Christoph Martin Wieland
Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit
Christoph Martin Wieland

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10.

Aber hier ist es hohe Zeit zu schweigen! – Denn der Natur heiligen Schleier aufzudecken, in ihr inneres Räderwerk zu schauen und zu zeigen – wie eins ins andre greift, und wie, durch den ewigen Streit und die scheinbare Verwirrung der Theile, das Ganze im Gang erhalten wird; wie alles Übel gut, alles Tod Leben ist, und wie alle die tausendfachen Bewegungen der Dinge, auf und nieder, vorwärts und rückwärts, in koncentrischen und excentrischen Kreisen, am Ende doch nur Eine unmerklich fortrückende Spirallinie machen, die alles ewig dem allgemeinen Mittelpunkt nähert, – dieß ist eine Aufgabe, deren Auflösung ganz andere Organen und einen ganz andern Gesichtskreis als den unsrigen zu erfordern scheint.

Nur Eine oder zwey Anmerkungen mögen mir noch vergönnt seyn, um (wo möglich) Mißverstand zu verhüten; wiewohl ich je länger je mehr lerne, daß man dazu ganz besonders von den Feen begabt seyn müsse.

Meine Absicht ist eben so wenig, unserm Jahrhundert Hohn zu sprechen, als ihm zu schmeicheln. Ich halte es für keines der wirksamsten Mittel, seine Zeitgenossen zu bessern, wenn man ihnen, wie Swift, immer beleidigende Dinge sagt. Aber sie immer zu streicheln und liebzukosen und einzuwiegen und in Schlaf zu singen, taugt auch nichts.

Es ist sehr natürlich, daß ein Mann, der dem Spiele schon eine ziemliche Weile zusieht, wenn er immer mit den Vorzügen unsrer Zeit, und den Vortheilen unsrer Aufklärung, unsrer Verfeinerung, unsrer Weltbürgerey und so weiter klappern hört, und doch nirgends sieht daß es darum besser, wohl aber daß es immer desto schlechter geht: – daß ein solcher einmahl des Klapperns überdrüssig wird und ein Wort sagt, das er (weil es doch zu nichts helfen wird) eben so wohl hätte ungesagt lassen können.

Wenn denn aber gleichwohl (wie das niemand wissen kann) hier oder dort jemand dadurch veranlaßt würde der Sache weiter nachzudenken, die natürlichen Folgen daraus zu ziehen, und auf die nächsten Mittel zu denken, wie ers (wenigstens für seine Person) zu machen hätte, um das Bißchen Menschensinn und Menschenkraft, und Freude an seinen Mitgeschöpfen und sich selbst, und Glauben und Liebe, Wahrheit und Treue, womit ihn Gott in die Welt ausgesteuert, so viel er noch davon übrig hätte, aus diesem großen Getümmel, Zusammenlauf und Jahrmarkte der Welt glücklich davon zu bringen, und in der Stille seines häuslichen Lebens, zu seinem und der Seinigen Nutzen und Frommen anzulegen: – das wäre denn gleichwohl auch so übel nicht!

Ich genieße dankbarlich alles Gute was uns Künste und Wissenschaften gewähren; wärme mich zuweilen an ihrem Feuer, wenn mir vielleicht besser wäre ins Freye hinaus zu gehen, und mir durch tüchtige Bewegung warm zu machen; und lasse mir oft ihre Laterne leuchten, ohne gewahr zu werden daß es heller Tag ist – wie es vielen unter euch, lieben Freunde, wohl auch gegangen seyn wird.

Insonderheit habe ich immer große Hochachtung für die goldnen Jahrhunderte der Musen und Künste gehabt, zumahl für das erste – vielleicht deßwegen, weil wirs doch meistens nur vom Hörensagen kennen. Mich dünkt, auf der ganzen Leiter, worauf ich die Menschenkinder (wie Jakob dort die Engel in seinen Traum) ewig auf und niedersteigen sehe, sind nur zwey Stufen, wo sie zu ihrem Vortheil in die Augen fallen. Die eine ist der Zeitpunkt, wo ein Volk viel freye, edle, gute Menschen, und die besten unter ihnen an seiner Spitze hat; die andre der, wo es Künstler hat, die den Geist der heiligen Götter empfangen haben, um die Bilder der großen Menschen, die nicht mehr sind, aus Marmor und Elfenbein zu schnitzen, und den Göttern, an die man nicht mehr glaubt, schöne Tempel aufzubauen, und die Thaten der Helden, die niemand mehr thun kann, oder, wenn er könnte, nicht thun darf, in schönen Schauspielen, zu großer Leibes- und Gemüthsergetzung ihrer Mitbürger und hoher Herrschaften, vorzustellen.

Es ließe sich, wenns nöthig wäre, der acht und zwanzigste Theil zu den sieben und zwanzig Folianten des Alfons Tostat darüber schreiben, wie viel artige Vortheile, Zeitvertreib, Stoff zu Gesprächen in Gesellschaften und im Vorzimmer, Stoff zu Theorien, Kritiken, Recensionen, Epigrammen, Parodien und so weiter, wie viel Gelegenheit zu tausenderley neuen Beschäftigungen, Gewerben, Karaktern, Narrheiten, und folglich wieder zu neuen Schauspielen, neuen Kritiken, Apologien und so weiter, die verfeinerte Welt ganz allein diesen schönen Künsten zu danken hat.

Alles dieß sehe ich, und bin weit entfernt, die Summe aller dieser Vortheile nicht gerade so viel gelten zu lassen als sie beträgt. Aber gleichwohl wird es mir erlaubt seyn zu sagen, daß ein Held mehr werth ist als sein Bild, eine große That mehr als ein Schauspiel, oder als eine Abhandlung über ihre Moralität und Verdienstlichkeit; kurz, daß die Zeit des Seyns vor der Zeit des Nachahmens, das ist die Zeit der Natur vor der Zeit der Kunst – einen gewissen Vorzug hat, den man ihr nicht absprechen kann.

Noch wird es nicht schaden, mich über den Vorzug, den ich der Stärke und Realität vor Feinheit und Anstrich gebe, mit etlichen Worten zu erklären. Mein Glaubensbekenntniß über Materie und Form ist dieses. Wenn ein roher Klumpen – Gold ist, so benimmt ihm freylich seine Ungestalt nichts von seinem Werthe; aber doch ist der Klumpen nicht eher brauchbar bis er eine Form hat. Ein goldenes Gefäß ist desto mehr werth, je mehr es Masse hat; und da die Form, bey gleich viel Masse, schön oder häßlich seyn kann, so sehe ich nicht, was eine schöne Form seinem innern Werth schaden könnte: indessen ist richtig, daß es auch mit der schlechtesten Form immer seinen innern Werth behält. Ein Stück Thon hingegen, oder ein Klümpchen gekäut Papier, da es nur durch Form und Faßon einigen Werth bekommt, kann nicht schön genug gearbeitet, gemahlt und gefirnißt seyn. Eben so kann ein großer, edler, verdienstvoller Mann einer gewissen Politur entbehren, und verlöre vielleicht durch sie; aber ein Bengel, der, um Anspruch an Verdienst zu machen, keinen andern Titel als seine Knochen, seine Nasenwurzel und seine Grobheit hat, muß im Kreise der Lastträger bleiben, wenn sein Verdienst erkannt werden soll.

Eine Schöne und eine Häßliche haben beide gleich viel Ursache gekleidet zu seyn; jene um ihre Reitzungen, diese um ihre Mängel zu verbergen. Die Nacktheit der Schönen würde eine Weile Augenweide seyn, aber bald sättigen und ermüden; mit Lumpen behangen und mit Schmutz bedeckt, würde sie ekelhaft werden. Venus selbst mußte von den Grazien angekleidet und geschmückt werden; – ein Bild, worein die Griechen eine große Wahrheit hüllten. Auch die kunstlosesten Töchter der rohen Natur fühlen dieß und haben ihre Grazien. Wer nichts darnach fragt ob er gefällt oder mißfällt, kann es halten wie er will: aber wer gefallen möchte und empfindlich darüber ist wenn es ihm fehl schlägt, hat Unrecht wenn er das verachtet, was eine nothwendige Bedingung zum Gefallen ist.

Kurz, indem ich Natur, Einfalt und Wahrheit über Künsteley, Flitterstaat und Schminke setze, verlange ich der Ungeschliffenheit und dem Cynismus, wodurch viele heutiges Tages Eindruck zu machen hoffen, das Wort eben so wenig zu reden, als es meine Absicht ist, durch den Gegensatz unsrer Schwäche mit der Stärke unsrer Altvordern den heutigen Modeton mitzuleiern. Die Prätension an Genie, Größe, Stärke, Kühnheit und Freyheit läuft gegenwärtig wie eine große Epidemie durch halb Europa. Es ist ein possierliches Schauspiel, dem Gewimmel und Gelärme in den Sümpfen da unten zuzusehen; während der majestätische Stier ruhig und sorglos auf seiner Aue dahergeht, und nicht weiß ob er groß ist, und die Stärke seiner Stirne nicht eher fühlt bis er ihrer vonnöthen hat.

Alle wahrhaft große und tapfere Männer, die ich noch gesehen habe, waren bescheiden und sanft, und sprachen am wenigsten von den Eigenschaften, worin man ihnen den Vorzug zugestand. Ein Herkules kann nur sehr selten in den Fall kommen, von seinen Schultern und Armen sprechen zu müssen. Wer aber noch immer der Einzige ist, der um das Geheimniß seiner hohen Vorzüge weiß, der ziehe eine Nebelkappe um sich und rede durch Thaten!


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