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Sechzehntes Kapitel.
Bahnhofsgefühl

Zur fünften Nachmittagsstunde, da Barbara und Ferdinand in die Wallfahrtskirche traten, um Abschied von ihrem Landausflug zu nehmen, war der hohe Raum dunkel, hohlschallend und menschenleer. Nur aus dem Düster einer fernen Unsichtbarkeit drang das Gemurmel der Heiligenlitanei her, die in irgendeiner versteckten Seitenkapelle abgehalten wurde. Tonlos, kaum vernehmlich flogen in der vorschriftsmäßigen Aufeinanderfolge die angerufenen Fürbitten auf.

Barbara hatte sich an der Pforte mit Weihwasser bekreuzigt und war dann, Ferdinand mit sich niederziehend, vor einem der unscheinbaren Nebenaltäre auf die Knie gesunken. Sie begann eifrig in einem kleinen zerfetzten Gebetbuch zu blättern, das der Knabe noch nie bei ihr gesehen hatte. Als die Stelle, nach der sie suchte, gefunden war, flüsterte sie:

»Denk Er jetzt an Papa und Mama!«

Sie selber aber las mit unhörbarer Stimme das »Gebet für Verstorbene«, wie es in diesem Buche stand, das sie noch seit ihrer Schulzeit besaß. An dem betreffenden Ort setzte sie die Namen ein, zu deren Gunsten sie sich an Gott wandte:

»Wie Du Dich unser, der noch lebenden Menschen erbarmen mögest, o Gott, so erbarme Dich auch unserer verstorbenen Brüder und Schwestern im Reinigungsorte; rette sie aus ihren Strafen und nimm sie zu Dir ins Himmelreich! Insbesondere derjenigen erbarme Dich, welche einst unsere Verwandten, Freunde, Wohltäter und guten Bekannten waren, besonders des Herrn Oberst und seiner Frau, der Eltern dieses Kindes! – Erbarme Dich ihrer nach Deiner großen Barmherzigkeit! Verzeih ihnen ihre Sünden, besonders aber ihr, der Sünderin! Laß ihnen ihre längeren Strafen nach und nimm sie zu Dir in das Himmelreich! Verzeih ihnen und gib, daß wir uns alle dereinst wiedersehen in Deiner ewigen Freude durch unsern Herrn Jesus Christus, Amen!«

Ferdinand schloß die Augen und ballte die Fäuste. Er hatte den besten Willen, Barbaras Wunsch zu erfüllen und mit aller Kraft Papa und Mama herbeizurufen. Aber die Toten entzogen sich ihm. Sie wollten das Element nicht verlassen, in dem sie sich nun bewegten. Ebensowenig kann man Fische mit der bloßen Hand fangen, wie die scheuen Schatten der Toten. Sie waren schon so gleichgültig geworden, als wären sie nicht einige Tage und Wochen, sondern ein paar Ewigkeiten tot. Immer weiter schwammen sie davon, und es fiel ihnen nicht ein, sich von ihrem Kinde heranlocken zu lassen. Hingegen unterbrach Frantas Bild breitspurig Ferdinands Bemühungen. Je ausschließlicher er an seine Eltern denken wollte, je frecher drängte sich ihm der Bub auf. Frantas Kopf, wie er struppig und triefend aus dem Wasser taucht! Franta, den kühnen Hieb gegen die Schlange führend! Franta, wie er mittwegs von dem scheppernden Leiterwagen hinabspringt, der Barbara und Ferdinand in die kleine Stadt zurückführt. Zuerst stapft der Bursche weiter, ohne sich umzuschauen. Dann aber, als koste ihn diese Freundschaftsbezeigung eine ehrliche Überwindung, dreht er sich um und winkt Ferdinand kurz mit der Hand. Das Bild des knappen, fast groben Grußes steigert in dieser Minute die Sehnsucht des Knaben nach seinem ersten Freunde immer stärker.

Die Sehnsucht wich erst wieder, als Barbara ihn zum Umkreis des wundertätigen Bildes führte, um eine letzte Andacht zu verrichten. Ein dumpf-gelblicher Strahl, von der Fensterrose gefiltert, streifte an den Schaft der Säule. Dadurch wirkte die Gottheit in ihrer Höhe noch unbestimmter und kaum mehr im Stein verwirklicht. Barbara forderte:

»Bete Er jetzt für uns, und daß wir noch lange zusammenleben dürfen!«

Diese Worte entschleierten eine Wunde in Ferdinands geheimstem Vorwissen. Wohl war er noch zu klein, um zu ahnen, warum er trauere. Aber seine Seele, die mehr wußte als er selbst, trauerte der Trennung entgegen, die ihm in wenigen Jahren schon Barbara entreißen würde. Es ist nicht wahr, daß es Kinderseelen im Sinne von unfertigen Seelen gibt. Es gibt nur ein kindliches Bewußtsein, ein primitives, unvollständiges Wissen um die Wirklichkeiten, die der kleine Mensch in sich trägt. Wenn man Kinder recht beobachtet, lernt man verstehen, daß sich ihr Wesen von den Erwachsenen durch nichts anderes unterscheidet als durch unerwecktere Empfangs- und Ausdrucksmittel des Selbstbewußtseins. Die Seele selber verwandelt und entwickelt sich nicht. Um sich hievon zu überzeugen, braucht man nicht nur an die weisen Fragen ganz kleiner Kinder zu denken. Ein Blick in die stillen Augen eines Säuglings genügt. Die Seele, das sich selbst erlebende Licht, leuchtet von Anfang an mit der gleichen Stärke. Nur die Lampe, in der es steckt, Glas und Schirm verändert sich, erhellt und verfinstert den Lichtkern. In der unentwickelbaren Ganzheit dieser Seele ist unser Leben, unser Schicksal als ebensolche Gesamtheit vorweg enthalten. Und dies ist das Geheimnis des Vorwissens, jener Kraft in uns, die wir am meisten fürchten. Daß wir bei unserer Geburt ein leeres, bloß vererbungsmäßig vorliniertes Blatt sein sollen, auf das nun das Leben seine Haar- und Schattenstriche zu schreiben beginnt, dies ist etwa ein ähnlicher optischer Irrtum wie die Annahme der alten Welt, daß die Sonne um die Erde kreise. Die Zeit fügt uns nichts hinzu. Wer nicht ahnt, daß sie eine fortnehmende, rein analytische Macht ist, hat ihr Wesen nie erlebt. Unser Leben, um ein einfaches Gleichnis zu gebrauchen, ruht schon bei der Empfängnis in uns wie eine geschlossene vollblättrige Rose. Die Zeit zupft Blatt für Blatt ab. In der Loslösung der Blätter, in der Entzweiung der Teile mit dem Ganzen, in der Dialogmöglichkeit dieser Entzweiung liegt das Wesen des gröberen Bewußtwerdens, welches das zarte Voll- und Vorwissen verdrängt.

Die Trauer, in deren Verhüllung Ferdinand jetzt neben Barbara kniete, diese gedankenlose Trauer war sein schmerzhaftes Vorwissen. Aber auch Barbaras Seele betete, während ihr Mund nun ohne Zuhilfenahme des Gebetbuches ein paar Marienformeln sprach, ein ganz anderes Gebet:

»Heilige Mutter Gottes, hilf mir! Hilf mir und verzeih mir die Sünde, daß ich mein eigenes kleines Kindchen, das mir vor so vielen Jahren schon gestorben ist, ganz vergessen habe. Nein, ich denke gar nicht mehr daran, denn ich hab nur dieses, dieses Kind hier lieb, das jetzt keine Eltern mehr hat. Mein Herz ist ganz bange von Liebe, denn ich bin bloß eine Fremde, eine Kinderfrau und Köchin, die man aufnimmt und kündigt. Wo ist mein Anrecht, diesen Buben so sehr gern zu haben, den ich von klein auf gepflegt hab, mehr als seine Mutter. Du weißt es! Man kann mich jeden Tag wegschicken und man wird es auch. Heilige Mutter Gottes, schenke mir noch drei, vier Jahre, die ich bei ihm bleiben darf, nur noch so lange laß mich bleiben, als er in die Volksschule gehen wird. Ich flehe darum nicht allein um meinetwillen, nein auch um seinetwillen. Denn diese Tante Karolin hat ihn nicht gern. Sie ist eine harte geizige Person, das hab ich schon heraus. Gleich hat sie mir ja gesagt, daß sie mir nur den halben Lohn zahlen kann, wenn ich mit dem Kinde zu ihr übersiedeln will. Mit der Frau wird es viel Krach geben, ich seh das schon. Aber ich gelobe Dir, heilige Mutter Gottes, daß ich ohne jeden Lohn dort dienen will, wenn es sein muß, für das bloße Essen. Ich habe ja keine Angst. Später werde ich noch Stellungen genug finden! ... Du bist voller Gnaden. Der Herr ist mit Dir ... Du bist gebenedeiet unter den Weibern ... Nur laß mich noch bei dem Buben bleiben, lange, sehr lange ...«

Während Barbara diese Herzensergießung zum Wunderbilde emporsandte, war Ferdinand auf den Knien eingeschlafen und träumte einen kurzen, unruhigen Traum von Janetschek, dem Räuber. Franta hatte ihn im Walde mit dem Befehl, zu warten, allein gelassen. Aber wie lange und geduldig er auch wartete, der Freund kam nicht zurück. Statt seiner ertönte auf einmal Vojtas Stimme aus dem Gebüsch. Er selber aber blieb unsichtbar und schien sich während des Singens einmal anzunähern, das andere Mal wieder zu entfernen. Die Ziehharmonika quäkte zu einem der hundert Lieder, die auf des Pfeifendeckels Repertoire standen. Dieses aber hatte er wohl noch nie gesungen:

»Wasserlein, so kalt wie Eis,
Ja, so kalt wie Eis ...«

Die gleichen Worte wiederholten sich immer wieder. Als sie verklangen, fühlte sich Ferdinand noch viel, viel einsamer als zuvor, ja er hatte bisher noch gar nicht gewußt, was Einsamkeit und Angst sei. Dies war der rechte Augenblick für Janetschek, aus seiner Höhle emporzutauchen. Obgleich der Mann einen echten struppigen Räuberkopf besaß, schien er doch weniger ein romantischer als ein pedantischer Räuber zu sein. Bald erkannte Ferdinand, daß Janetschek niemand anderer war als Herr Vondrak, Frantas Schullehrer. Er schwang taktmäßig in seinen Händen den Ast, der zur Tötung der Schlange gedient hatte. »Komm nur, ich werd dir schon das Affazanza zeigen«, sagte er. Ferdinand kannte dieses Wort nicht, aber er verstand so ziemlich seinen drohenden Sinn. Es half nichts, die Gewalt des Traumes zwang ihn, auf den Knien bis zu der Höhle hinzurutschen und seine feinen Hosen an den Steinen zu zerreißen, die er gestern zum Schutze des Räubers zusammengetragen hatte. Dieser aber empfing ihn gnadenlos und führte mit dem Schlangenstabe leichte, aber um so schmerzhaftere Schläge gegen die Oberschenkel des Knaben ...

Als Barbara und er wieder im Freien standen und die steilen Treppen des Bußweges stadtabwärts wanderten, schmerzten ihn noch immer die Knie, und sein Kopf war trübe. Dann aber in der Vorhalle des Kleinstadtbahnhofs, nachdem Barbara am Schalter die Fahrkarten gelöst hatte, war Janetschek gänzlich und für alle Zeit zergangen.

Jeder Bahnhof ist auch ein dicht verwickelter Knotenpunkt von seelischen und nervösen Strömungen. Nicht nur die stetige Wolke von Kohlenqualm und Wasserdampf lastet auf ihm, sondern auch eine andere, feinere Wolke, aus der Vibration einer ewig wechselnden Menschenmenge emporsteigend. Die Nervenaussendungen der Ungeduld, des Wartens, der Versäumnisangst, des Reisefiebers, der unzähligen Gefühlswerte des Abschieds (von der Todesnot bis zum Freiheitsrausch), die Morgenfreude der gebirgwärts strebenden Ausflügler, die Bedrücktheit der Heimkehrenden, Sonntagsluft und Montagsfurcht – aus all diesen elektronenhaft schwirrenden Strömungen bildet sich jene unsichtbare Wolke, deren Unruhe wie ein leiser Regen über jedem Bahnhof liegt. In dem Bewegungsbild der Menschen, die atemlos die Bahnsteige entlang hasten, mit grimmiger Entschlossenheit ihre Koffer schleppen, verzweifelt den richtigen Zug suchen, und haben sie ein Abteil gefunden, ihren Platz mit kriegerischer Wut beziehen, gewillt, jeden neuen Obdachsuchenden zu vernichten – in all diesem jagenden Gehaben tritt das menschliche Provisorium als faßliches Zeichen zutage, die Sinnlosigkeit, das unselige Verstoßensein und der zwangsläufig bittere Egoismus dieses Lebens. Ein Wartesaal dritter Klasse zum Beispiel im Spätherbst, wenn es draußen nieselt und in der Dämmerung hocken die Menschen auf den Bänken, ihre verbrauchten Handtaschen und die verschnürten Pakete hütend – gibt es ein treffenderes Sinnbild der Todeserwartung?

Wir alle haben irgendwo zum erstenmal das traurige Bahnhofsgefühl erlebt, wie es jetzt den kleinen Ferdinand packte. Früher, auf Spaziergängen mit Barbara – über einen Viadukt donnert mit silbernen Fensterstrichen ein Schnellzug –, da hatte er sich am Spielzeughaften des Eisenbahn-Anblicks geweidet und in wilder Kennerbegeisterung »Schnellzugmaschine« gejubelt. Auch der Lichtertanz der Signale, das Schrillen der Klingeln, das Schreiten des Stationsvorstandes, die scharfen Pfiffe, Hornstöße und der Rangierlärm waren immer hochgeachtete Gegenstände freudiger Teilnahme gewesen.

Heute aber zeigte ein gehässiges Klingelzeichen den nahenden Personenzug an, es regnete träge, und der Stationschef hatte eine wachslederne Kapuze über die rote Kappe gestülpt. Ein mißvergnügter Schaffner durchlochte grimmig die Fahrkarten. Das verrauchte Bahnhofshaus der Provinz war mit einer zerbröckelnden Farbe angestrichen, die gelb-grauem Spülwasser glich. Es sah genau so abweisend drein wie die Beamten, die dem Publikum verächtlich zu verstehen gaben, daß der Staat Selbstzweck sei und der Reiseverkehr der Monarchie diene, nicht aber ihren Untertanen. Die Eisenbahner schritten bedächtig und entrückt an dem wartenden Volke vorüber. Feierlich setzten sie ihre widerspenstigen Porzellanpfeifen immer wieder in Brand. Ein Beet mit schlechtgeratenen Fuchsien und ein halbabgestorbenes Bäumchen in einem Topf wirkten fast als loser Widerspruch zu dieser schläfrigen Amtshoffart.

Nicht allzuviele Menschen warteten hier auf den Abendzug. Scheelsüchtige Bauern bewachten diebstahlsfürchtig ihre schmutzigen Bündel. Geschäftsreisende, die zudringliche Unruhe ihrer Lebensbestimmung in den Beinen, machten sich längs des Perrons Bewegung. Sie strichen wie Verschworene schnell aneinander vorüber und riefen sich Fragen zu, auf deren Beantwortung sie keinen Wert zu legen schienen. Eine Frau saß inmitten kleiner Kinder und schlecht verschnürten Auswanderergepäcks. Ihre Augen flohen mutlos im Kreis. Sie wußte sich nicht zu helfen.

Und Barbara? Wie abgespannt war sie, wie blaß, wie alt! Kaum mehr konnte sie sich auf den Füßen halten und sank auf eine der Bänke nieder. Still setzte sich Ferdinand an ihre Seite. Sie entnahm ihrem Zöger ein Täfelchen Suchard-Schokolade, befreite es vom Stanniolpapier und gab's ihm. Er hielt die Schokolade steif in der Hand, ohne davon abzubeißen. In diesem Augenblick ahnte seine Seele, daß sie den ersten Abschied nehmen müsse von Barbara. Es war ein Abschied unbegreiflicher, verworrener Art, denn er wußte ja, daß sie mit zu Tante Karolin übersiedeln und dort in alle Ewigkeit, wie sie vor jedem Kinderleben liegt, bei ihm bleiben werde. Dennoch war alles verwandelt. Mit großer Schärfe kam ihm zu Bewußtsein, daß man ja nicht mehr nach Hause zurückkehren könne. Die alte Wohnung, sein Zimmer, und alles was an Stimmen und Gesichtern dazugehörte, das gab es nicht mehr. Nicht vorher und nicht nachher, nein, jetzt in dieser Minute auf der Bahnhofsbank der Bergwerkstadt war alles anders geworden. Vielleicht war auch schon Barbara eine andere. Da überkam den Knaben eine wehe Schlafsucht, und er ließ den Kopf schwer in ihren Schoß gleiten, in den Schoß, der ihn nicht geboren hatte. Barbara auch näherte ihr eingefallenes Gesicht, dessen Züge immer blinder wurden, dem Antlitz des Kindes. Und wortlos, ihres Abschiedsschmerzes unbewußt, sahen sie einander in die Augen und in den Abgrund ihrer Liebe. So groß war die Macht der Haltung, in der sie erstarrten, daß sich Barbara und Ferdinand kaum losreißen konnten, als der rußige Personenzug hereinkreischte und der Schaffner mit Pfiffen und Zurufen die wartenden Menschen in die schmutzigen Abteile scheuchte.


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