Weiß«, forderte jetzt ein Romantiker.
Weiß besann sich keinen Augenblick, sondern suchte einen erhöhten Standort. Auf dem Wege türmte sich ein großer Haufen welken Laubes, den die Gärtner hier zusammengerecht hatten. Ronald bestieg diese multschige Bühne und breitete allumfassend seine Arme aus. Ein paar junge nackte Bäume hielten ihre Äste, auf denen ein weißlicher Herbstgrind lag, den Menschen bettelnd entgegen, wie Tiere ihre verwundeten Pfoten uns schmerzlich hinhalten. Die holztafelbesteckten Grabhügel armer Leute schienen zusammenzurücken. Die Rednerstimme aber durchbohrte die nun schon völlig erloschene Weite:
»Genossen! Wie lange noch?! Ich frage, wie lange noch wollt ihr die Unterdrückung ertragen, die ihr von den Lebendigen, dieser vollgefressenen Ausbeuterklasse, erdulden müßt? Seid ihr nicht die wahren Träger der menschlichen Gesellschaft, ruht nicht alles auf euch? Was würde geschehn, wenn ihr jenen, die da auf Kosten eures Todfeinds prasserisch leben, zuriefet: Bis hierher und nicht weiter!? Nehmet endlich eure Macht und eure Rechte wahr! Denket daran, daß ihr mit euren Brüdern draußen in den Massengräbern der Schlachtfelder unüberwindlich seid. Zerbrechet die Fesseln und jagt die kapitalistischen Verräter unter euch, die in geräumigen Mausoleen schlafen, zum Teufel. Mit eisernem Proletentrotz erzwinget endlich die gerechten Forderungen eurer im Elend schmachtenden Klasse. Stimmt ein in meinen Ruf: Bessere Wohnungen auch für die Toten! Todesproletarier aller Länder vereinigt euch ...«
Es sah fast so aus, als würden die Toten auf ihre ruhige, gelassene Art Antwort geben. Der glitschige Laubhaufen geriet ins Rutschen, und Weiß, der den Halt verlor, schlug lang in die dreckige Weike. Zugleich schwankte aus der Ferne ein immer wieder erdrosseltes Licht heran. Niemand sagte etwas. Die Schwärze, die dick und dicker vom Himmel fiel, war von weißlichen Schuppen wie von Mehltau durchschneit. Eine Laterne, die gelblich ein Amtskappengesicht beschien, brach mißtrauisch aus der Nachtwand. Weiß hatte sich längst aufgerappelt. Nach Art der Gassenbuben machte er sich nichts wissend und klagte:
»Wir haben uns verirrt, Herr Inspektor.«
Wesentlich stiller trat man unter Führung der Laterne den Rückweg an. Hedda ging neben Ferdinand:
»Sie haben die ganzen Begräbniskosten bezahlt«, forschte sie.
»Ja! Ich bin als einziger ins Spital gekommen. Es war schon der letzte Moment. Man hätte ihn sonst in einem Massengrab verscharrt oder als anatomisches Material verwendet ...«
»Das geht natürlich nicht. Ich werde Ihnen die Sache abnehmen. Was haben Sie ausgelegt?«
Ferdinand, der nicht wußte, wovon er die nächsten Tage leben werde, brauchte dieses Geld wie seinen Atem. Dennoch konnte er sich nicht überwinden, die Summe zu nennen. Der Augenblick paßte nicht:
»Es ist sehr lieb von Ihnen, Frau Hedda«, sagte er, »daß Sie daran gedacht haben. Wir können ja ein andres Mal darüber sprechen ...«
»Nein, es wär schon besser, die Geschichte gleich zu erledigen. Ich hab jetzt viel im Kopf. Ich könnte vergessen ...«
»Wenn's nötig ist, werde ich Sie schon erinnern«, log Ferdinand und ärgerte sich über seine feige Scheu. Hedda nahm sich stets vor, dieses Geld nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren. Ihr Glück machte sie weich. Und dann tat ihr Basil, den sie gestürzt hatte, heute so leid. Aus all diesen Gründen empfand sie das warme Bedürfnis, anderen hilfreich beizustehn. Auch dem Ober Fritz bot sie Krasnys Schuldsumme an. Der jedoch lehnte erschrocken ab:
»Aber gnä Frau, der Selige tät sich schön giften, wenn er um sein Geld käm.«
In diesem tiefen und vertrackten Satz bewies der alte Fritz eine unheimliche Vertrautheit mit der Denkart des Säulensaales.
Wirklich, die hundertfünfundzwanzig Kronen seiner Schuld an den Alten bildeten, da er sie niemals hätte zurückzahlen können, einen sonderbaren, aber festen Besitz Krasnys. Brachte nun jemand diese Summe in Fluß und erstattete sie dem Gläubiger zurück, so beraubte er den Dichter eines Außenstandes, der sein Guthaben war, weil er nie eingefordert ward. Nach dieser finanztechnischen Auffassung wäre die rückerstattete Schuld, die der Gläubiger nicht verlangte, ein Anspruch des leider verstorbenen Schuldners gewesen.
Mögen einfache Geister diese schwierige, aber zwingende Logik auch nicht verstehn, der uralte Ober des Säulensaales verstand sie, bekannte sich zu ihr und zog seine Hände vom Gute des Toten zurück.
Zehn Minuten später saß der Stamm des Säulensaals wieder in der Elektrischen. Alle waren sie todmüde, durchnäßt und erfroren. Nie noch hatte man sich so sehr ins Café gesehnt wie heute. Dort gab es immerhin auch bei der jetzigen Kohlennot einen erträglichen Raum, in dem die kalten Füße wieder zu sich kommen konnten, dort gab es erwärmende Getränke, wenn sie auch nur aus Kaffeekonserven, aus schlechtem Fusel und andern abscheulichen Ersatzmitteln hergestellt waren.
Alle stellten einhellig fest, wie unbeschreiblich widersinnig es sei, daß bei dieser fröstelnden Flucht in den Säulensaal gerade Krasny als einziger zurückbleiben müsse.
Die andern waren schon in der Tür des Cafés verschwunden.
Ferdinand stand mit Weiß noch auf dem Gehsteig draußen und betrachtete aufmerksam das finstere Renaissancegebäude, die mächtigen Glasfenster, die erleuchtete Uhr (sie zeigte sechseinhalb), die ganze Örtlichkeit, wo er vor Monaten dem Kameraden begegnet war, um in solch ein fremdartiges und bewegtes Leben gezogen zu werden.
Weiß betrat schon die Stufen:
»Gehn wir hinein!«
Ferdinand rührte sich nicht. In fast bittendem Ton:
»Ich geh nicht mit, Weiß.«
»Kommst du später?«
»Vielleicht ... übrigens ... nein ... ich glaub, heut komm ich nicht ...«
»Dann sei gegen elf Uhr in der Kaserne ... Wir haben eine sehr wichtige Sitzung.«
Ferdinand schwieg. Ronald aber trat von der Stufe wieder auf die Straße hinab:
»Ich werd jetzt immer in der Kaserne übernachten. Das gleiche würd ich auch dir raten. Seit gestern ist die Polizei frech geworden. Es bläst ein total neuer Wind in Wien. Sie hat von den Regierungs-Genossen die Erlaubnis bekommen, uns aufs Dach zu steigen. Allerdings so frech ist sie noch nicht, mich in der Kaserne zu besuchen. Wir werden allerlei Vorkehrungen treffen müssen, um den Herrschaften ihren Mut abzukaufen. Jedenfalls ist es besser, nicht nach Haus zu laufen ...«
Ferdinand ging nur unbestimmt auf diese Warnung ein:
»No, ich werd mir die Sache noch überlegen ...«
Beide gaben sich die Hand und murmelten ein nachlässiges Servus.
Weiß aber drehte sich noch einmal um:
»Hallo! Herstellt! Noch etwas!«
Ferdinand machte zwei Schritte zu Ronald hin, der ihn mit folgenden Worten erwartete:
»Glaubst du, ich spür das nicht? Du hast wiederum deinen berühmten Widerstand wie damals beim Kader. Ich seh die Elbe vor mir. Hab ich recht?«
»Was für einen Widerstand?« staunte Ferdinand, ein wenig gezwungen.
»Mach kein so harmloses Gesicht. Verschlagen bist du, das kann dir der Neid lassen ... Also, was hältst du eigentlich von mir?«
»Komische Frage das!«
»Gar keine komische Frage! Ich will dir sagen, was du von mir hältst. Der Weiß ist ein eitler Komödiant, der nichts ernst nimmt, auch die Revolution nicht, und sich mit großer Chuzpe vordrängt ... Das hältst du von mir ...«
»Keine Spur!«
»Ruhe! Einen Angeklagten muß man ausreden lassen. Also paß auf. Ich war eine journalistische Größe, das weißt du. Alle Zeitungen hätten sich um mich gerissen. Haufenweise hätt ich Geld verdienen können, gar nicht abzusehn. Für mich wär mir's gleichgültig. Aber du weißt auch, wie ich zu meiner Mutter steh. Und sie lebt von meinen Einkünften. Das alles hab ich schon vor der Revolution gewußt. Was die andern von mir denken, ist mir zwar nicht Wurscht ... aber ich will, daß du eine richtige Vorstellung hast. Gut, ich mach immer blöde Witze. Aber glaubst du, daß ein bürgerliches Blatt je wieder eine Zeile von mir drucken wird? Ich glaub's nicht und ich will's auch nicht. Ich bin nämlich, damit du es weißt, kein Kiebitz, sondern ein Spieler. Der Sozialismus ist mir heilig. So! Das hindert aber nicht, daß ich sonst vollkommen das Schwein bin, wofür du mich hältst. Was? Wie? Bitte keine Abschwächung, du weißer Probierstein! Nur sei nicht strenger zu mir als nötig! Servus!«
Weiß war mit drei Sprüngen im Café verschwunden. Er ließ Ferdinand keine Zeit, ihm zu versichern, daß er weit freundschaftlichere Gedanken hege und kein hinterhältiger Entlarver sei. Sollte er Ronald nachlaufen? Nein! Der Verdacht mit dem Widerstand stimmte schon. Aber er galt nicht nur Weiß, sondern dem ganzen Säulensaal, vor dem er sich fürchtete. Vielleicht war Krasnys Tod schuld daran.
Ferdinand blieb noch einige Sekunden unentschlossen stehn. Dann schlenderte er langsam weiter in die schlecht beleuchtete eingeregnete Stadt. Das mächtige Eisentor der Burg war geschlossen. Weiß hatte richtig geraten. Im ersten Hof, vor der Wachstube der ehemaligen k. u. k. Burgwache wurde im Fackelschein eine große Abteilung Polizei sichtbar. Ferdinand machte eine Wendung und schlug den altbekannten Weg durch den Volksgarten ein. Als er die Lerchenfelderstraße hinaufging, fiel ihm ein ganz kleiner Laden auf, dessen Inhaberin eben die Rollbalken herablassen wollte. Es war ein armseliges Blumengeschäft, in dessen Auslage ein paar rötliche Astern ausgestellt waren. Ferdinand trat eilig ein (als müsse er vor Ladenschluß noch schnell eine sehr wichtige Besorgung machen) und kaufte drei von den Herbstblumen. Ihm fiel's nicht ein zu überlegen, warum ihn dieser jähe und ungewöhnliche Wunsch angewandelt habe.
Er konnte seine Wohnung gar nicht mehr betreten. Schon im Hausflur empfing ihn ein Zivilist mit lang ausgezogenem Feldwebelschnurrbart und zeigte seine Polizeimarke:
»Sie müssen mitkommen.«
Jedermann, auch der Unschuldigste, der jemals in eine ähnliche Lage gerät, erfährt im Augenblick der Verhaftung einen Stoß mitten ins Lebensmark. Ferdinand aber empfand gar nichts. Nicht nur, weil er dieses Ereignis vorgewußt hatte, sondern weil er mit allem ganz und gar fertig war. In der Tasche trug er siebenundzwanzig Kronen. Vor ihm lag das Nichts. Die Gefährten des Säulensaals, sie waren seit einer Stunde märchenhafter geworden und in entlegenere Weiten verschwunden als die fernsten Schatten seines Lebens. Sein einziger Freund war geisteskrank.
»Worum handelt es sich denn?« fragte Ferdinand den Kriminalbeamten ruhig im Weitergehn.
»Das werden Sie selbst schon am besten wissen«, erfolgte mit amtsüblicher Barschheit die Auskunft.
»Keine Ahnung ...«
»Man wird Ihnen ja gleich Gelegenheit geben, alles zu hören.«
»So, so«, machte Ferdinand völlig gleichgültig.
Ohne Absicht hatte er die geschickteste Art gewählt, mit der Polizei umzugehen. Seine unnahbare Gelassenheit reizte subalterne Grausamkeitsinstinkte nicht auf, was jede weinerliche Angst unweigerlich getan hätte. Der Beamte sah den frisch vorwärtsmarschierenden Menschen von der Seite an. In einer Anwandlung von Sympathie verriet er sein Geheimnis:
»Sie waren doch der Herr, der gestern das Zeichen zum Sturm aufs Parlament gegeben hat ...«
»Ich? Wieso ich?«
Diese Frage kam gar nicht besonders erstaunt.
»Jawohl, Sie! Beim Verhör können Sie alles vorbringen.«
Der Verhaftete schien ein sehr zerstreuter Mensch zu sein. Vielleicht fühlte er sich so sicher, weil der Staat, recht besehn, sich in einem verfassungslosen Zustand befand und deshalb politische Vorgehen gesetzlich gar nicht ahnden konnte. Der Inspektor hatte an diesem Tag schon eine ganze Reihe derartiger Fälle abzuführen gehabt. Er kannte sich aus.
Auf dem Wege zum Polizeigebäude durchquerten sie mehrere Straßen, die ziemlich stark belebt waren. Merkwürdig, dachte Ferdinand aus einem kleinen Winkel seines Bewußtseins, seit gestern hat sich die Stadt ganz verändert.
Der Regen hatte aufgehört. Trotz Nässe, November und lichterloser Nacht schritten die Menschen entschlossener aus und drückten sich nicht mehr an den Häusermauern entlang. Sie wagten wieder ihre Welt in Besitz zu nehmen, wie sehr sie auch die lauernden Gefahren bedrohten. Es war eine überaus feine und heimliche Verwandlung, die man gleichsam nur mit geschlossenen Augen wahrnehmen konnte. Aus einem Lokal drang, das Zeitalter zu neuen Genüssen aufmunternd, ein vorerst noch zimperliches Klavier. Vor einer hellen Auslage drängte sich eine beglückte Menschenmenge. Etwas Unerträumtes wurde Wahrheit. In zweifelnder Trunkenheit hingen hundert Augen an dem Inhalt großer und solider Konservenbüchsen. Aus Amerika war die erste Sendung von Corned beef eingetroffen: Echtes, fettes, rotes, geräuchertes Fleisch!
Dies alles berührte Ferdinand nicht, der seine drei Astern krampfhaft vor sich her trug wie einen gefährdeten Besitz. Er war ja gar nicht mehr in Wien. Mit seinem ganzen Wesen suchte er einen vergessenen Punkt in der Welt, dem jetzt mächtige Ströme des Schutzes und der Ruhe entfluteten. Sie senkten sich wie eine selige Glockenform der Betäubung auf ihn.