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Sieben Söhne

Eine Frau hatte sieben Söhne, die waren alle wohlgeraten und stark und gesund, und nur der jüngste, als der Nachgeborene, war ein zartes und träumerisches Kind. Und wenn die anderen in ihrem Gewerbe ordentlich zugriffen, beim Fischfang oder Ackerbau, bei der Jagd oder beim Holzfällen, so saß er gern bei ihnen, am Seeufer oder am Feldrand, klopfte sich eine Weidenflöte zurecht und sah schweigend zu, wie die weißen Sommerwolken über das weite Land zogen. Darum liebten die Brüder ihn besonders, weil er in ihrem lärmenden Treiben immer still und freundlich war, und wenn sie die Augen von ihrer Tätigkeit zu ihm wendeten, meinten sie immer, es sitze ein kleiner Heiliger da oder ein Zauberer, der sie alle in Liebe zusammenhalte.

Der Vater war schon lange tot, aber die Mutter war noch eine rüstige Frau und herrschte mit starker und gerechter Hand über sie alle. Auch sie aber mußte sich zuweilen gestehen, daß nichts und niemand auf Erden ihr so nahe am Herzen lag wie der Jüngste, aber da auch die anderen Söhne ihm so zugetan waren, so schien es ihr kein Unrecht, und so lebten sie in Frieden und Eintracht, bis die Söhne Jünglinge geworden waren, und einer war schöner und wohlgestalteter als der andere.

Eines Tages nun, als alle sieben Söhne am Seeufer sich fröhlich tummelten und ein neues Boot für den Fischfang bauten, saß die Mutter vor der Schwelle und spann, und wenn ihre Blicke zum Wasser gingen und sie sah, wie die jungen Glieder sich regten, und hörte, wie sie fröhlich einander zuriefen und neckten, wurde ihr jedesmal das Herz weit, und sie würde sich nicht verwundert haben, wenn der wollene Faden zwischen ihren Fingern sich in Gold verwandelt hätte.

Doch schalt sie sich gleich aus über ihren Stolz, und als eine Wolke vor die Sonne trat, fröstelte sie und betete zu den Unterirdischen, daß sie weiter ihre Hand über das niedrige Dach halten möchten.

Auch wurde ihr bange ums Herz, als sie eine alte gebückte Frau über die Heide kommen sah, und es war ihr plötzlich, als sei es nun vorbei mit der Sommerszeit und als habe sie noch nicht alle Tränen ihres Lebens geweint. Die Frau kam langsam über die Heide, bog zum Seeufer ab und stand eine Weile bei den sieben Brüdern, und noch einmal fröstelte die Mutter, als sie sah, daß keiner der Söhne die Alte zu bemerken schien. Da wischte sie mit der Schürze die Bank neben sich sauber und spann weiter, aber die Finger zitterten ihr, und der Faden verwirrte sich.

Und dann stand die Alte vor ihr und sah ihr zu. Sie sah so aus wie andere Frauen, nur daß sie uralt war, aber es war nichts Böses in ihren Augen, nur eine große, stille Traurigkeit.

»Was spinnst du, Tochter?« fragte sie endlich.

Die Mutter wies ihr den Platz neben sich auf der Bank und erwiderte, daß sie Hemden für ihre Söhne spinne.

»Spinne nur eines für jeden«, sagte die Alte, »und mache es so lang, daß es auch die Füße bedeckt.«

Da erschrak die Mutter bis in ihr Herz hinein, denn nur Totenhemden spann man so lang. Aber sie fragte doch, weshalb sie so lang sein sollten.

Da nahm die Alte aus ihrem Korbe sieben Weizenhalme heraus, die waren schlank und grün, und auch die schweren Ähren waren noch grün und vor der Reife. Aber als die alte Frau den ersten Halm ein wenig schüttelte, lösten die grünen Körner sich aus der Ähre, daß nicht ein einziges zurückblieb, und der Halm wurde welk und schlaff in ihrer Hand.

Da legte die Mutter ihre Hand auf ihr Herz und sah zum Seeufer hinunter, wo der Älteste gerade die schwere Baumaxt schwang.

Darauf schüttelte die alte Frau den zweiten Halm ein wenig, und wieder fielen alle grünen Körner aus ihrer jungen Ähre.

Da sah die Mutter zum Seeufer hinunter und sah, wie der zweite Sohn den schlanken Mast aufrichtete und an ihm in die Höhe blickte.

Und so blieb sie, mit der Hand auf ihrem Herzen, bis die alte Frau die Körner aus sechs Halmen geschüttelt hatte. Aber als die welke, runzlige Hand nach dem siebenten Halm griff, schrie die Mutter auf, fiel vor ihr auf die Knie und bat sie, lieber ihr eigenes Leben zu nehmen als das des Jüngsten.

Da zögerte die Alte eine Weile, aber dann reichte sie ihr doch den Halm und sagte: »Es ist wohl gleich, wohin die Körner fallen, denn jedes Korn fällt zur Erde. Aber vergiß nicht, daß den Menschenkindern Gehorsam ziemt, denn sie sind nur Samen und nicht Ernte.«

»Es ist mir leid um sie«, sagte sie nach einer Weile, »und ich will dir für jeden etwas geben, wenn es ihm wohl auch nicht helfen wird, denn der mich schickt, ist stärker als wir alle.«

Und sie nahm aus ihrem Korb drei goldene Walnüsse und reichte sie der Mutter. »Dies ist für die drei Ältesten«, sagte sie, »und sieh zu, daß sie sie immer bei sich tragen.«

Und darauf nahm sie aus ihrem Korb drei goldene Pfeile, wie man sie auf die Bogensehne legt, und reichte sie der Mutter und sprach dasselbe. »Für deinen Jüngsten aber«, schloß sie, »kann ich dir nichts geben, weil ich dir seine Ähre gegeben habe, und für ihn mußt du allein sorgen.«

Und damit stand sie auf und blickte noch einmal bekümmert zum Seeufer hinüber. »Spinne nur weiter, Tochter«, sagte sie, »einmal werden wir es ja alle brauchen.«

Und dann ging sie wieder auf die Heide hinaus, aber sie blieb nun nicht mehr bei den sieben Brüdern stehen.

Die Mutter aber trug den Weizenhalm in ihre Kammer, pflanzte ihn in einen Topf, band ihn sorgsam an einen Stab und begoß ihn mit Wasser und ihren Tränen.

Und als die Söhne zur Abendzeit vom See heimkehrten, hatte sie ein weißes Tuch über die Tischplatte gelegt und sieben Kerzen angezündet und das Beste aufgetragen, was sie in Küche und Keller besaß. Und sie saß in ihrem schwarzen Brautkleid zu oberst am Tisch, so daß die Söhne erschraken und sie fragten, was ihr sei.

Aber sie wies ihnen still ihre Plätze an, brach für jeden von ihnen das Brot und bat sie, fröhlich zu sein und zu essen. Und erst als die Teller und Schüsseln leer waren, zog sie die Nüsse und die Pfeile aus ihrer Tasche, verteilte sie, wie ihr befohlen worden war, und sagte: »Habt ihr nicht am See eine alte Frau gesehen, die unter euch stand und euch zusah?«

Da schüttelte jeder verwundert den Kopf, denn sie hatten niemanden gesehen.

»Ja«, sagte die Mutter, »sie saß nachher bei mir, und sie hat für sechs von euch eine Gabe hinterlassen, und ihr dürft sie niemals von euch tun, sondern müßt sie bei euch tragen und hüten wie euren Augapfel. Für dich aber«, sagte sie zum Jüngsten, »hatte sie nichts mehr da, und du sollst nur an meinem Herzen bleiben wie bisher. Das sei die schönste Gabe für dich, hat sie gesagt.«

»Und das Rechte hat sie gesagt«, erwiderte der Jüngste und kniete bei der Mutter nieder. »Und viel schöner ist es als alle goldenen Nüsse und Pfeile.«

Da neckten ihn die anderen, daß er nur so dahinrede, und sie wollten noch einmal das Los werfen um die Nüsse und Pfeile, aber die Mutter sagte traurig: »Habt ihr so schnell vergessen, daß ihr sie niemals von euch tun dürft?«

Da ließen sie es und fragten nur, weshalb die Mutter alles so feierlich gerichtet habe. Aber sie erwiderte nur still, daß die Frau es ihr so aufgetragen habe.

Damit waren sie zufrieden und spielten den Abend über mit den Geschenken wie Kinder und beredeten miteinander, wie sie es am besten in ihrem Gewand verbergen könnten und ob der Schatzmeister des Königs wohl Ähnliches in seinen Truhen hätte.

Der Jüngste aber sah an den Augen seiner Mutter, daß etwas geschehen war, ging heimlich hinaus und pflückte im letzten Abendlicht ein paar wilde Rosen, die trug er in ihre Kammer und setzte sie neben ihr Lager. Und als er den Raum verlassen wollte, sah er auf dem Fensterbrett den Topf mit dem Weizenhalm. Da blieb er in Gedanken davor stehen, bis die Mutter, die ihn suchte, in die Kammer trat und ihn erblickte.

Da zog sie ihn weinend an sich und vertraute ihm, daß dies die Gabe sei, die die Frau für ihn zurückgelassen habe, und daß der Weizenhalm wohl ein Bild seines Lebens sei. Das andere sagte sie ihm nicht.

Sie wußte nicht, wieviel er erriet, aber bevor er sie verließ, küßte er sie und sagte zärtlich: »Auch wir schneiden die Halme, Mutter, damit wir Brot haben. Sei nur nicht traurig darüber, wenn ein anderer uns schneidet.«

Am nächsten Morgen hob der Tag an wie sonst, und am Abend dachten die sechs Brüder kaum mehr an ihr Geschenk, außer wenn ihre Hand versehentlich an den Beutel stieß, in dem sie es bewahrten.

Aber als der Sommer schon am Vergehen war, kamen eines Morgens Boten vom König, die zogen über Land und riefen alle Männer und Jünglinge zu den Waffen. Denn der König und seine Räte hatten beschlossen, das Nachbarreich mit Krieg zu überziehen, weil es ihnen zu stark und mächtig war.

Da rüsteten die drei Ältesten sich und waren fröhlich, daß das Einerlei ihrer Tage nun zu Ende war und sie Ruhm und Ehre gewinnen konnten. Die Mutter aber ging still umher, mit weißem Gesicht, packte die geringen Habseligkeiten zusammen und saß dann auf der Bank vor dem Hause, und zum erstenmal hatte sie ihre Hände auf einen Stock gelegt, der zwischen ihren Knien stand.

Da kamen die drei Söhne, knieten vor ihr nieder und baten um ihren Segen. Und als die Mutter sie gesegnet hatte, erinnerte sie ihre Söhne an die drei goldenen Nüsse und tastete mit ihrer Hand nach der Brust eines jeden, wo sie die Gabe verwahrt hatten. »Wenn es nun sein muß«, sagte sie, »so besteht es in Ehren. Aber ich weiß nicht, ob es sein muß.«

Da scherzten die Söhne trotz ihren schweren Herzen und meinten, der König werde es schon wissen, auch wenn sie alle es nicht wüßten. Und bald würden sie wiederkehren.

Da nickte die Mutter vor sich hin und wußte, daß sie die Wahrheit sprachen.

Nach acht Tagen aber kam ein Mann aus der Nachbarschaft, der war verwundet und ging mühsam an zwei Stöcken über die Heide. Und als er ein wenig auf der Bank gerastet hatte, beschrieb er die Stelle, wo die drei Toten lagen, nebeneinander, wie sie nebeneinander gefochten hatten. Und er erzählte, daß kein Makel an ihnen gewesen sei und daß sie sich gewehrt hätten, bis ihre letzte Waffe zerbrochen sei. Da hätten sie zur Verwunderung der anderen alle drei in ihr Gewand gegriffen, hätten etwas Goldenes herausgezogen, gleich drei Steinen, und es gegen die Feinde geschleudert. Und die, die es getroffen, wären sogleich zu Boden gestürzt. Aber dann hätten viele Lanzen sie niedergestreckt, und da lägen sie nun, und noch im Tode wären sie schön und ungebeugt.

Die Mutter dankte dem Boten, reichte ihm eine Erfrischung und rief dann die drei Söhne, die den goldenen Pfeil an ihrer Brust trugen. »Geht nun«, sagte sie, »und holt sie heim.«

Und sie sah ihnen lange nach, wie sie über die Heide dahingingen und die breite Bahre aus Fichtenstangen zwischen ihnen schwankte.

Dann ging sie in ihre Kammer, goß den Weizenhalm, nahm zwei Spaten aus dem Schuppen und rief den jüngsten Sohn.

Aber er nahm ihr die Spaten leise aus der Hand, legte den rechten Arm um ihre Schulter und sagte: »Komm nur, Mutter, sie sind wohl zu schwer für dich.«

Und er führte sie zu dem Hügel über dem See, wo die sieben Eichen standen, die der Vater gepflanzt hatte. Und als sie auf die Kuppe des Hügels kam, sah die Mutter, daß drei Gräber in den weißen Sand gegraben waren.

Da erschrak sie und sagte: »Hast du es denn gewußt, mein Sohn?«

Ja, erwiderte er, er habe es gewußt. So gut wie sie selbst.

Der Knabe wollte sie wieder nach der Hütte führen, aber sie blieb zu Häupten der Gräber sitzen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Sie hatte den Kopf an eine der Eichen gelegt, hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah still über den See hinaus in die Ferne. Die Sonne ging unter, die Wasservögel im Schilf gingen zur Ruhe, und die Sterne zogen feierlich über den Wäldern auf.

Sie dachte an ihre toten Söhne und ob der König nun wohl schon wisse, ob es habe so sein müssen, was er getan und befohlen habe.

Aber sie fand keine Antwort.

Als das Morgenrot über dem See stand, kamen die drei Söhne mit den Toten über die Heide, und die Mutter drückte ihnen noch einmal die Augen zu. Dann begruben sie sie und häuften den weißen Sand über die roten Wunden.

Und wieder nach ein paar Tagen ging ein neuer Bote des Königs über Land und forderte die drei nächsten Söhne, denn es ging mit dem Krieg nicht so, wie der König gedacht hatte. Und die Mutter fragte ihn, ob die Gedanken der Könige immer mit Blut bezahlt würden. Aber der Bote wußte keine Antwort darauf.

Da rüsteten sich die drei Söhne und waren fröhlich, wie die Erschlagenen fröhlich gewesen waren, denn sie vertrauten auf ihre Jugendkraft und die drei goldenen Pfeile und dachten es klüger zu machen als ihre Brüder.

Die Mutter aber saß wieder auf der Bank vor der Hütte, hatte die Hände um den Stock gefaltet, und ihr Haar war grau geworden über Nacht.

Da kamen die Söhne, knieten vor ihr nieder und baten um ihren Segen. Und als sie ihre Söhne gesegnet hatte, beschwor sie die Knienden, an die goldenen Pfeile zu denken, und tastete mit ihrer Hand nach der Brust eines jeden. »Wenn es nun sein muß«, sagte sie, »so besteht es in Ehren, aber ich weiß nicht, ob es so sein muß.«

Da scherzten die Söhne, wenn auch mit Tränen in ihren Augen, und meinten, daß sie bald wiederkehren würden.

Und die Mutter wußte, daß sie die Wahrheit sprachen.

Und nach acht Tagen trugen sie einen Mann vom anderen Seeufer vorbei, dem waren beide Knie zerschmettert und er ruhte ein wenig im Schatten der Hütte. Und als er einen Becher mit Wasser getrunken hatte, beschrieb er die Stelle, wo die drei Toten lagen, nebeneinander, und es sei kein Makel an ihnen zu finden gewesen.

»Aber als ihre Waffen zerbrochen waren«, sagte die Mutter, »haben sie in ihr Kleid gegriffen und drei goldene Pfeile herausgezogen. Und diese Pfeile haben sie auf ihre Bogensehnen gelegt und damit die Vordersten der Feinde getötet. War es nicht so?«

Da verwunderte sich der Mann und fragte sie, wie sie das wissen könne.

Aber sie sah über ihn hinweg auf die Heide hinaus und erwiderte, daß sie einiges wisse, was nicht einmal der König wisse.

Und dankte dem Boten und rief ihren jüngsten Sohn und trug ihm auf, ein Pferd zu leihen, es vor die Bahre zu spannen und die Toten zu holen.

Dann ging sie in ihre Kammer, begoß den Weizenhalm, nahm einen Spaten aus dem Schuppen und ging zu dem Hügel über dem See.

Aber als sie unter die Eichen trat, sah sie, daß neben den Gräbern der drei ältesten Söhne drei andere Gräber in den weißen Sand gegraben waren, und sie verhüllte ihr Haupt und saß den Tag über und die lange Nacht auf dem Hügel, und dachte an die frühen Jahre ihrer Ehe und wie sie jedes der Kinder getränkt hatte, und wollte weinen, aber ihre Augen blieben leer. Und nur ihr Haar wurde weiß in dieser Nacht.

Als das Morgenrot über dem See stand, kam der Jüngste mit den Toten über die Heide, und die Mutter drückte ihnen noch einmal die Augen zu.

Dann begruben sie sie und häuften den weißen Sand über die roten Wunden.

Und abermals nach acht Tagen ging ein neuer Bote des Königs über Land und forderte den letzten Sohn der Witwe, denn der Feind stand schon an den Toren der Hauptstadt.

Der Knabe rüstete sich, wenn auch nicht fröhlich wie die anderen Brüder, aber die Mutter hieß ihn die Hütte bewachen, bis sie wiederkehre, denn sie habe einen Gang zu tun, ehe sie ganz allein bleibe. Und sie trug ihm auf, ja nicht den Weizenhalm zu vergessen und ihn am Morgen und Abend zu pflegen. Dann ging sie in ihrem schwarzen Kleide davon, und der Knabe sah, wie schwer sie sich auf den Stock stützte, als sie über die Heide schritt.

Und als sie im Walde verschwunden war, holte er einen Spaten aus dem Schuppen und ging zu dem Hügel unter den Eichen. Dort grub er das siebente Grab in den weißen Sand, und da neben den sechs Gräbern kein Platz mehr war, grub er es unterhalb der langen Reihe aus, zu Füßen des dritten und vierten Bruders.

Er war still und fleißig bei seiner Arbeit, und als er fertig war, setzte er sich neben den weißen Sand, den er ausgehoben hatte, blickte über den See und die Wälder, die ihm so lieb waren, und ließ eine Handvoll Sand nach der andern im müßigen Spiel durch seine Finger rinnen.

Darnach ging er wieder heim und sah nach dem Weizenhalm.

Am Abend des zweiten Tages kam die Mutter zu der Stadt des Königs, die war schon rings vom Feinde belagert, aber als sie sagte, daß sie um ihren siebenten Sohn bitten käme, ließ man sie durch die Wachen, und in der Dämmerung stand sie vor dem König.

Er saß in einer großen Halle, in der schon die Kerzen brannten, und war von seinen Großen umgeben. Er sah müde und alt aus, aber seine Augen sahen sie nicht freundlich an, als sie ihre Bitte vorgetragen hatte.

»Es ist viel, was du gegeben hast«, sagte er endlich, »aber ein guter Untertan hat alles zu geben und nicht nur viel.«

»Gibst du auch alles?« fragte sie ruhig und stützte sich fest auf ihren Stock, denn sie war müde von Kummer und Wanderung.

»Rede nicht so, Weib!« sagte er zornig. »Weißt du nicht, daß du vor deinem König stehst?«

»Vor dem Tod ist niemand König«, erwiderte sie, »und du scheinst nicht zu wissen, daß du vor einer Mutter sitzest.«

»Was ist mir eine Mutter?« fragte er verächtlich. »Die Mütter haben zu gebären, das ist ihr Handwerk.«

»Hast du geboren?« fragte sie, »daß du etwas von unserm Handwerk weißt? Und hast du noch eine Mutter, daß sie dir die blutigen Augen zudrückt?«

Da murrten die Großen und schlugen an ihre Schwerter, und der König hob finster die Hand und wies sie aus dem Saale. »Wenn er in drei Tagen nicht unter Waffen steht, so wirst du es büßen!« sagte er.

Sie stand schon auf der Schwelle und drehte sich noch einmal um. »Er wird in Waffen stehen«, sagte sie, »und wenn er mein Herz hätte, das Herz einer Mutter, so würde sein erster Pfeil durch deine Kehle fahren. Aber so wie ich diese Kerze lösche, so werden alle Kerzen in diesem Saale erlöschen, und die Balken werden stürzen über dich, und Staub wird deine blutigen Augen decken statt der Hand einer Mutter!«

Und sie nahm eine der Kerzen, die in der Türfüllung brannten, löschte sie mit ihrem Atem und warf sie in die Halle, wo sie auf dem Marmorboden bis zu den Stufen des Thrones rollte. Und obwohl sie aus zartem Bienenwachs war, rollte es bei ihrem Wege wie ein unterirdischer Donner durch den Palast, und die Großen des Reiches entsetzten sich.

Doch war die Mutter verschwunden, ehe man sie verfolgen konnte.

»Du kannst es nun halten, wie du willst«, sagte sie zu ihrem Jüngsten, als sie wieder heimgekommen war. »Du kannst dich verbergen, und ich will jeden der Boten mit meinen eigenen Händen töten, die man nach dir ausschickt. Und du kannst auch zur Stadt des Königs ziehen und tun, wie deine Brüder getan haben. Und wie du tust, so will ich es zufrieden sein.«

Da kniete der Knabe vor ihr nieder wie in Kinderzeiten, barg sein Gesicht in ihrem Schoß und sagte: »Liebe Mutter, das wirst du nicht wollen für mich, daß ich zusehe, während du meine Waffen führst. Und auch das wirst du nicht wollen für mich, daß ich mich verberge wie ein gejagtes Wild. Und du weißt so gut wie ich, daß es nicht der König ist, der ruft, sondern ein anderer. Der König ist nur ein Bettler vor ihm, so gut wie ich, nur daß er es nicht weiß. Aber wir beide wissen es, und wenn das Los gefallen ist, so wollen wir es aufheben mit gehorsamer Hand.«

Da schnürte sie seine Habseligkeiten zusammen und küßte ihn noch einmal auf beide Augen und ließ ihn dann gehen. Sie saß auf der Bank und sah ihm nach, aber obwohl ihre Augen tränenleer waren, sah sie ihn nicht, sondern nur ein großes Dunkel, als wäre sie erblindet unter einer unsichtbaren Hand.

Am Abend aber wusch sie ihre Füße, füllte den Topf unter dem Weizenhalm mit Wasser, hüllte ihr Gesicht in einen schwarzen Schleier, nahm den Stock und ging noch einmal davon, so sehr ihre Füße sie schmerzten.

Sie fand die Höhle im Berge, von der die ganz alten Leute zu ihrer Kinderzeit geflüstert hatten, und sie fand auch den großen Meister, wie er müde auf seinem Lager saß, den fleischlosen Kopf in die Knochenhände gestützt, und traurig auf die tausend und abertausend Lichter blickte, die in der Halle brannten.

Die Mutter hielt den Schritt an, denn niemals in ihrem Leben hatte sie ein so schreckliches Schweigen gehört wie in der riesigen Halle. Nur ihr eigenes Herz schlug laut wie ein Hammer, und sie drückte beide Hände an ihre Brust, um den Ton zu ersticken.

Die meisten Lichter brannten mit ruhiger Flamme, aber viele flackerten unruhig hin und her, obwohl kein Luftzug durch die Höhle ging, und diese waren schon tief herabgebrannt. Und hin und wieder erlosch eines von ihnen, und manchmal eine ganze Reihe zusammen. Dann stieg ein feiner weißer Nebel aus den erloschenen Dochten auf und schwebte lautlos nach oben, bis er sich auflöste und verschwand.

Da stockte der Mutter ihr Herzschlag, und sie trat schnell näher, damit sie die kostbare Zeit nicht verliere.

Der Tod wandte nicht den Kopf nach ihr, aber er sagte mit leiser, gütiger Stimme: »Was willst du, meine Arme?«

Da kniete sie nieder und bat um das Leben ihres letzten Sohnes.

Er wandte die Augen nach dem brennenden Lichterglanz, nahm sie still bei der Hand und führte sie zu einer Ecke, wo auf einem schmalen Steinvorsprung der Wand ein großes, helles Licht brannte. Daneben ein kleines, dessen Flamme schon mühselig flackerte, und neben ihm lagen die erloschenen Dochte von sechs Kerzen, einer neben dem anderen, wie sie umgesunken waren in der letzten Mühe ihres Lebens.

Er blickte traurig auf die Reihe nieder und sagte dann: »Du meinst, daß ich ein Meister sei, aber ich bin nur ein Knecht. Ein müder Knecht, und meine Füße sind tausendmal müder als die deinigen, obwohl ich sehe, daß sie bluten von deinen Wanderungen. Ich habe gehorsam zu sein wie du auch, und weil ich gehorsam sein muß, kann ich dir nicht helfen, obwohl du mich erbarmst und ich nicht weiß, weshalb das Los dir so bitter gefallen ist.«

Da fragte sie ihn mit vergehender Stimme, wem das große Licht gehöre.

»Das ist deines«, sagte er, als wundere er sich, daß sie das nicht wisse.

»Laß mich es ein wenig ansehen«, bat sie.

Er nickte nur und ging langsam zu seinem Lager zurück.

Aber wie er ihr den Rücken gewendet hatte, wärmte sie das große Licht mit ihren Händen, bis es sich neigte, und ließ es in die Höhlung des kleinen Lichtes niedertropfen, in der der Docht sich schon zu neigen begann. Aber wie sie ihr eigenes Leben auch niedertropfen ließ, so wuchs das andere Licht doch nicht empor, sondern verfloß nur zu einem unregelmäßigen Gebilde, und manchmal schien es sogar, als wollte es unter den Tropfen erlöschen, die von oben in seine kleine Flamme fielen.

Da schluchzte die Mutter auf und griff mit ihrer Hand in die Flamme des großen Lichtes, um sie zu ersticken.

Aber der Tod war leise hinter sie getreten, nahm ihre Hand und zog sie zurück. »Du arme Törin«, sagte er, »glaubst du denn, das Los wenden zu können, und siehst doch, daß nicht einmal ich es wenden kann?«

»Aber so jung waren sie«, schluchzte sie. »So jung und schön, und ihre Saat war noch nicht aufgegangen. Konntest du denn nicht bis zu ihrer Ernte warten?«

Da sah der Tod sie lange an und sagte: »Wißt ihr denn immer noch nicht, daß bei mir das Glück ist und nicht auf eurer Erde?« Und er nahm sie bei der Hand und führte sie bis an das Ende der Höhle. Dort brannten nur wenige hohe Kerzen mit ganz stiller Flamme, und in die Steinwand war ein großer, runder Spiegel eingelassen, der war aus einem ganz hellen Metall geschliffen.

»Blicke hinein!« sagte der Tod.

Da sah die Mutter zuerst nur etwas, das wie Nebel aussah, der langsam hin und her zog. Aber wie der Nebel sich klärte, sah sie ein großes Wasser, so groß wie das Meer, und mitten auf dem Wasser ein kleines Boot mit einem zerbrochenen Mast, und die dunklen schaumgekrönten Wogen schlugen auf das Boot nieder, bis es sich auf die Seite legte. Am Bootsrand aber hing ein Mann, dessen Gesicht war weiß vor Angst, und seine Augen starrten entsetzt in den Aufruhr der Wogen. So hing er lange Zeit, bis seine ermüdeten Hände sich langsam lösten, und bevor er mit einem Todesschrei versank, erkannte die Mutter das Gesicht, und es war das Gesicht ihres ältesten Sohnes.

Da schlug sie die Hände vor die Augen und stöhnte vor Schmerz.

»Blicke hinein!« sagte der Tod.

Da sah sie eine blühende Heide vor sich, über der ein Krähenschwarm wie eine Wolke hing. Unter ihr aber standen fünf Männer, die wild und verwahrlost aussahen, um einen sechsten herum, der war reich gekleidet und schön von Angesicht. Und die fünf Männer schlugen mit Äxten und Messern auf den sechsten ein. Er wehrte sich mit seinem Schwert, aber es waren ihrer zuviele, und zuletzt sank er in die blühende Heide, und sie stürzten sich auf ihn wie Wölfe auf ein Lamm.

Und die Mutter erkannte sein Angesicht, und es war schmerzverzerrt und das Angesicht ihres zweiten Sohnes.

Da schlug sie die Hände vor die Augen und stöhnte vor Schmerz.

»Blicke hinein!« sagte der Tod.

Aber sie wollte nicht mehr, und er führte sie langsam zum Eingang zurück. »Siehst du nun, wie gut ich es meine?« fragte er.

Da nickte sie und dankte ihm.

Dann standen sie am Eingang, wo die sonnige Welt draußen im Frieden lag, und der Tod sagte: »Ich will dir wenigstens sagen, wo du ihn finden wirst. Als du zum König gingst, standen drei Linden auf einem Hügel, von dort sahst du zum erstenmal die Stadt. Und dort wirst du ihn finden. Gehe nun in Frieden.«

Es dämmerte schon, als sie bei den drei Linden ankam. Unter sich sah sie Feuer aus der Stadt brechen und hörte den Lärm des Kampfes. Aber unter den Bäumen war es still wie an einem Sonntagabend, und die Toten lagen friedlich wie die Schlafenden. Der Friedlichste von allen aber war ihr jüngster Sohn.

Sie setzte sich zu ihm und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Die Hände hatte sie über seine Augen gelegt, und so saß sie still, bis der Mond über die Heide emporstieg und die Toten ihren Schatten warfen.

Aber bevor sie ihren Sohn auf ihre Schultern nahm, hob sie den rechten Arm unter die Sterne und ballte ihre Faust über der Königsstadt. Und als ihre Finger sich geschlossen hatten, brach dort unten eine steile Flamme aus den Häusern empor, ein Funkenregen stieg bis zu den Sternen, und ein dumpfes Dröhnen wie ein unterirdischer Donner rollte über die Erde hin.

Dann ging sie mit dem Toten heimwärts, Schritt für Schritt, denn obwohl er nur ein schmächtiger Knabe war, lag er schwer auf ihren Schultern, und es war nicht sein Leib allein, der über ihren Schritten lag.

Sie fand das Grab gegraben, legte ihn hinein und häufte behutsam mit den Händen den weißen Sand über den jungen Körper.

Als sie ihre Kammer betrat, sah sie, daß die Weizenähre leer war, und die Körner lagen auf den Dielen verstreut.

Da nahm sie ihren Spinnrocken und setzte sich auf die Bank vor der Tür. Das Abendrot stand schon über dem Wasser, als brenne der Himmel hinter dem See. Und wie sie so in das rote Leuchten blickte, so müde und alt, vernahm sie plötzlich in den Lüften einen brausenden und klingenden Ton, der sang wie eine große Harfe, die der Wind anrührt, und als sie die Augen hob, sah sie, wie aus dem Abendrot sieben weiße Schwäne heraufstiegen, und bei jedem Schlag der großen Schwingen tönte die Luft wie eine herrliche Musik.

So kamen sie immer näher, hoch über das Dach der Hütte hin, ein schimmernder Keil, der sich durch den roten Himmel pflügte. Und der letzte der sieben Schwäne senkte sich und flog einmal einen schimmernden Kreis um das Hüttendach, und es war der Mutter, als sähe sie eine kleine goldene Krone auf seinem Haupt.

Und dann verschwanden sie in den östlichen Himmel hinein, der war noch blau vom Tageslicht, und noch lange ertönte die stille Luft von dem Brausen der vierzehn silbernen Schwingen.

Da lächelte die Mutter mit ihren erblaßten Lippen und nahm den Faden zwischen ihre zitternden Finger und fing an, ihr Totenhemd zu spinnen.

* * *


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