Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18.

Nach dieser kleinen Abschweifung über Natur und Kunst, die uns nicht weit von unserm Wege abgeführt hat, kehren wir zu unserer Geschichte zurück.

Koxkox und Kikequetzel, die (im Vorbeygehen zu sagen) von den alten Mexikanern für ihre Stammältern gehalten wurden, waren nun ein Paar, oder, richtiger zu reden, machten nun ein Ganzes aus, welches aus zwey Hälften bestand, die, von dem Augenblick an da sie sich gefunden hatten, sich so wohl bey einander befanden, daß nichts als eine überlegene Gewalt fähig gewesen wäre sie wieder von einander zu reißen.

Sie hatten einander nie zuvor gesehen; Koxkox wußte so wenig was ein Mädchen als Kikequetzel was ein Knabe war;

Sie stammten aus zwey ganz verschiedenen Völkerschaften ab, welche keine Gemeinschaft mit einander gehabt hatten;

Sogar ihre Sprache war so verschieden, daß sie einander kein Wort verstehen konnten.

Offenbar trugen also diese Umstände nichts dazu bey, daß sie einander auf den ersten Blick so lieb wurden. Die Natur that Alles.

Man kann die Art, wie sie einander ihre Gefühle ausdrückten, nicht wohl eine Sprache nennen, aber sie war beiden so angenehm, daß sie nicht aufhören konnten bis sie mußten. – Auch dieß war Natur, sagt Tlantlaquakapatli.

Ein süßer Schlaf überraschte den ehrlichen Koxkox in den Armen der zärtlichen Kikequetzel. Sie schliefen bis der Morgengesang der Vögel sie weckte. Und da gingen die Liebkosungen von neuem an, bis sie es müde wurden. Pure Natur! ruft Tlantlaquakapatli aus.

Nun sahen sie einander mit so vergnügten Augen an, waren einander so herzlich gewogen, drückten jedes sein Gesicht mit so vieler Empfindung wechselsweise an des andern Brust, daß sogar ein Teufel, der ihnen zugesehen hätte, sich nicht hätte erwehren können Vergnügen darüber zu haben, – sagt Tlantlaquakapatli.

Sie fingen beide an zu hungern. Aber Koxkox war noch immer nicht recht bey sich selbst; er tanzte um das Mädchen herum, sang und jauchzte, machte Burzelbäume, und that zwanzig andre Dinge vor Freude, die nicht klüger waren, als was Ritter Don Quischott auf dem schwarzen Gebirge der Traurigkeit that.

Das Mädchen fühlte kaum daß sie hungerte, als sie dachte es werde dem guten Koxkox auch so seyn. Sie hüpfte davon, suchte Früchte, pflückte Blumen, flog wieder zurück, steckte die Blumen in des Jünglings lockiges Haar, suchte die schönsten Früchte aus, und reichte sie ihm mit einem so lieblichen Lächeln und mit so reitzendem Anstand hin, – wie – Hebe ihrem Herkules die Schale voll Nektar reicht – würde mein Filosof gesagt haben, wenn er ein Dichter und ein Grieche gewesen wäre. Allein da er ein Mexikaner und kein Dichter war, sagte er die Sache ohne Bild, gerade zu; aber mit einer Stärke und Proprietät des Ausdrucks, die ich nicht in unsre Sprache überzutragen vermag, – wiewohl ich gestehe, daß die Schuld eben so leicht an mir als an unsrer Sprache liegen kann.

Meine schönen Leserinnen werden empfunden haben, was für ein Kompliment ihnen Tlantlaquakapatli durch den angeführten Umstand macht. – Doch, ich denke nicht daß es ein Kompliment seyn sollte; es ist wirklich bloße Wahrheit, und einer von den Zügen, welche beweisen, wie gut er die Natur gekannt hat.

Koxkox besann sich nun, daß er eine Grotte hatte, um welche ein kleiner Wald von fruchtbaren Bäumen und Gewächsen einen halben Mond zog. Er führte seine Geliebte dahin. Wie reitzend däuchte ihm jetzt dieser Ort, da er ihn an ihrem Arm betrat! Er fühlte sich kaum vor Freude. Alle Augenblicke überhäufte er sie mit neuen Liebesbezeigungen. Und so schlüpfte den Glücklichen ein Tag nach dem andern vorbey.

Diese Blüthe von Glückseligkeit dauerte – so lange sie konnte, sagt unser Autor. Es war, nachdem sie etliche Wochen beysammen gewesen waren, unmöglich, daß ihnen noch eben so hätte zu Muthe seyn sollen, wie damahls, da sie sich zum ersten Mahl sahen.

Die Freude des Jünglings wurde gelaßner; er konnte sich wieder mit etwas anderm als seinem Mädchen beschäftigen; er schwatzte sogar wieder mit seinem Papagayen; ja, unser Autor sagt, daß es Tage gegeben, wo er vonnöthen gehabt habe, durch die sanften Liebkosungen seiner jungen Freundin aus dieser Schläfrigkeit erweckt zu werden, in welche unsre Seele zu fallen pflegt, wenn wir nicht wissen, was wir mit uns selbst anfangen sollen.

Alles dieß ist in der Natur, sagt Tlantlaquakapatli. Sie liebten sich darum nicht weniger herzlich, weil diese Trunkenheit der ersten Liebe und des ersten Genusses aufgehört hatte. Ihre Liebe zog sich nach und nach aus den Sinnen in das Herz zurück. Das bloße Vergnügen bey einander zu seyn, sich anzusehen, oder Hand in Hand durch Haine und Gefilde zu irren, war ihnen für ganze Tage genug.

Unvermerkt konnten sie auch kleine Entfernungen ertragen; die Freude, wenn sie sich wieder fanden, hielten sie schadlos: sie hatte etwas von dem Entzücken des Augenblicks, da sie sich zum ersten Mahl fanden; ihre Umarmungen waren desto feuriger, je länger die Abwesenheit gedauert hatte.

Aber daß sie sich aus diesen Erfahrungen die allgemeinen Regeln hätten abziehen sollen, welche St. Evremond und Ninon L'Enclos den Liebenden geben, das war ihre Sache noch nicht. Die Natur, der Instinkt, das Herz that alles bey ihnen; die Vernunft beynahe nichts.

Aus dieser Sympathie ihrer Sinne und Herzen, aus der unvergeßlichen Erinnerung, wie glücklich sie einander gemacht hatten, aus dem Vergnügen, welches sie noch immer eines am andern fanden, aus der Gewohnheit mit einander zu leben und sich wechselsweise Hülfe zu leisten – bildete sich (sagt unser Filosof) diese Identifikazion, welche macht, daß wir den geliebten Gegenstand als einen wesentlichen Theil von uns selbst eben so herzlich, aber auch eben so ruhig und mechanisch lieben als uns selbst, und »daß es uns eben so unmöglich wird, uns ohne diesen geliebten Gegenstand als ohne uns selbst zu denken.« – Ein Zustand, der in gewissem Sinne der höchste Grad der Liebe ist, aber natürlicher Weise auch eine gewisse Unvollkommenheit mit sich führt, deren wahre Quelle gemeiniglich mißkannt wird; – nehmlich »daß es in diesem Zustande eben so leicht wird über einem neuen Gegenstand den alten zu vergessen, als wir bey jedem lebhaftern Eindruck äußerlicher Objekte uns selbst zu vergessen pflegen, so lieb wir uns auch haben.«


 << zurück weiter >>