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Das verlorene Brot

Eine arme Witwe hatte einen einzigen Sohn, der war wohl guten Herzens, aber sein Sinn stand ihm gerne nach Spiel und leichten Dingen, so daß die Mutter ihn oft mahnen mußte, Arbeit und Tagwerk nicht über der Vogeljagd oder dem Bau von kleinen Wassermühlen zu vergessen, die er mit großer Kunst fertigen konnte und die er dann in dem kleinen Bach sich drehen ließ, der an der Hütte vorüberfloß. Dann versprach er wohl gutwillig Fleiß und Besserung, aber wenn die Frühlingssonne über die Heide schien und die Vögel so lustig sangen, wurde es ihm doch wieder leid, das Dach der Hütte zu flicken oder einen neuen Zaunpfahl einzusetzen, und er griff schnell nach seiner Lockflöte oder der Schleuder und machte sich heimlich davon, in den großen Wald oder am Bachufer entlang, wo die Hechte wie stille Räuber über dem Grund standen und die dunklen Krebse aus ihren Höhlen gekrochen kamen.

Dann schalt die Mutter wohl, sobald er wiederkam, oder sie weinte auch ein bißchen vor Kummer, aber er umfing sie mit seinen jungen Armen, küßte sie und sagte: »Liebe Mutter, ich bin doch nur einmal jung, laß es mich noch ein bißchen so treiben, bevor ich in das Tagwerk eingespannt werde wie ein armer Ochse in sein Joch.«

Und die Mutter konnte ihm nicht böse sein.

Nach einem harten Winter aber begann sie zu kränkeln, und ehe das Frühjahr zu Ende war, legte sie sich still zum Sterben. Da weinte der Knabe oft an ihrem Lager und wußte nicht, was das Leben ihm bescheren würde, wenn er nun so ganz allein in der Welt stünde. Aber nun war die Mutter es, die ihn tröstete, und als ihr letztes Stündlein gekommen war, nahm sie von ihrer Brust eine kleine silberne Kapsel, die hing ihr an einer dünnen Kette um den Hals, und die hatte sie getragen, solange der Knabe nur denken konnte.

Darauf bat sie ihn, ihr das Brot zu reichen, das im Schrank verwahrt wurde, brach mit zitternden Händen eine Krume von ihm ab, benetzte sie mit ihren Tränen und legte sie dann in die Kapsel. »Mein lieber Sohn«, sagte sie, »solange du dies auf deinem Herzen tragen wirst, wird es dir niemals am täglichen Brot mangeln, und wer sein täglich Brot hat, dem kann es niemals übel auf dieser Welt ergehen. Denn alles andere vergeht wie Tand und Flitter, aber das Brot, das du am Abend brichst, ist Gottes Speise. Hüte die Kapsel nun wohl, denn sie ist mir geschenkt worden, als ich noch in der Wiege lag, und niemand hat die Frau gekannt, die sie mir brachte.«

Da küßte der Knabe die kleine Kapsel, legte sie an der dünnen Kette um den Hals und tat dann, was er konnte, um der Mutter die Todesnot leicht zu machen.

Und als sie gestorben war, begrub er sie unter den Eichen am Waldrand, setzte einen Zaun um ihr Grab, pflanzte einen Fliederstrauch zu ihren Häupten und war nun so verlassen wie ein Stein in der Heide.

Doch trug sein junges Herz ihn über die ersten einsamen Wochen hinweg, und als der Sommer gekommen war, streifte er schon wieder durch den Wald und am Wasser entlang, tat gerade so viel, daß der Regen ihm nicht durch das Rohrdach fiel, und hatte am Abend immer ein frischgebackenes Brot im Schrank, wie von Zauberhänden für ihn hingelegt. Da segnete er die silberne Kapsel, und oft bei seinen langen Wanderungen griff er mit der rechten Hand darnach, ob sie auch noch da sei.

So ging es eine lange Zeit, den Herbst und Winter hindurch, bis der Kuckuck wieder aus den Eichen über dem Grabhügel rief. Da machte sich der Knabe eines schönen Tages auf in die Königsstadt, wo der Sonnwendmarkt war und wo er sein Spielzeug gegen einen neuen Rock eintauschen wollte, denn aus seinem alten Gewand begannen nun schon die Ellenbogen hinauszuschauen. Aber als er auf dem großen Platz angekommen war, vergaß er seinen Zweck für eine Weile, denn seine Augen sahen soviel herrliche Dinge, daß er erst nach Herzenslust zwischen den Buden umherstreifen mußte und daß er sich nicht genug verwundern konnte, wie reich die Erde an Schätzen war, von denen er sein Lebtag nichts vernommen hatte.

So kam er langsam zu einer Ecke des Platzes, wo die Menschen sich besonders eng zusammendrängten und wo so viele Kinder waren, daß er seinen Augen nicht trauen wollte. Und als er sich langsam durchgedrängt hatte und auf einen Eckstein gestiegen war, erblickte er nun auch die Ursache allen Zusammenlaufs, und da verstand er nun wohl, weshalb gerade hier der Mittelpunkt des ganzen Marktes war.

Auf einem kleinen hölzernen Gerüst stand nämlich ein alter Mann, dem hing sein weißer Bart bis auf den mit wunderlichen Zeichen bestickten Gürtel, und vor sich auf einer kleinen Holzsäule hatte er ein seltsames Gebilde stehen, das sah aus wie ein kleiner Christbaum, mit silbernen und goldenen Sternen und bunten Kugeln behangen, und in seinen grünen Zweigen saßen viele künstliche Vögel, so bunt und schillernd wie der Eisvogel, den der Knabe am Bachufer gesehen hatte. Und wenn der alte Mann auf eine verborgene Feder drückte, dann begann der kleine Baum sich zu drehen, und alle Kugeln klangen wie ein silbernes Glockenspiel, und alle künstlichen Vögel öffneten die kleinen Schnäbel und begannen zu singen, und alles zusammen gab ein so liebliches Getön und ein so wunderbares, glänzendes Bild, daß dem Knaben fast das Herz stehen bleiben wollte vor Entzücken und Seligkeit. Und dazu blickten die Augen des Mannes hinter den vielen Falten so freundlich auf die Kinder und sein Kunstwerk, daß er allen wie ein lieblicher Zauberer erschien, auf die Erde gesandt, um alles Herzeleid zu vertreiben und die glücklichen Zeiten des Paradieses wieder zurückzurufen auf die arme, leiderfüllte Erde.

Und je länger der Knabe stand und Augen und Ohren weit öffnete für das Wunderwerk, desto mehr schien ihm, als ruhten die Augen des alten Mannes mit ganz besonderer Freundlichkeit gerade auf ihm, und es war keine Täuschung, denn als der kleine Baum wieder einmal aufgehört hatte, sich zu drehen und Vögel und Glocken verstummt waren, winkte der alte Mann dem Knaben, und als dieser schüchtern zu ihm trat, sagte er leise: »Möchtest du wohl deine schönen Mühlen eintauschen gegen dieses kleine Spielzeug? Meine Kinder verlangen so sehr darnach, und niemand bei uns kann sie erbauen.«

Da glaubte der Knabe, daß er träume, aber der alte Mann flüsterte ihm zu, er möge ihn um die Abendzeit vor dem südlichen Tore erwarten, dort wo der Strom von Schilfufern begrenzt sei und wo man vor Lauschern sicher wäre.

Da versprach es der Knabe mit zitternden Lippen, verkaufte seine Ware nicht, sondern saß wie betäubt bis zum Abend auf den Stufen eines leeren Hauses, und noch bevor die Sonne sich rötete, stand er am Ufer zwischen den hohen Schilfwänden, bebend vor Erwartung und nun schon fast gewiß, daß der Alte ein Spiel mit ihm getrieben habe und daß er selbst ein Narr sei und immer bleiben werde.

Aber noch bevor die Sonne gesunken war, sah er den Mann am Ufer entlangkommen, wie er es versprochen hatte, und seinen weißen Bart in der Sonne rötlich schimmern. »Da bist du ja«, sagte der Mann, »und ich dachte schon, es liege dir nichts an diesem törichten Spielzeug. Zeige mir nun einmal deine schönen Mühlen, damit ich meine Freude daran habe.«

Der Knabe schob ihm alles bereitwillig hin, was er in seinen Mußestunden gearbeitet hatte, aber seine Augen hingen an nichts anderem als dem kleinen Wunderbaum, und als der Alte nun wieder auf die Feder drückte und die Herrlichkeit von neuem begann, würde er wohl seiner Seelen Seligkeit darum gegeben haben und nicht nur seine Wassermühlen, von denen er an jedem Tag eine neue machen konnte.

Der alte Mann fuhr mit behutsamen Fingern über das einfache Spielzeug, hielt es in den Strom und tat ganz entzückt über das Klappern des kleinen Rades. »Was du doch für ein Meister bist!« sagte er bewundernd. »Meine Kinder werden denken, daß der Himmel sich aufgetan hat.«

Dann hob er die Mühle aus dem Wasser, trocknete sie sorgfältig mit einem Tuch, in das die gleichen seltsamen Zeichen eingewoben waren wie in den Gürtel, sah den Knaben aufmerksam an und sagte: »Nun sprich, ob wir handelseinig werden.«

»Aber wie sollte es denn sein?« fragte der Knabe noch immer ungläubig. »Mein armes Spielzeug gegen solche Herrlichkeit?«

Da lächelte der Alte ein wenig verschmitzt, legte seine kühle Hand auf die warme des Knaben und sagte: »Wenn es dir als ein zu ungleicher Tausch erscheint, so lege deine hübsche silberne Kapsel dazu, die du um den Hals trägst, und wenn du das getan hast, so wollen wir kein Wort mehr verlieren, und der Wunderbaum soll sich drehen für dich, solange dein Leben währt.« Und wieder drückte er auf die verborgene Feder, und so lieblich klangen die Kugeln und sangen die Vögel, so wunderbar schimmerten die goldenen Sterne und winzigen Lichter, daß der Knabe die Kapsel vom Halse riß, so schnell, daß die dünne Kette sprang, und sie dem Alten in die offene Hand warf.

»Ist es denn nun wirklich mein?« fragte er atemlos. »Ganz mein?«

»Ganz dein!« erwiderte der Alte. »Und nun leb wohl und laß es dich nicht gereuen.«

Und damit verbarg er die Kapsel in seinem Gürtel, nahm die Mühle unter den Arm und machte sich so eilig davon, daß der Knabe es kaum gewahr wurde.

Da kniete er nun vor seinem kleinen Zauberbaum, drückte immer wieder auf die Feder, und die Sterne waren schon über dem großen Strom aufgezogen, als er sich endlich aufmachte, um nach seiner Hütte zu gehen.

Dort vergaß er Speise und Trank, zündete einen Kienspan über dem Herde an, setzte das Bäumchen auf den Tisch und blieb bis fast zum Morgenrot davor sitzen, und er meinte, daß es auf der ganzen Erde kein Menschenkind gäbe, das so glückselig wäre wie er.

Als er nach schweren Träumen erwachte, wagte er kaum, die Augen aufzuschlagen, in der Furcht, das Ganze könnte verflogen sein wie ein Nebelhauch, aber als er alles so fand, wie er es in der Nacht verlassen hatte, auch die Feder unter seiner Hand so gehorsam war wie je, lief er mit einem Jubelruf zum Brunnen, wusch sich in dem kalten Wasser, setzte seinen Buchweizenbrei auf das Feuer und ging zum Schrank, um das frische Brot herauszunehmen.

Aber wie er sich auch die Augen rieb: das Brot war nicht da. Nur ein paar trockene Krümel lagen auf dem Brett, die nahm er verwirrt mit den Fingerspitzen auf und steckte sie in den Mund. Und als er nach alter Gewohnheit mit der Hand unter das Kleid griff, um die Kapsel zu fühlen und sie war nicht da, zitterten ihm plötzlich die Knie, und er begriff, was er getan hatte. Er setzte sich auf den Holzklotz am Herde, stützte den Kopf in beide Hände, und mit einem Male war ihm so weh zumute, als hätte er das Allerheiligste verloren. Es war ihm, als stünde seine Mutter wieder am Herde wie früher und blickte bekümmert auf ihn nieder, und die heißen Tränen flossen ihm die Wangen herab.

Aber da er jung und leichten Sinnes war, schüttelte er den Kummer schnell ab und lief ein Stück bachaufwärts, wo seine einzigen Nachbarn wohnten, die ihm immer freundlich gewesen waren. Doch als er verlegen um ein Stück Brot bat, da das seinige ihm ausgegangen sei, schüttelte die Frau bedauernd den Kopf und sagte, daß der Mann zur Mühle um Mehl gegangen sei und daß er sich bis zum Abend gedulden müsse.

Da ging er ganz verwirrt wieder heim, aß seinen Brei und saß vor seinem Wunderbaum, aber es schien ihm, als sei seine Freude nicht mehr ganz so groß, und die Zeit wurde ihm lang bis zum Abend. Denn seine Gedanken gingen immer wieder zur Mutter, und ihr Gesicht war traurig und ganz beschattet, wie in ihrer Todesstunde.

Und als er dann am Abend wieder vor der Nachbarin stand und sie weinend antraf, da ihr Mann das ganze Mehl an Gaukler verspielt hätte, kehrte er bestürzt wieder um, sah sein Spielzeug nicht an und legte sich hungrig auf sein Lager, um zu bedenken, was nun am besten zu tun wäre.

In der Nacht aber träumte ihm, daß seine Mutter vor ihm stand, die hielt ein frisches, goldfarbenes Brot an die Brust gedrückt und wollte mit einem großen Messer ein Stück für ihn schneiden. Aber das Brot war so hart wie Stein, und das Messer zersprang, und die Stücke fielen klirrend auf den Fußboden. Die Mutter aber weinte, und ihre Tränen fielen auf das Brot, und als sie über die goldene Rinde rollten und von da zur Erde, waren sie schwer und schimmernd wie rötliche Herztropfen.

Da erwachte der Knabe mit klopfendem Herzen, und seine Stirn war feucht vor Angst und Leid, und als er sich aufsetzte, wußte er, daß er nun fort müßte, um den Zauberer zu suchen und seine silberne Kapsel wieder zu bekommen, und eher würde er keine glückliche Stunde haben auf dieser Welt.

Noch ging er zur Sicherheit einmal zum Schrank, aber das Brett war leer, und kein Brot lag duftend und glänzend vor seinen Augen. Da nahm er den alten Tragkorb seiner Mutter, setzte den kleinen Baum vorsichtig hinein, hob sich das Ganze auf den Rücken, schloß die Tür seiner Hütte zu und machte sich auf, um das Verlorene wiederzugewinnen.

Zuerst ging er zu der Stelle am Strom, wo der alte Mann ihn verlassen hatte, und von da aus immer aufwärts am Ufer entlang, denn es war ihm, als ob jemand, der auf Wassermühlen so aus gewesen war wie der Alte, auch an einem Wasser leben müßte, und er vertraute seinem Glück, das ihn schon richtig führen würde.

Aber zunächst führte es ihn immer nur weiter und weiter von seiner Heimat fort, und bald waren ihm Land und Menschen fremd und unvertraut. Nur eines war immer das gleiche: sobald er vor den Türen stand und sein Wunderwerk spielen ließ und um ein Brot bat, brachten die Leute ihm alles mögliche zuliebe, Kuchen und Semmel, Milch und Honig, aber an Brot mangelte es gerade, oder es war noch im Ofen, oder das Mehl wurde erst von der Mühle geholt.

Da erkannte er nun langsam den bösen Zauber, der auf dem schönen Spielzeug lag, und daß er betrogen worden war und die Wassermühlen dem alten Mann wahrscheinlich soviel wert gewesen waren wie Steine am Stromufer oder wie der Wind, der über den Wald ging.

Als er nun viele Monate so gewandert war und sein Herz ihm immer schwerer wurde vor Kummer und Reue, saß er eines Abends am Ufer, kühlte seine wunden Füße und blickte traurig über die leise strömende Flut. Da kam ein großer Fisch geschwommen, wie er ihn noch nie gesehen hatte, hob seinen breiten, gutmütigen Kopf über das Wasser und blickte ihn aus goldfarbenen Augen an. »Laß das Bäumchen sich einmal drehen für mich«, bat er.

Der Knabe, so tief in Gedanken, daß er sich gar nicht mehr wunderte, nahm das Spielzeug aus dem Korb, drückte auf die Feder und sah gleichmütig zu, wie der Fisch immer näher kam, bis er fast auf dem Strande lag, und wie seine Augen vor Entzücken leuchteten.

»Laß dich nicht verführen«, sagte der Knabe, »auch mir ist es nicht anders gegangen.« Und er erzählte dem Fisch von seinem Unglück.

Dieser nickte nur weise vor sich hin und sagte dann: »Du bist nicht der erste, der hier sitzt, wenn auch der erste mit einem so schönen Spielzeug. Das ist der Alte aus dem Walde, und er hat ein goldenes Schloß und tausend Diener und alles, was sein Herz begehrt. Nur eines hat er nicht, weil seine Hände verflucht sind.«

»Und was ist das?« fragte der Knabe.

»Brot«, erwiderte der Fisch. »Trockenes, duftendes, goldfarbenes Brot. Und dafür würde er sein halbes Leben hingeben. Bei dir aber hat er es billiger gehabt, du armer Tor.«

Da seufzte der Knabe so schwer, daß es den Fisch dauerte, und er sagte: »Es ist mir leid um dich, denn du bist ein junges Blut, aber mehr leid ist es mir um deine Mutter, denn sie hat nun keine Ruhe im Grabe. Und deshalb will ich dir helfen. Aber ich kann nicht mehr als dir sagen, wo der Alte lebt. Das andere ist dann deine Sache.«

»Sage es mir nur«, bat der Knabe.

Da beschrieb der Fisch ihm den Weg bis zu einem großen Walde und ermahnte ihn, vorsichtig und furchtlos zu sein, und meinte auch, daß der kleine Wunderbaum ihm helfen werde, denn niemand könne sich seinem Zauber entziehen als der Zauberer selbst. Da bedürfe es freilich anderer Mittel.

Und nachdem er den Knaben gebeten hatte, noch einmal die Vögel und Glocken für ihn erklingen zu lassen, bedankte er sich, wünschte ihm eine gute Reise und versank lautlos in der blauen Flut.

Der Knabe aber machte sich mit leichterem Herzen auf die Weiterreise, seit er wußte, daß er den Zauberer erreichen würde. Und seit er wußte, daß seine Mutter nun auch im Tode Leid um ihn trug, war er mit aller Kraft entschlossen, die Kapsel wiederzugewinnen, und sollte er dem Alten auch jedes Haar einzeln aus seinem weißen Barte reißen müssen.

Nach acht Tagen sah er in der Frühe den großen Wald vor sich liegen, so still, als lebte weder ein Mensch noch ein Tier darin, und es fröstelte ihn doch ein bißchen, als er in den Schatten der alten Eichen trat, und das Herz blieb ihm stehen, als ein Schwarzspecht mit gellendem Gelächter sich von einem trockenen Ast schwang und in der Tiefe des Waldes verschwand. »Wenn es ein Wächter in seinen Diensten war«, dachte der Knabe, »so ist es auch gut. Und wenn es nur ein erschreckter Vogel war, so weiß ich doch wenigstens, daß auch hier lebendige Wesen sind.«

Und er schnitt sich einen frischen Stab aus dem Haselbusch, rückte seinen Korb zurecht und schritt tapfer in die graue Dämmerung hinein.

Er war noch nicht weit gekommen, als das Gebüsch vor ihm sich leise bewegte und ein alter Wolf auf den schmalen Pfad trat. »Du kommst mir gerade recht«, sagte der Wolf, »denn meine Kinder haben Hunger und essen so gerne Menschenfleisch.«

»Das sollst du haben«, erwiderte der Knabe, »aber vorher mußt du noch ein wenig tanzen, damit du rechten Hunger bekommst.«

Und er nahm den Wunderbaum aus dem Tragkorb, drückte auf die Feder und sah fröhlich zu, wie der Wolf zu tanzen begann. Aber als dem Wolf schon die Schweißtropfen in die Augen fielen und er heulend bat, er möchte doch aufhören mit dem Zauberlied, schüttelte der Knabe den Kopf, trug den klingenden Baum immer weiter vor sich her und sagte: »Tanze nur recht lange, damit du ordentlichen Hunger bekommst, und wenn du genug hast, schicke mir deine Kinder nach, damit sie es mir sagen.«

Und damit ging er an dem Wolf vorüber und immer tiefer in den Wald hinein, und noch lange hörte er das Heulen des tanzenden Räubers. Da wurde er ganz zuversichtlich, daß es so gut gegangen war beim ersten Male, und meinte, so ganz umsonst sei der Tauschhandel doch nicht gewesen.

Wie er nun eine Weile gegangen war, teilte sich plötzlich das Gras neben seinem Pfad, und eine Kreuzspinne kam herausgekrochen, die war so groß wie ein Igel, und ihre runden Augen starrten ihn voller Blutgier an, so daß sein Herzschlag stehen blieb vor Entsetzen. »Du kommst mir gerade recht«, sagte die Spinne, »denn es ist schon einundzwanzig Stunden her, seit ich ein Kind gefressen habe, das Beeren las, und sein Blut schmeckte so süß wie Honig.«

»Das meinige ist noch viel süßer«, erwiderte der Knabe, »aber vorher mußt du noch ein wenig tanzen, damit du rechten Hunger bekommst.«

Und er nahm den Wunderbaum aus dem Tragkorb, drückte auf die Feder und sah fröhlich zu, wie die Spinne auf ihren geknickten Beinen zu tanzen begann. Sie drehte sich immer schneller und schneller, und das Kreuz auf ihrem geschwollenen Rücken wirbelte so rasch herum, daß ihm die Augen übergingen. »Tanze nur recht lange«, sagte der Knabe, »und sieh zu, daß du dich nicht in deinen schönen Fäden verwickelst. Und wenn du genug hast, so laß es mich wissen, damit ich mich bereit mache.«

Und obwohl die Spinne bat und flehte, ließ er die Zaubermelodie doch immer weiter ertönen und ging den Pfad immer tiefer in den Wald hinein. »Das ist ein schönes Spielzeug«, sagte er zu sich selbst, »und Tanzen ist eine gute Einrichtung für hungrige Leute.«

So wanderte er den ganzen Tag, und als die Sonne schon schräge Strahlen über seinen Pfad warf, erblickte er endlich eine lange Mauer, die war aus rötlichem Erz, und dahinter ragten die goldenen Zinnen eines gewaltigen Schlosses.

Da schlug ihm nun doch das junge Herz, und er stieg vorsichtig auf eine Buche, die ragte mit ihren Ästen über die Mauer in den Garten hinein. Da sah er nun den ganzen goldenen Palast, von riesigen Gärten umgeben, und die herrlichsten Blumen blühten überall, und Springbrunnen stiegen funkelnd in die Abendluft, und viele Vögel sangen süß und so verlockend, wie er es noch nie gehört hatte.

Zwischen den blühenden Beeten aber waren viele Knaben und Mädchen emsig und gebückt an der Arbeit, und alle waren schweigsam, und alle sahen ängstlich und traurig aus, so daß der Garten dem Knaben plötzlich düster und unheimlich erschien, mit einem stummen Grauen erfüllt, das sich lautlos bis zu ihm heraufschob.

Aber dann schüttelte er seine Angst ab, ließ sich von einem überhängenden Ast leise in den Garten fallen und berührte den jungen Gärtner, der ihm zunächst kniete, vorsichtig an der Schulter. Der erschrak zu Tode und starrte ihn wie ein Gespenst an.

»Erschrick nicht und mache keinen Lärm«, bat der Knabe leise. »Ich bin gekommen, um dem Alten etwas zu nehmen, was er mir mit List entwendet hat. Kannst du mir wohl dabei helfen?«

Da schüttelte der Gärtner traurig den Kopf, und auch die anderen, die heimlich herbeigekommen waren, standen da, als hätte der Tod ihn schon umfangen. »Wen diese Mauern einmal haben«, flüsterte der erste, »den lassen sie nicht wieder los. Sieh auf unser linkes Ohr, so hat er uns gezeichnet, daß er uns überall wiederfindet.«

Da sah der Knabe mit Entsetzen, daß allen Knaben und Mädchen das linke Ohr zur Hälfte abgeschnitten war, und obwohl sie alle das Haar darübergekämmt hatten, war es doch zu sehen, und ihre Augen blickten ihn so traurig an, als wäre auch ihr halbes Herz ihnen von dem Zauberer fortgeschnitten worden.

»Und jeden Abend«, fuhr der erste Knabe fort, »wenn wir aus diesem Garten in den Palast gerufen werden, steht er an der Tür und sieht nach unserem linken Ohr, damit kein Fremder sich einschleicht. Und so würde er dich gleich erkennen und seinen Spinnen zur Speise vorwerfen.«

Da bedachte sich der Knabe eine Weile, stellte seinen Korb unter ein Gebüsch, ging zu dem großen Silberbecken, wo das Wasser in einer hohen Säule emporstieg, zog sein Messer aus der Tasche und schnitt sein linkes Ohr zur Hälfte ab. Dann beugte er sich tief über das Wasser und spülte das Blut solange ab, bis es zu fließen aufhörte.

»So«, sagte er zu den anderen, die ihn wortlos umstanden, »nun nehmt mich in eure Mitte auf und helft mir ein wenig, damit ich weiß, wie es hier zugeht, und er mich nicht gleich entdeckt.«

Da rühmten sie ihn mit leisen Worten als einen tapferen Gefährten, gaben ihm einen Spaten in die Hand und erzählten ihm, wie es dort zugehe und wie er sich verhalten sollte, damit er als einer der Ihrigen gelte.

»Und was tut er mit euch?« fragte der Knabe. »Weshalb hält er euch hier?«

»Er braucht uns zur Arbeit«, erwiderten sie, »und soweit geht es uns nicht schlecht. Aber in jedem Jahr wählt er eines von uns aus und wirft es seiner Riesenspinne zur Speise vor.«

Und wie sie das gesagt hatten, erzitterten sie, als habe ein kalter Wind sie berührt, und ihre Augen gingen umher wie die Augen entsetzter Vögel, vor denen die Schlange aufsteht.

»Seid nur ohne Angst«, sagte der Knabe. »Es wird alles wieder gut werden, und vergeßt nicht, daß ich den Wunderbaum bei mir habe.«

Aber in seinem Herzen war er doch voller Sorge. Und nur wenn er an die silberne Kapsel dachte, kam ihm seine Zuversicht wieder.

Als es dämmerte, luden die anderen sich ihre Tragkörbe auf den Rücken, in denen sie Blumen und Früchte in den Palast zu scharren hatten, und auch er hing sich seinen Korb über, nachdem die anderen den Wunderbaum mit Blumen zugedeckt hatten, daß man nichts von ihm sah.

Der alte Mann mit dem weißen Bart stand in der Halle neben der Tür, und da es schon dämmerte, gelangte der Knabe unangefochten mit den anderen hinein, saß mit ihnen an einer langen Tafel, aß und trank und schlüpfte unentdeckt in eine der großen Schlafkammern, wo einer seiner Gefährten das Lager mit ihm teilte. Den Baum verbargen sie unter den Gartengeräten in der dunkelsten Ecke, wo große Spinnennetze von der Decke herunterhingen.

So blieb der Knabe unbemerkt unter den anderen, ging mit ihnen zur Arbeit, aß und schlief mit ihnen und sann Tag und Nacht, wie er dem Zauberer beikommen könnte.

Eines Nachts versuchte er, sich heimlich zu seinem Schlafgemach zu schleichen, aber in jedem der sieben Gänge, die zu dem kleinen Raum führten, richtete sich drohend und lautlos eine der sieben Riesenspinnen auf, und er sah, wie die bösen Augen in der Dunkelheit gleich faulem Holze schimmerten.

Da wartete er geduldig, bis der Zauberer eines Morgens wieder zum Markte zog, einen gefüllten Tragkorb auf dem Rücken und eine kunstvolle Flöte in der Hand, auf der er eine zauberhafte Weise zu spielen begann, als er den Garten verließ. Und gleich hinter ihm krochen die sieben Spinnen auf hohen Beinen über das Gras und legten sich vor die sieben erzenen Tore, die aus der Mauer herausführten.

Da zitterten die Kinder bei ihrer Arbeit wie Espenlaub. Der Knabe aber kehrte in das Schloß zurück, ging in die Waffenkammer und holte sich das schärfste Schwert von der Wand. Das schliff er lange und sorgfältig an dem großen Schleifstein, der am Brunnen stand, und dann nahm er seinen Wunderbaum in die linke Hand und das Schwert in die rechte und ging damit zu dem ersten der Tore.

Und kaum hatte die Spinne ihre schrecklichen Glieder aufgerichtet und ihre furchtbaren Zangen bereit gemacht, da drückte er auf die verborgene Feder, und der ganze Garten füllte sich sogleich mit Glockenspiel und Gesang, so daß die Vögel ringsum verstummten und die gefangenen Kinder ihr Werkzeug ruhen ließen und wie im Traume lauschten.

Die Spinne aber begann sich langsam nach der Melodie zu drehen, und dann schneller und immer schneller, bis sie wie ein grauer Kreisel um ihre Achse kreiste, so schnell, daß man keines ihrer Glieder sah, nur eine runde Kugel, in der das Kreuz zwei dunklen Linien glich.

Da nahm der Knabe die scharfe Klinge in die rechte Hand, betete zu seiner toten Mutter und hieb mit einem einzigen Schlage das graue Ungeheuer mitten durch, so daß die beiden Teile auf den Rasen fielen und das dicke rote Blut über die Grashalme schoß.

Da schrien die Kinder auf, und die Vögel in den Bäumen schrien auf, und die Springbrunnen rauschten noch einmal so hell, und der Knabe wischte langsam das Blut von der Klinge, nahm seinen singenden Baum und ging zum nächsten Tor.

Und als er die sieben schrecklichen Tiere getötet hatte, jubelten alle Kinder und Vögel in dem großen Garten und meinten, daß nun alle Not ein Ende habe. Aber der Knabe wußte, daß das Schwerste noch vor ihm liege, ging zum Strom, der den Garten an einem Ende begrenzte, saß am Ufer nieder, hielt die Klinge in das Wasser, damit das Blut von ihr fortgehe, und sann, was nun zu tun sei.

Und wie er so saß und bedachte, daß es nicht recht sein würde, den alten Mann um der Kapsel willen zu töten, da sie ja einen Handel abgeschlossen hatten, tauchte der breite Kopf des Fisches wieder aus der Flut, und der feuchte Mund öffnete sich und sprach: »So bist du furchtlos und tapfer gewesen, und das ist recht. Aber weißt du nun, was jetzt zu tun ist?«

Der Knabe wußte es nicht.

»Willst du ihn töten?«

Nein, das wollte der Knabe nicht, nicht um der Kapsel willen.

»Auch das ist recht«, sagte der Fisch, »und nun höre mir zu. An dem Hinterleib jeder der Spinnen wirst du einen Tropfen finden. Den berühre vorsichtig mit der Hand und ziehe einen langen Faden daraus. Und diese sieben Fäden binde heute nacht über das Lager des alten Mannes, so daß er Arme und Beine nicht rühren kann. Und dann nimm ihm die Kapsel vom Halse. Aber hüte dich, daß du kein Wort dabei sprichst, sonst bist du verloren.«

Da bedankte sich der Knabe sehr, und der Fisch versank wieder in der Tiefe.

Als der Knabe die Fäden gesammelt hatte, wie es ihm befohlen war, rief er alle Kinder zusammen, ließ sie die toten Körper vergraben und ermahnte sie, dem Zauberer zu erzählen, daß die Spinnen alle den Garten verlassen hätten, weil im Walde eine herrliche Melodie aus Glocken und Vogelstimmen zu hören gewesen sei. Und bis zum Abend seien sie nicht wiedergekommen.

Dann ging er in das Schlafgemach des Zauberers, prägte sich alles so ein, daß er im Dunklen keinen Fehltritt tun konnte, und wartete dann ruhig, daß der Tag zu Ende ging.

Am Abend kam der Alte wieder, führte an jeder Hand ein Kind und fragte sofort, wo seine Wächter seien. Die Kinder antworteten, wie der Knabe es ihnen gesagt hatte.

Da wurde er zornig, und sein Bart zitterte auf seiner Brust. Er ging noch einmal in den Wald, blies auf seiner Flöte, aber als er nichts fand, kehrte er wieder zurück. »Das ist der Bursche mit meinem Wunderbaum«, sagte er böse, »und morgen sollt ihr zusehen, wie ihm das Blut ausgesogen wird.«

Dann schickte er die Kinder schlafen, und so zornig war er, daß er ihnen weder Speise noch Trank reichte. Die Kinder zitterten vor Angst, aber der Knabe hieß sie sich niederlegen und schlafen. Er wollte wachen und zusehen, daß ihnen kein Leid geschehe.

Um Mitternacht aber stand er leise auf und schlich sich durch einen der unbewachten Gänge an das Lager des Alten. Ein kleines Nachtlicht brannte in einer Kugel aus Rubin, und in seinem rötlichen Licht erblickte der Knabe die feine silberne Kette, an der die Kapsel hing. Da faßte er sich ein Herz und knüpfte die sieben Fäden lautlos über das Lager, und er achtete wohl darauf, daß die Arme wie die Beine des Zauberers sich nicht bewegen konnten. Dann nahm er mit der zitternden Hand die silberne Kapsel und riß mit einem Ruck die dünne Kette entzwei. Er führte das geliebte Vermächtnis an die Lippen, und wie er das kühle Metall berührte, verging ihm alle Furcht, und er sah dem Zauberer ruhig in die aufgeschlagenen Augen.

Der alte Mann riß an seinen Fesseln, daß sein Lager in allen Fugen krachte, aber die dünnen Fäden hielten ihn wie mit Stahlklammern, und endlich gab er es auf. »Du warst diesmal der Klügere«, sagte er mit falscher Freundlichkeit, »aber wollen wir nicht einen neuen Handel schließen, damit du noch etwas Schöneres gewinnst?«

Schon wollte der Knabe den Mund öffnen, aber dann entsann er sich der Warnung des Fisches, schüttelte nur stumm den Kopf und verließ das Gemach.

Am Morgen weckte er die Kinder und führte sie in die große Speisehalle, und da lag auf jedem Platz ein großes, frisches, goldfarbenes Brot. Da war nun der Knabe erst von Herzen glücklich, weil das Vermächtnis seiner Mutter wieder die alte Kraft gewonnen hatte, und er erzählte den Kindern, was in der Nacht geschehen war, und hieß sie sich zum Aufbruch rüsten.

Dann holte er den Wunderbaum aus seinem Versteck hervor und trug ihn in die Schlafkammer des Zauberers. Der lag immer noch auf seinem Lager, und seine Augen funkelten so böse wie die der Spinnen. »Hast du es dir überlegt?« fragte er drohend.

Der Knabe stand still und sah ihn lange an. »Daß du alt bist, dauert mich«, sagte er dann. »Aber daß du böse bist, hat viele Kinder gedauert, und damit soll es nun zu Ende sein. Und damit dein letztes Stündlein dir leichter wird, lasse ich dir deinen Baum hier. Mit Trug und Zauberwerk hast du gelebt, so ist es auch recht, daß du damit zugrunde gehst.«

Und er drückte auf die verborgene Feder und sah noch einmal zu, wie die goldenen Kugeln und Sterne kreisten und die winzigen Vögel ihre Schnäbel öffneten.

Und dann zogen sie aus, viele Kinder und viele Vögel. Der schmale Waldpfad war von ihnen erfüllt, und der Wald klang wieder von den fröhlichen Liedern, die sie aus tiefstem Herzen sangen.

* * *


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