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Der goldene Vogel

Ein König hatte drei Söhne, von denen war der erste ein großer Krieger und der zweite ein großer Gelehrter und der jüngste nur ein fröhliches Kind, so liebreich und gut, daß alle Menschen ihm hold sein mußten. Und da der König alt und kränklich war, so hatte er mit seinen Großen gemeint, daß die beiden Ältesten das Reich zusammen erben sollten. Der Jüngste aber sollte das schönste und lieblichste der Fürstentümer bekommen, damit er nicht zuviele Sorgen hätte und in Fröhlichkeit leben könnte.

Und die Söhne waren es wohl zufrieden.

Bald darauf aber wurde der König sehr krank, und es überfiel ihn eine große Traurigkeit, von der niemand wußte, wo sie herkomme. Die Weisen und Sterndeuter wurden gerufen und rieten hin und her, aber zuletzt schüttelten sie doch nur die Köpfe und wußten es nicht.

Schließlich wurde ein alter Schäfer gerufen, der weithin im Reiche berühmt war wegen seiner Weissagungen, und obwohl die Gelehrten ihn verspotteten, wollte der König ihn doch sehen, weil er niemanden gering achtete.

So kam er eines Abends mit seinem langen Stab in den Palast, ging still über die glänzenden Stufen, und wenn sich Lachen und Spott erhoben, richtete er nur seine hellblauen Augen auf die Spötter, und gleich wurden sie still und beschämt, so sehr waren sie betroffen von der Gewalt, die von seinem alten Antlitz ausging.

Dann saß er schweigend am Lager des Königs, die Hände um seinen Stab gefaltet, und das einzige, was er zunächst tat, war, daß er alle Fenster des großen Gemachs weit öffnete, damit die weiche Abendluft hereinkönne.

»Muß ich sterben, Schäfer?« fragte der König.

»So fragen die Lämmer, wenn der Wolf kommt, Herr König«, erwiderte der Schäfer, »aber ich sehe keinen Wolf.«

»Was siehst du, Schäfer?«

»Ich sehe, daß Schwert und Pergament nicht das Höchste auf dieser Erde sind, sondern ein reines und gutes Herz.«

»Und was siehst du noch, Schäfer?«

»Ich sehe, daß du traurig bist, Herr König.«

»Aber weshalb bin ich traurig? Habe ich nicht alles, was das Herz begehrt?«

»Wenig wissen wir von unserem Herzen, Herr König, und Traurigkeit steigt aus der Erde wie Nebel aus dem Moor.«

»Und kannst du mir helfen, Schäfer? Ich will dich reich belohnen.«

»Womit könntest du mich belohnen, Herr König?« sagte der Schäfer. »Kannst du mir Besseres geben als Brot und Wasser und ein warmes Gewand? Aber morgen um diese Stunde sollst du an diesem Fenster sitzen und über deine Gärten blicken. Vielleicht, daß ich dir Botschaft sende.«

Und damit erhob er sich, neigte sich vor dem König und sagte, daß er nun nicht mehr kommen werde, da seine Füße alt seien und es ihm keine Freude mache, die Gesichter zu sehen, die auf den Treppen und in den Sälen wären.

»Ich will befehlen, daß sie sich bis auf die Erde vor dir neigen«, sagte der König, denn ein großer Trost ging von dem Schäfer aus und linderte seine Schmerzen.

Aber der Schäfer setzte schon seinen Stab auf die Schwelle. »Du kannst befehlen, Herr König«, sagte er, »daß sich Gesichter neigen, aber du kannst nicht befehlen, daß sich Herzen neigen. Königsmacht ist nicht Allmacht, Herr König. Und nun gehab' dich wohl!«

Der König lag noch lange wach mit seinen Gedanken, und es war ihm, als hätte der Schäfer ihm ein Stück seiner Traurigkeit fortgenommen, obwohl er nicht einmal die Hand auf ihn gelegt hatte. Und als die Großen des Reiches noch einmal in sein Gemach kamen, um ihm ihre Ehrfurcht und Teilnahme zu erweisen, schickte er sie mit einer Handbewegung wieder fort. Und als er einschlief, freute er sich schon auf den nächsten Abend, weil ihm eine Botschaft versprochen worden war.

Als der Abend gekommen war, ließ er sich einen weichen Stuhl an eines der Fenster setzen und saß nun dort, eine Decke um die Knie und den Kopf in die Hand gestützt. Zum ersten Male vielleicht sah er, wie schön seine Gärten waren, die Schatten der alten Bäume auf dem grünen Rasen, die Rosen, die in allen Farben blühten, und die silbernen Strahlen der Springbrunnen, in denen die untergehende Sonne einen Regenbogen erschuf. Und wieder kam die Traurigkeit, von der nur der Schäfer gewußt hatte, daß sie wie Nebel aus dem Moore steige.

Plötzlich aber, wie die Wehmut immer tiefer sein Herz beschattete, vernahm er aus den Gärten vor dem Fenster eine wunderbare Stimme, das Lied eines Vogels, aber unendlich schöner, als er es jemals gehört hatte. Es war vielleicht dem Lied der Amsel zu vergleichen, aber es war so aller Süße voll, daß der König mit der Hand nach seinem Herzen greifen mußte. Niemals in seinem ganzen langen Leben hatte er etwas Ähnliches vernommen, und es schien ihm, als sähe er bei den Klängen des Liedes die Tautropfen von den Bäumen fallen, so ergreifend war die Gewalt der wenigen Töne.

Er richtete sich in seinem Sessel auf, ganz ohne Schmerzen, und blickte hinaus. Und wie seine Augen von Baum zu Baum glitten, sah er im Wipfel einer der alten Platanen einen goldenen Vogel sitzen, so groß wie eine Amsel, und er sah, wie die goldene Kehle sich unter den Tönen leise bewegte. Und es war ihm, als werde die süße Stimme nun wie eine Menschenstimme und als sänge sie immer nur die beiden Worte: »Ein Kinderherz ,... ein Kinderherz ,...«

Da legte er die Hände vor die Augen, um nur lauschen zu können, und er fühlte, wie seine Traurigkeit von ihm abfiel, wie Nebel unter der Sonne fallen. »Der Schäfer«, dachte er, »der gute Schäfer ,...«

Aber wie er es dachte, hörte er viele Schritte unter seinen Fenstern, und das Lied hörte auf, und ehe er noch den Mund öffnen konnte, sah er einen Pfeil zu dem Gipfel der Platane steigen, der verfehlte sein Ziel. Aber der goldene Vogel hob sich aus dem grünen Wipfel auf und flog über die Gärten dahin, immer weiter ins Abendrot hinein, und dann war er nicht mehr zu sehen.

Da fiel der König in seinen Sessel zurück, und sein Herz tat ihm weh vor Kummer und Leid. Er ließ den Schützen vor sich bringen und sagte: »Was hattest du davon, einen Vogel zu töten, dessen Stimme aus dem Paradiese zu uns kam?«

»Er war von Gold, Herr König«, antwortete der Höfling beschämt.

»Und was von Gold ist, darnach müßt ihr eure schmutzigen Hände ausstrecken«, sagte der König bitter. »Geh mir aus den Augen, Elender, und daß ich dich nie mehr in diesem Hause sehe!«

Darnach wurde der König viel kränker und trauriger als zuvor, und jeden Abend ließ er sich ans Fenster tragen und lauschte in seine Gärten hinaus. Aber der goldene Vogel war nicht mehr zu hören.

Noch einmal schickte er nach dem Schäfer, aber dieser schüttelte nur den weißen Kopf. »Sagt dem Herrn König«, sagte er, »Verlorenes müsse man suchen.«

Da ließ der König nach einer Frist von ein paar Wochen seinen ältesten Sohn zu sich kommen und sagte: »Lieber Sohn, du siehst, daß ich krank bin und daß mein Herz und mein Leib sich nach dem Liede sehnen, das jener Tor mit seinem Pfeil vertrieben hat. Möchtest du nun wohl ausziehen, um den Vogel wiederzufinden und ihn mir zu bringen, damit ich noch einmal genese und mich an dieser schönen Erde erfreue? Dich aber habe ich gewählt, weil ich meine, daß ein Kriegsmann der Mächtigste über alle Kreatur ist, sei es nun ein eiserner Panzer oder ein goldenes Federkleid.«

Da verneigte sich der Sohn, obwohl es ihm töricht und unwürdig schien, als ein Krieger auf die Vogeljagd zu gehen, und gelobte, keine Mühe zu scheuen, dem Herrn Vater das gewünschte Kleinod zu verschaffen.

Und nachdem alles für ihn auf das beste gerüstet worden war, Pferde und Diener, Waffen und Nahrung, machte er sich eines Morgens auf wie zu einem Heerzug, und die Trompeten schmetterten noch, als die Staubwolke schon weit hinter der Stadt über der Heide stand.

Alles Volk war froh in der Stadt, weil es wußte, daß er kühn und furchtlos war, und nur die alte Kinderfrau des Königs saß auf ihrer Schwelle, schüttelte den Kopf und sagte: »Es ist noch niemand mit Eisenschuhen ins Paradies gekommen.«

Aber da sie uralt und wunderlich war, so achtete niemand ihrer Rede.

Der Königssohn aber zog mit seinen Dienern immer weiter nach Westen, wohin der goldene Vogel verschwunden war, und da er immer hier und da einen fand, der das Wunder gesehen hatte, so meinte er sich auf dem rechten Wege, war guter Dinge und hatte keinen Zweifel, daß es ihm gelingen würde.

Am Ende des ersten Monats überholte er eines Abends mit seinen Dienern einen alten Mann, der trug einen Sack auf dem Rücken, war arm und barfuß und trat zur Seite, als der Königssohn vorüberritt. »Seid barmherzig, junger Herr«, sagte er, »und laßt mich den Sack eine Weile auf Euer Pferd legen und mich daneben gehen, denn ich bin alt und meine Enkelkinder warten auf Mehl.«

Der Königssohn blickte hochmütig von seinem Sattel herunter. »Dein Haar ist weiß, mein Freund«, sagte er, »aber dein Mund ist nicht weise. Hast du schon einmal einen Königssohn mit einem Sack Mehl hinter sich reiten sehen?«

»Ich habe schon manchen König gesehen«, erwiderte der alte Mann, »der seine Krone dafür gegeben haben würde, ein Brot hinter sich zu haben. Sieh nur zu, daß es dir nicht ebenso ergeht. Ein hartes Herz gewinnt nicht weiche Speise.«

Der Königssohn wollte sein Roß gegen den Mann spornen, aber ein dichter Nebel stand plötzlich auf, und nichts war zu sehen als Wacholderbüsche und eine dürre Heide.

Die Diener waren bedrückt, aber der Königssohn lachte sie aus, und bald hatten sie den alten Mann vergessen.

Am Ende des zweiten Monats nun überholten sie eines Abends eine alte Frau, die zog ein Lamm hinter sich her, und beide waren müde und bestaubt wie nach einem langen Weg.

Auch die Frau trat zur Seite. »Seid barmherzig, junger Herr«, sagte sie, »und nehmt das Lamm für eine Weile an Euer Herz. Denn es ist müder als ich, und ich will solange im Staube nebenhergehen.«

Der Königssohn blickte voll Hochmut hernieder und wies der Frau seine Hand, die mit weichem Leder bedeckt war. »Dein Haar ist weiß, gute Frau«, sagte er, »aber dein Verstand ist der eines Kindes. Hast du schon einmal einen Königssohn mit einem Lamm an seinem Herzen reiten sehen?«

»Du sprichst wahr«, sagte die alte Frau. »Wohl habe ich manchen König mit einer Schlange am Herzen reiten sehen, aber das andere noch nicht. Sieh nur zu, daß es dir nicht ebenso ergeht. Eine behandschuhte Hand hat noch keine Tränen getrocknet.«

Da wurde der Königssohn zornig und wollte auf sie zureiten, aber ein dichter Nebel stand plötzlich auf, und nichts war zu sehen als dunkle Torfhaufen auf einem düsteren Moor.

Da waren die Diener ängstlich und drängten sich dichter zusammen, aber der Königssohn lachte sie aus, und bald hatten sie die alte Frau vergessen.

Am Ende des dritten Monats nun waren sie an die Grenze des dunklen Waldes gekommen, von dem es hieß, daß er die Heimat des goldenen Vogels sei, und sie sahen ihre Waffen nach, als ginge es darum, einen Riesen zu fangen statt eines kleinen, wehrlosen Tieres.

Am Waldrande fanden sie eine Hütte und vor der Schwelle ein Mädchen, das war noch fast ein Kind, aber lieblich anzusehen, das spann an einem alten Rocken und sah nicht auf, bis der Königssohn es anredete und nach dem Weg fragte.

Da hielt es mit der Arbeit inne, schlug die blauen Augen zu dem Königssohn auf und sagte: »Ich will euch den Weg wohl weisen, aber zuerst mußt du den Faden zu Ende spinnen, während ich mich bereit mache. Es ist nicht schwer und dauert nur eine kleine Weile.«

Da lachte der Königssohn, und die Diener lachten, und der Prinz zog im Spiel sein Schwert und durchschnitt mit der scharfen Schneide den Faden. »Dies ist die Art, wie Königssöhne zu spinnen pflegen«, sagte er, »und eine andere Art kenne ich nicht.«

Das Mädchen aber stand auf, schob das Spinnrad zur Seite und sagte: »So ist es traurig für dich, denn mit diesem Faden hättest du dem goldenen Vogel die Schwingen gebunden und ihn heimgetragen zu deinem kranken Vater. Und nun kehrt nur um, denn eher wird dein Pferd sich in ein Lamm verwandeln, als daß du den goldenen Vogel erwirbst.«

Und als sie es gesagt hatte, verschwanden die Hütte und das Spinnrad und sie selbst, und nur eine kleine Wiesenmulde blieb zurück, mit blühenden Lilien gefüllt wie ein Königsgarten.

Da waren die Diener voller Angst und wollten umkehren, aber der Königssohn lachte noch immer, und so ritten sie in den dunklen Wald.

Und wie sie eine Weile geritten waren, hörten sie vor sich die süße Stimme des goldenen Vogels und schrien alle auf vor Freude und erblickten ihn im Wipfel einer alten Eiche, wo er in der Sonne saß und sang. Aber wie sie nun näher kamen, verfinsterte sich plötzlich der Wald wie unter einer schweren Wolke, und von Baum zu Baum spannen sich mit einem Mal Spinnenfäden, die wurden immer dichter und dichter, und obwohl sie alle ihre Schwerter zogen und die Fäden zerhieben, wuchsen doch aus jedem zerrissenen Tausende von neuen, also daß die Pferde strauchelten und sich bäumten und sie sie zurückreißen mußten, um nicht erstickt zu werden.

Und immer noch bewegte sich die goldene Kehle in dem hohen Eichenwipfel, und es war ihnen nun allen, als sei die süße Stimme eine Menschenstimme und als singe sie nichts als die beiden Worte: »Ein Kinderherz ,... ein Kinderherz ,...«

Und es war ihnen, als sähen sie im Schatten der Bäume den alten Mann mit dem Sack auf dem Rücken, und die alte Frau mit dem Lamm, und das Mädchen mit dem Spinnrocken, und als bewegte jedes seine rechte Hand wie ein Sämann und als säten sie nichts als Spinnfäden durch den ganzen Wald.

Da graute es sie, und der Königssohn riß mit einem Fluch sein Pferd herum und jagte davon, von seinen Dienern gefolgt, und lange noch hörten sie hinter sich das süße Lied des goldenen Vogels aus den Eichen.

Darnach aber verirrten sie sich viel Tage lang in einer weglosen Wildnis, die Nahrung ging ihnen aus, und alles Tier des Waldes floh vor ihnen. Aber eines Morgens, als sie nach ihren Pferden sahen, erblickte jeder von ihnen hinter dem Sattel ein goldglänzendes Brot. Da schrien sie auf und streckten die Hände aus, aber es fiel ihnen aus der Hand, so schwer war es, und als sie es anschneiden wollten, zerbrachen ihre Klingen, denn es war aus Stein.

Da erinnerten sie sich des alten Mannes und bereuten bitterlich ihren Hochmut.

Am nächsten Tag aber hörten sie ein junges Lamm traurig blöken im Gebüsch, das erwartete sie ganz still, aber als der Königssohn es aufhob und bedachte, wie er es am schnellsten schlachten könnte, verwandelte es sich in eine Schlange, die nach seinem Herzen züngelte, und er schleuderte sie weit fort.

Da erinnerten sie sich der alten Frau und verzweifelten daran, jemals wieder nach Hause zu kommen.

Doch kamen sie endlich aus der Wildnis heraus, fanden mildtätige Hirten und langten nach drei Monaten wie ein geschlagener Heerhaufen in der Königsstadt an.

Der Königssohn aber verbot ihnen auf das strengste, von ihren Abenteuern zu sprechen, und so hieß es nur, daß sie den Vogel nicht gefunden hätten und lange in die Irre geritten wären.

Da war der alte König noch trauriger als bisher und ließ seinen zweiten Sohn kommen und sprach zu ihm: »Lieber Sohn, du hast gehört, daß dein Bruder kein Glück gehabt hat, und du siehst, daß ich krank und traurig bin. Möchtest du nun wohl ausziehen, um den Vogel zu finden, damit ich noch einmal genese und mich an dieser schönen Erde erfreue? Und vielleicht ist es so, daß ein Gelehrter mächtiger über alle Kreatur ist als ein Kriegsmann und daß mit Klugheit gelingt, was mit Tapferkeit nicht gelungen ist.«

Da verneigte sich der Sohn, obwohl es ihm töricht und unwürdig schien, als ein Gelehrter auf die Vogeljagd zu gehen, und gelobte, keine Mühe zu scheuen, dem Herrn Vater zu neuer Gesundheit zu verhelfen.

Da wurde alles auf das beste für ihn gerüstet, eine goldene Sänfte, in der Sklaven ihn tragen sollten, und viele Pergamentrollen mit alten Weistümern und ehrwürdige Instrumente, um den Lauf der Sterne zu bestimmen. Und als er sich eines Morgens mit Dienern und Sklaven aufmachte, sah es aus, als zögen sie aus, eine versunkene Stadt auszugraben.

Der älteste der Brüder stand daneben und war unentschlossen in seinem Herzen, ob er den Bruder warnen solle. »Möchtest du denn nicht wissen, wie es mir ergangen ist?« fragte er endlich.

Aber der gelehrte Bruder hob nur nachsichtig seine Hand. »Hier ist alles verzeichnet«, sagte er, und deutete auf die Pergamentrollen. »Ich danke dir, lieber Bruder, aber ich glaube, daß ich keines Rates bedarf.«

Das Volk jubelte der Karawane zu, und nur die alte Kinderfrau schüttelte wieder den Kopf und sagte: »Es hat noch niemand mit Pergamenten das ewige Leben gewonnen.«

Aber niemand achtete ihrer Rede.

Die Karawane zog fröhlich und gemächlich dahin, und der Königssohn trug alle Ereignisse und Landschaften und Sonnenschein und Regen sorgfältig in seine Pergamentrollen ein.

Auch er überholte am Ende des ersten Monats einen alten Mann, der stand am Wegrande und blickte bekümmert in die untergehende Sonne. »Ach, junger Herr«, sagte er und wandte sich um, »möchtest du mir wohl sagen, weshalb die Sonne jeden Abend an einem anderen Ort untergeht? Heute hinter diesem Wacholderbusch und morgen eine Handbreite weiter rechts? Und im Winter wieder umgekehrt?«

Da lächelte der Königssohn und sagte: »Da würde ich viel zu tun haben, wenn ich jedem Schäfer und Köhler die Gesetze des Himmels erklären sollte. Und dein Kopf sieht mir nicht so aus, als würdest du viel davon verstehen. Störe mich also nicht mehr in meinen großen Gedanken.«

»Ich weiß nicht, junger Herr«, sagte der Mann, »ob du große Gedanken hast, aber vergiß doch nicht, daß ein freundliches Herz manchmal besser ist als große Gedanken.«

Da wurde der Königssohn zornig, aber bevor er ein Wort sagen konnte, verhüllte die Landschaft sich unter einem dichten Nebel, und die ganze Nacht irrte die Karawane fluchend und jammernd zwischen Torflöchern und Binsenwäldern umher, bis die aufgehende Sonne sie erlöste.

Und wieder nach einem Monat trafen sie eine alte Frau, die saß am Wege und strickte an einem Strumpf aus Schafwolle. Und als die Sänfte vorbeigetragen wurde, sagte sie: »Ach, junger Herr, ich sehe, daß du ein großer Gelehrter bist, und bitte dich sehr, mir zu sagen, wieviel Maschen dieser Strumpf haben muß, damit er meinem Enkelkind bis an die Knie reicht. Und mein Enkelkind ist zehn Jahre alt.«

Da lächelte der Königssohn mit milder Verachtung und erwiderte: »Meinst du wohl, gute Alte, daß einer, der die Zahl der Sterne ausrechnet, Zeit genug hat, um die Zahl der Maschen auszurechnen, die an den schmutzigen Fuß eines Hütejungen gehören?«

»Ich weiß nicht, junger Herr«, sagte die Frau, »ob es uns gut tut zu wissen, wieviele Sterne am Himmel stehen. Aber ein König, der sich der kalten Füße eines Hütejungen nicht erbarmt, wird kein guter König geheißen werden in der Nachwelt. Daran denke doch ab und zu!«

»Schafft sie aus dem Wege!« befahl der Königssohn zornig.

Aber als die Diener sie anfassen wollten, erschienen Tausende von kleinen Spinnen, die umwanden ihre Hände und Füße mit weißen Fäden, so daß sie angstvoll und schreiend davonliefen, die Sänfte mit sich rissen und nicht eher anhielten, als bis sie tief in das Moor geraten waren.

Und auch das Mädchen mit dem Spinnrocken trafen sie am Rand des Waldes. »Kehrt nur gleich um«, sagte es, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. »Das Paradies war nie für die Klugen, sondern nur für die kindlichen Herzen. Oder wolltest du mir meine Wolle halten, damit ich sie leichter abwickeln kann?« fragte sie den Königssohn.

Der aber war so tief in seine Pergamentrollen versenkt, daß er das Mädchen weder sah noch hörte. »Vorwärts!« befahl er. »Nach allen Aspekten muß es hier in diesem Walde sein.«

Aber es war noch nicht eine Stunde vergangen, als die Karawane schon wieder aus dem Walde herauskam, von Tausenden von Elstern verfolgt, die wie eine dunkle Wolke auf sie herniederstießen, die Pergamente zerfetzten, die Instrumente durcheinander warfen und den Dienern die Flügel in die Augen schlugen. Und ganz fern hinter allem Lärm war die süße Vogelstimme zu hören, die wie eine Menschenstimme war und nichts als die beiden Worte sang: »Ein Kinderherz ,... ein Kinderherz ,...«

Und wieder nach drei Monaten kam die Karawane traurig und zerstört in der Hauptstadt an, und es hieß, daß sie in die Irre gegangen sei und kein Glück gehabt hätte.

Da wurde der alte König noch trauriger und kränker, und er dachte: »Was hülfe es, wenn ich auch meinen jüngsten Sohn ausschickte, der noch ein Kind ist und dem nicht gelingen kann, was einem Krieger und einem Gelehrten nicht gelungen ist?«

Und er ließ die Vorhänge an seinen Fenstern zuziehen und bereitete sich zum Sterben.

Aber als es schon dunkelte, kam der jüngste Sohn leise auf bloßen Füßen in das Gemach, und er hatte einen Stab in der Hand und ein Bündel über dem Rücken. Und er kniete vor dem Lager nieder und sagte: »Segne mich nun, Herr Vater, denn ich bin gerüstet zu meiner Wanderung, und ich fühle, daß es mir an Glück nicht fehlen wird.«

Da war der König ergriffen in seinem Herzen und sagte: »Mein lieber Sohn, wahrscheinlich habe ich es an vielem fehlen lassen gegen dich und sehe nun, wie gebrechlich unser Herz ist. Keiner deiner Brüder hat um meinen Segen gebeten, und so sollst du nun auch ihren Anteil haben und dreifach gesegnet auf deinen Weg gehen.«

Und er küßte ihn und legte ihm die Hände auf den Scheitel und sah ihm nach, wie er auf seinen bloßen Füßen leise über die Schwelle ging.

Das Volk in den Straßen schüttelte den Kopf, als er ohne Pracht und Glanz sich aufmachte, und meinte, daß nichts Gutes dabei herauskommen könnte. Aber die alte Kinderfrau kam noch spät in das Gemach des Königs, saß eine Weile an seinem Lager und sagte zum Abschied: »Sei nun guten Mutes, lieber Herr, denn der goldene Schlüssel ist immer nur den Demütigen und Liebreichen gegeben worden.«

Der Königssohn aber zog schon längst seine stille Straße, blickte zu der Pracht der Sterne auf und sang leise alle seine Kinderlieder vor sich hin, die in seinem Gedächtnis geblieben waren.

Alle Menschen waren liebreich zu ihm und wiesen ihm den Weg, und die Kinder, mit denen er gespielt hatte, obwohl sie ihm fremd waren, zogen immer noch ein Stück Weges mit ihm und winkten ihm nach, wenn sie endlich zurückgeblieben waren.

Am Ende des ersten Monats aber ging ein alter Mann vor ihm her, der ging langsam und gebückt, weil er einen Sack mit Mehl auf dem Rücken trug. »Das ist viel zu schwer für dich«, sagte der Königssohn. »Laß mich es eine Weile tragen, denn ich bin jung, und es macht mir Spaß, meine Kraft zu erproben.«

»Segen auf dein Haupt, junger Herr«, sagte der Mann, »und möchte dir jede Bürde so leicht sein wie diese.«

Und der Königssohn fühlte mit Erstaunen, daß der Sack so leicht war wie eine Feder. Aber er fragte nicht, und sie gingen schweigend bis zum nächsten Kreuzweg.

Da nahm der Alte den Sack wieder auf seine Schultern, und als der Königssohn den Mehlstaub von seinem Rock wischte, fielen lauter Goldkörner in seine Hand.

»Bewahre sie gut«, sagte der alte Mann, »und vergiß nicht, daß man mit Körnern Vögel lockt.«

Und damit war er verschwunden, als hätte das Moor ihn verschluckt.

Am Ende des zweiten Monats überholte der Königssohn eine alte Frau, die zog ein junges Lamm hinter sich her, und beider Füße waren müde und bluteten.

»Das soll nicht sein«, sagte der Königssohn, »daß ein armes Tier Schmerzen leidet, und ist doch noch so jung.« Und er nahm das Lamm und barg es an seiner Brust, und so gingen sie des Weges weiter.

»Segen auf dein Haupt, junger Herr«, sagte die Frau, »und möchte dein Volk dich so warm am Herzen tragen, wie du mein Lamm trägst!«

Und der Königssohn fühlte mit Erstaunen, daß das Lamm so leicht war wie ein Büschel Wolle. Aber er fragte nicht, und sie gingen schweigend bis zum nächsten Kreuzweg.

Da nahm die Frau das Lamm wieder aus seinen Armen, und als er seinen Rock säuberte, blieben viele Wolleflocken in seinen Händen, und die waren aus lauterem Gold.

»Bewahre sie gut«, sagte die alte Frau, »und wenn du in einen dunklen Wald kommst, so streue sie hinter dich, und du wirst deinen Rückweg finden.«

Und damit war sie verschwunden, als hätte die Heide sich unter ihr aufgetan.

Und am Ende des dritten Monats kam der Königssohn an den Rand des Waldes, und das Mädchen spann noch immer und sagte, ohne aufzublicken: »Möchtest du meinen Faden wohl etwas weiterspinnen, daß ich meine Hände am Brunnen waschen kann?«

»Das will ich gerne tun«, antwortete der Königssohn, »und ich weiß noch wohl, wie meine Mutter spann, ehe sie starb.«

Das Mädchen stand auf und sah ihm freundlich zu, und kaum hatte das Rad sich zu drehen begonnen, als der Faden zwischen den Fingern des Königssohnes sich in Gold verwandelte.

»Ein seltsames Spinnrad hast du da, Mädchen«, sagte er etwas bange.

Aber das Mädchen sah ihm ruhig zu, bis er ein paar Ellen gesponnen hatte. Dann schnitt sie den Faden ab, rollte ihn über ihrer Hand zusammen und reichte ihn dem Königssohn. »Wer Körner streut und Fäden um sie spannt, wird auch das Schönste gewinnen«, sagte sie. »Und nun sei ohne Furcht!«

Der Königssohn machte sich auf in den Wald, der war so dunkel und hoch, wie er noch keinen gesehen hatte. Und gleich zu Beginn warf er die goldenen Flocken der Lammwolle hinter sich, damit er den Weg wieder zurückfinde. Und als er eine Weile gegangen war, hörte er von ferne das süße Vogellied, und das Herz schlug ihm in der Brust, ob es ihm gelingen würde, was seinen Brüdern versagt geblieben war. Er sah, daß sich viele tausend Spinnfäden vor seine Füße legten, aber er berührte sie mit seinem Stab, und sie verschwanden. Auch ganze Scharen von Elstern stießen lärmend aus den Wipfeln auf ihn hernieder, aber er begann seine Kinderlieder zu singen, und da war alles wieder still.

So kam er bis zu einer Lichtung, wo der Tau noch im grünen Moose funkelte, und hier war die Stimme des goldenen Vogels ganz nahe aus den Wipfeln zu hören. Da streute er die Goldkörner in das Moos und legte die Fäden des Mädchens darum und verbarg sich im Gebüsch.

Nach einer Weile ließ der goldene Vogel sich aus den Bäumen herab, flatterte über den Körnern und ließ sich dann auf der Schulter des Königssohnes nieder. »Körner und Fäden mögen gut sein für die Widerwilligen«, sagte er, »aber ich warte lange auf dich, und ich will dir folgen, weil dein Herz rein und gut zu den Armen ist. Sammle nur alles wieder auf, was du verstreut hast, und laß uns heimgehen, ehe es zu spät ist.«

Und so gingen sie miteinander aus dem Walde, und weder das Mädchen noch die alte Frau noch der alte Mann waren wieder zu sehen. Der goldene Vogel sprach nicht mehr, aber wenn der Königssohn müde war, begann er auf seiner Schulter ganz leise sein süßes Lied zu singen, und alle Mühsale und Schmerzen waren vergessen, sobald die goldene Kehle sich bewegte.

Eines Abends faßte der Königssohn sich ein Herz und fragte den Vogel, den er zur Nacht an seinem Herzen hielt: »Kommst du aus dem Paradiese?«

Aber der Vogel sang nur ganz leise sein altes Lied, und der Knabe konnte nichts anderes hören als die Worte: »Ein Kinderherz ,... ein Kinderherz ,...«

So kamen sie nach langen Monaten in der Hauptstadt an, und die erste Dämmerung war schon über den Straßen. Niemand erkannte den Königssohn, denn er war bestaubt und sonnverbrannt, und sein Haar war ihm über die Schultern gewachsen. Er trug den Vogel leise in die Gärten, unter die Fenster des alten Königs, und dort hob er die Hand mit ihm, damit er sich in die Wipfel schwingen könnte. »Leb nun wohl und habe Dank«, sagte er, »und singe für alle Armen und Kranken, daß die Sonne ihnen wieder ins Herz scheine.«

Und der Vogel hob sich auf und kreiste dreimal über dem Haupt des Königssohnes und sagte: »Trage dein Volk so an deinem Herzen, wie du mich getragen hast, dann wird die Sonne den Armen und Kranken nicht untergehen.«

Und ehe der Königssohn noch den Palast erreicht hatte, klang das wunderbare Lied wieder süß und herrlich über die schweigenden Wipfel hin, und die Springbrunnen schienen tiefer aufzurauschen und die Rosen tiefer zu duften in dem Klang der fallenden Töne.

Der Königssohn aber kniete schon neben dem Lager seines Vaters, und der Vater hatte sich aufgerichtet und die Decken von sich geworfen und beide Hände auf sein Herz gelegt. »Mein liebster Sohn«, sagte er, »nun fühle ich wieder, wie alles dahingeht, Traurigkeit und Schmerzen, und wie die Sonne mir wieder in die alten Augen scheint.«

Und er segnete ihn wieder, und sie hörten dem Vogel zu, wie er sang, bis die Sterne über den alten Bäumen aufzogen.

Am nächsten Tage aber versammelte der alte König seine Söhne und die Großen des Reiches und verkündete ihnen seinen Willen. »Ich bin alt genug geworden, um weise zu sein«, sagte er, »und ihr sollt nun meinem Rate folgen. Wer allein auf das Schwert vertraut, ist ein Tor, und wer allein auf Klugheit vertraut, ist ein anderer Tor. Vertraut nun ihr alle auf ein reines Herz, wie der goldene Vogel darauf vertraut hat.«

Und er bat seine beiden ältesten Söhne, von der Herrschaft abzustehen, und setzte die Krone dem Jüngsten auf das Haupt. Und darauf hieß er seine drei Söhne dem Volke erzählen, wie es ihnen auf ihrer Reise ergangen war.

Da wunderte sich das Volk und die beiden älteren Brüder und erkannten die Weisheit des alten Königs, und nur der Gelehrte und Sternforscher legte den Arm um die Schultern des jüngsten Bruders und sagte leise: »Aber hättest du denn gewußt, wieviele Maschen für die Strümpfe des Jungen nötig waren?«

Da lächelte der Jüngste und sagte: »Lieber Bruder, ich hätte es nicht gewußt, aber ich würde den Strumpf selbst gestrickt haben, und dann würden wir es beide gewußt haben, die alte Frau und ich.«

* * *


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