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Achtes Kapitel.
Jähes Erwachen

Das Ende des Nachmittages nahm für Ferdinand einen erfreulichen Verlauf. Man hatte ihn Barbara überlassen. Gemeinsam mit ihr stand er nun unerbittlich die letzten Nummern der Platzmusik aus. Ohne mehr an den Spaziergang mit seinem Vater zu denken, schlug er ebenso wie andere Knaben den Takt. Später saßen die beiden in der kleinen Ortskonditorei, um Gefrorenes zu essen, was ihnen Mama erlaubt hatte. Auch der Besuch des Volksfestes war ihnen nicht gerade verboten worden. Die sehr sparsame Barbara – Vojta hielt sie sogar für ausgesprochen geizig – spendierte heute ihrem Liebling zwei Fahrten auf dem Ringelspiel und ein paar Lose für den Glückshafen. Sie betrachteten mit großem Eifer alle Spiele und Vergnügungen, die der Menge dargeboten wurden: Das Baumklettern, die Hammerprobe, Preisschießen, Kuchenwettessen, ein Kasperltheater und zuletzt das Raritätenkabinett. Der Tag war mit Erlebnissen bis zum Rand gefüllt. Als es dunkel wurde, setzte das »kolossale Brillantfeuerwerk« ein. Barbara, die wußte, daß Ferdinand längst ins Bett gehöre, konnte sich, trotz ihrer Gewissensbisse, von dem erregenden Geknatter und dem buntzerstäubenden Flammenanblick nicht trennen.

Sie kamen erst um neun Uhr ins Hotel. Mama war nicht da. Das ganze Haus schien ausgestorben zu sein. Die Veranstaltung en petit comité fand außerhalb des Ortes auf einem kleinen Jagdschloß statt. Auch die Bedienung war ausgeflogen. Barbara konnte erst nach langem Suchen jemanden ausfindig machen, der ihr den Schlüssel übergab. Zwei mäßige Räume, miteinander verbunden, standen Mama und den beiden zur Verfügung. Ferdinand schlief mit Barbara. Die Zimmer waren noch nicht für die Nacht hergerichtet. Barbara machte sogleich das Bett des Kindes, darein es todmüde sank. Dann eilte sie hinab, um für Ferdinand Milch und Eier zu bestellen. Als sie zurückkam, war er schon längst eingeschlafen.

Dies aber sollte sein Erwachen sein.

Zuerst war es ihm, als ob sehr viele Menschen mit nachwehenden Mänteln durch den Raum seines Schlafes liefen. Einige davon fuhren ihm unerbittlich mit Kerzenflammen übers Gesicht. Dann hörte er ein Gepolter von fallenden Gegenständen. Jetzt aber bohrte sich ein Schrei in seinen Schlaf und schnitt ihn entzwei. ›Die Eltern‹, wußte er sogleich. Er wurde heftig gerüttelt. Barbara hatte ihn aus dem Bett gerissen. Sein Kopf taumelte gegen die Schulter der Kinderfrau, die noch ihr weißes Nachtjäckchen trug. Was war geschehen? Warum ließ man ihn nicht schlafen! Tiefe Nacht lag noch in den Fenstern. »Jesusmaria!« Barbara flüsterte das unaufhörlich, wie von Sinnen. Weiterschlafen, weinte die Müdigkeit in dem Knaben. Er drängte, zum Schlaf entschlossen, sein Gesicht an ihre Brust. Sie aber versuchte, ihn mit fliegenden Händen anzukleiden. Es gelang nicht schnell genug. Er hatte nur einen Strumpf an, als sie ihn hochriß und ins Nebenzimmer trug.

Ferdinand sah Mama. Sie lag in ihrer ausgeschnittenen und streng geschnürten Balltoilette auf dem Bett. Die Füße in den sehr spitz zulaufenden Lackschuhen hingen über den Rand, als hätte sie eine plötzliche Übelkeit gezwungen, sich aufs Bett zu werfen. Auch die umsichtig errichtete Frisur war bis auf eine losgelöste Haarsträhne noch vollkommen in Ordnung. Mama schien zu schwanken, ob sie in eine lange Ohnmacht fallen oder in einen schrecklichen Weinkrampf ausbrechen solle. Sie entschloß sich zu etwas Drittem und wiederholte mit schriller, haßverzerrter Stimme unablässig zwei Sätze: »Du machst dich ja lächerlich ...« und »Das schaut dir ganz ähnlich!«

An jener Stelle des Zimmers, die am weitesten von Mama entfernt war, stand Onkel Bogdan. Ferdinand hätte ihn fast nicht erkannt, denn der Rittmeister trug Zivil, einen Smoking. Es wirkte unangenehm, daß ihm die schwarze Binde aufgegangen war und in zwei langen Enden schlaff hinabhing. Den merkwürdigsten Anblick bot aber Papa. Er trug Felduniform. Die Kappe mit dem Band der weißen Partei war ein wenig nach hinten gerutscht. An den Gürtelriemen war vorne der Feldstecher geschnallt und seitlich die offene Pistolentasche. Um den Leib schlang sich die gelbe Feldbinde, von der die großen gelben Quasten abwärtsbaumelten. Reitstiefel, Handschuhe, ein Stöckchen vervollständigten das Bild der Dienstausrüstung. Auf der Straße unten hörte man schon militärisch-gespenstigen Frühlärm: Pferdegetrappel, Signale, Gleichschritt, Kommandorufe. Auch schreckte Laternenlicht über die Wände des kerzendunklen Zimmers und gab blitzhaft warnende Zeichen, die niemand verstand. Das Kind starrte auf diese zuckenden Laternenflecken. Sie nahmen es mehr gefangen als das fremdartige Gehaben der Erwachsenen.

Mama ließ nicht ab, ihre sinnlosen Sätze in den Raum zu schnellen, als hätte sie es darauf angelegt, den Skandal bis in die schlaferfülltesten Winkel der Herberge zu treiben. Papa hielt die Augen halbgeschlossen, wie er es in nachdenklichen Momenten immer tat. Von Zeit zu Zeit sagte er mit unterdrückter Stimme, mehr zu sich selbst als zu den andern:

»Aber jetzt, bitte, fort!«

Onkel Bogdan in seiner Ecke lächelte angelegentlich und begütigend, als wäre er voll davon überzeugt, daß dieses sonderbare, ein wenig komische Mißverständnis auf dem besten Wege sei, aufgeklärt zu werden. Er sandte eine diensteifrige Stimme zu Papa hin:

»Herr Oberst, ich schwöre dir gehorsamst, daß deine Annahme auf einem peinlichen Irrtum beruht.«

Papa hörte nicht, beachtete ihn nicht:

»Fort, bitte!«

Der Rittmeister lächelte daraufhin noch um einen Schatten nachsichtiger:

»Herr Oberst, ich muß dich in aller Freundschaft davor warnen, eine Banalität zu begehen ...«

Veselovich war sich im Augenblick über dieses Wort »Banalität«, das ihm unerwartet über die Lippen gerutscht war, nicht ganz im klaren. Er verfolgte die Absicht, durch seinen leichten und eleganten Tonfall die Szene zu entladen. Jetzt aber erkannte er, daß von diesem Fremdwort ein beleidigender Sinn ausstrahle. Dies erfüllte ihn mit merklichem Mißbehagen, denn er gab sein bisheriges Verhalten auf, nahm plötzlich Stellung und schlug einen hohen Ton an:

»Herr Oberst, ich stehe dir selbstverständlich in jeder Weise gehorsamst zur Verfügung!«

Auch dieser pathetische Satz wurde nicht angenommen. Es war zum Verzweifeln. Blind, steinern ragte der Oberst an seinem Ort und ging nicht in die Falle einer Szene, die einen dagewesenen und abgespielten Verlauf gewährleistet hätte. Mama aber sprang jetzt unversehens vom Bette auf, warf die Arme hoch und stürzte sich auf das Kind. Ferdinand erschrak vor Mama bis ins Herz. Niemals war sie ihm fremder gewesen als jetzt, da die Leidenschaft ihrer allzu großen Bewegungen und Worte in ihm einen ungläubigen Widerstand hervorrief. Er stemmte sich gegen sie, um sich ihrer Umarmung zu entwinden. Ach, warum schrie Mama nur so böse?

»Du bist mein Kind! Du gehörst mir! Ich nehme dich mit! Was geht ihr ekelhaften Männer mich an!?«

Nun geschah es das erste und einzige Mal, daß Ferdinand seinen Vater schreien hörte. Ein gewaltiger brüllender Befehl drang aus der Brust des Obersten:

»Fort, Sie mit dem Kind! Augenblicklich mit dem Kind in mein Quartier!«

In Todesangst umklammerte der Knabe die Kindsfrau. Doch Mama, in der jetzt eine echte, rasende Kampfeswut erwachte, warf sich auf Barbara, um ihr den Knaben zu entreißen. Diese aber, aus deren Mund noch kein Ton gekommen war, fiel jetzt, selber aufschreiend, in die Knie. Denn sie sah des Obersten Armeepistole, deren Mündung sich auf den Kopf ihrer Herrin richtete. Der Rittmeister, immer noch an seine Ecke gekettet, machte mit beiden Händen wilde Zeichen. Da packte Barbara das Kind, hob es auf und rannte mit ihm aus dem Haus.


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