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Im Innern von Schantung steht der heilige Berg Taischan. Er ist in der chinesischen Geschichte immer wieder hervorgetreten als der Geheimnisvoll-Offenbare, von dem Leben und Tod ihren Ursprung nehmen. In seiner Nähe ist ein kleiner Hügel, Zypressen wachsen auf ihm, und eine Pagode steht auf seiner Höhe. Hier war der Ort, wo alte Herrscher dem Geist des heiligen Berges ihre Opfer darbrachten. Ein kleiner Tempel ist hier geheimnisvollen Göttern geweiht. In diesem Tempel nahm die Bewegung ihren Anfang, die um die Jahrhundertwende China bis in seine Grundfesten erschüttern sollte und die der Anfang war zu einer neuen Zeit, die freilich ganz anders wurde, als die Menschen, die damals in dem Tempel dunkler Geister ihre Zusammenkünfte hatten, planten.
Was war der Grund zu ihrem geheimen Treiben? In China hat es zu allen Zeiten, wenn die Verhältnisse unerträglich wurden, wenn die Regierungsmaschine versagte, wenn Mißwachs und teure Zeit durchs Land schlich, wenn Pest und Überschwemmung das Leben bedrohten, wenn Räuber das Land unsicher machten, geheime Gesellschaften gegeben, die mit der Götter Hilfe das Alte vernichten und eine neue Ordnung ans Licht bringen wollten. So fängt das Buch von der Geschichte der drei Reiche, das der klassische Roman für alle Arten von ritterlichen Kämpfen in China ist, mit dem Aufstand der gelben Turbane an, deren Führer auf geheime Weise in den Besitz von Zauberkräften gekommen war, so daß er Sturm und Regen machen konnte und Zauberwasser aussprengte, das die Menschen von der Pest heilte. Auch das Zaubermittel, aus Papier Soldaten und Pferde zu schneiden, die dann künstliches Leben bekommen, wird häufig bei solchen Gelegenheiten erwähnt. Natürlich gibt es auch alle Arten von Waffensegen, die gegen Stich, Hieb und Schuß unverwundbar machen, und dergleichen Zauber mehr.
Um die Jahrhundertwende waren in China die Zustände wieder reif für solche Umtriebe. Der Taipingaufstand war vor einem halben Jahrhundert zusammengebrochen, aber die Verhältnisse waren nicht besser geworden. Immer mehr hatten sich die Fremden im Land ausgebreitet. Sie waren mit Gewalt und Unrecht eingedrungen. Sie hatten den märchenhaft schönen Sommerpalast Yuan Ming Yuan bei Peking niedergebrannt, um ihre überlegene Kultur zu beweisen. Sie hatten fremde Lehren verbreitet, denen sich Verbrecher und allerlei Gesindel angeschlossen hatte. Wenn es zu Streitigkeiten gekommen war, waren Kanonenboote erschienen und hatten Brandschatzungen eingetrieben, und immer mehr wurde das Volk von den Fremden und ihren Anhängern bedrückt. War nicht erst vor kurzem die Kiautschoubucht weggenommen worden, angeblich, weil einige Missionare von Räubern ermordet worden waren? Und hatten nicht darauf die anderen europäischen Mächte, statt den Raub zu verhindern, dieses Beispiel nachgeahmt? Wurde nicht immer wieder davon gesprochen, daß man China aufteilen wollte wie eine Melone? Und dies alles vermochte die mandschurische Dynastie nicht zu verhindern. Ja, der Kaiser selbst war in den Händen der Reformer, die China zu einem Staat nach fremdem Muster machen wollten. Darum hinweg mit den fremden Herrschern! Nieder mit dem Mandschus, Schutz den Chinesen!
Nicht lange hatte die Bewegung diese Spitze. Die alte Kaiserin-Witwe hatte ihrem Neffen die Zügel der Regierung wieder aus der Hand genommen, und reaktionärer, fremdenfeindlicher Geist machte sich bei Hofe geltend. So änderte sich denn die Devise: »Nieder mit den Fremden, Schutz dem Kaiserhaus!«
Es gab auf dem Lande allenthalben Selbstschutzvereinigungen gegen das Räuberwesen, das Wege und Stege unsicher machte. Diese Selbstschutzverbände nannten sich I Ho T'uan (Vereinigungen zum Schutz der öffentlichen Ruhe). Es heißt, daß kurz nachdem in Deutschland das Wort von der gepanzerten Faust gefallen war, dieser Titel umgewandelt wurde in I Ho K'üan (Faust zum Schutz der öffentlichen Ruhe). Das wurde dann fälschlich mit dem Wort Boxer übersetzt, obwohl von Boxen bei der ganzen Sache nicht die Rede war.
Abergläubische Stimmungen bemächtigten sich der Bewegung und peitschten sie zu offenem Fanatismus auf. In Tempeln und an geheimen Orten kam man nächtlicherweile zusammen unter dem Zeichen des geheimnisvollen Gottes alles Zaubers, Tschen Wu. Dieser Gott, der am Nordpol thront mit aufgelöstem, langem Haar und einem Zauberschwert, beherrscht die Dämonen und Geister, die als Schlangen und Schildkröten zu seinen Füßen liegen. Außer ihm kamen auch die Begleiter des Schützergottes Kuanti mit ihrer Wehr und Waffen herbei. Medien redeten im Namen der Götter. Die jungen Männer wurden unter geheimnisvollen Zaubersprüchen eingeweiht. Sie verloren das Bewußtsein und fielen zur Erde wie tot, dann standen sie wieder auf, von wildem Mut beseelt, und nun waren sie die Glieder der Vereinigung vom großen Messer, die unverwundbar waren für Kugel und Schwert. Wie eine Epidemie breitete sich diese Massenpsychose aus. Allenthalben in Stadt und Dorf wurden die Versammlungen abgehalten, und die Geister tobten. Da die Spitze der Bewegung umgebogen war und gegen die Fremden ging, nicht mehr gegen den Thron, so ließ man von seiten der Regierung der Sache ihren Lauf. Man scheute sich, ins Feuer zu greifen.
In Schantung wuchs die Bewegung zuerst ins Große. Man machte sich allmählich feste Ziele. Noch waren die Zeiten in Erinnerung, da China frei war von der Bedrückung der Fremden. China, das große Reich der Mitte, sollte nun Schmach dulden von den fernen Inselbewohnern, sei es vom Osten her oder vom Westen! Diese Inseln waren ja alle fern und ohne Bedeutung. Es genügte, wenn man die Fremden, die sich im Mittelreich eingenistet, tötete oder ins Meer warf, dann würde der kleine Rest der Daheimgebliebenen sicher nicht wagen, wieder zu kommen. Dies waren die Vorstellungen, die man hatte. Es schien alles ganz einfach. Eine starke Tat des Volksunwillens genügte, um alles in Ordnung zu bringen.
Man kann nicht leugnen, daß damals auch ein Teil der Beamten in ihren Vorstellungen nicht sehr viel weiter reichte. Berichte von chinesischen Gesandten im Ausland, die anders lauteten, waren vor nicht gar zu langer Zeit selbst bei Hofe recht ungnädig aufgenommen worden. Dennoch gab es auch viele weiterblickende Männer. Dazu gehörte gerade der Gouverneur von Schantung, Yüan Schï K'ai. Er ließ die Hauptvertreter der gegen Verwundungen Festgewordenen vor sich kommen, und man sagt, nachdem er sich eingehend über ihre übernatürlichen Fähigkeiten erkundigt hatte, habe er sie von bereitstehendem Militär zusammenschießen lassen. Jedenfalls verstand er weiterhin keinen Spaß, sondern drängte die ganzen Massen, die der Bewegung anhingen, zu seiner Provinz hinaus. Sie wandten sich darauf der Hauptstadt zu, wo sie in dem alten Haudegen Tung Fu Hsiang und in dem Prinzen Tuan Schutz und Führung fanden. Außer Yüan Schï K'ai sorgten auch die beiden Generale am Yangtse, Liu K'un Yi und Tschang Tschï Tung, für Ruhe, und auch Kanton hielt sich stille.
So blieb die Bewegung im wesentlichen auf den Norden und Nordwesten Chinas beschränkt. Fremde, namentlich die Missionare von Schensi, und Christen wurden zum Teil auf grausame Weise getötet, und ein Schrei der Entrüstung ging durch die Welt. Wie im Weltkrieg die Deutschen, so wurden damals die Chinesen zum Abschaum des menschlichen Geschlechts gestempelt. In Wirklichkeit kann man wohl sagen, daß der Bewegung eine ehrliche nationale Begeisterung zugrunde lag. Grausamkeiten kommen immer vor, wo die bestialischen Triebe der Menschen durch Haß entfesselt werden. Vielleicht sind die Methoden verschieden je nach der Phantasie der einzelnen Menschen, aber Grausamkeit und Schrecken kann nur vom selbstbeherrschten, nicht vom entfesselten Menschen vermieden werden. Angesichts des Weltkrieges verblaßt das Bild der Boxerzeit zu harmloser Bedeutungslosigkeit.
Das schließt aber nicht aus, daß man damals lebhafte Angst hatte. Die fremden Gesandtschaften in Peking wurden belagert. Die schlecht angesetzten Entsatzversuche des Admirals Seymour schlugen fehl und hätten beinahe mit der vollständigen Aufreibung der Entsatztruppen geendet. Anläßlich der Märsche ereignete sich der Vorfall, der dann nachher von deutscher Seite stark aufgebauscht wurde: die verschiedenen Kontingente der Schiffsbesatzungen, die den Vormarsch auf Peking angetreten hatten, standen unter dem Kommando des englischen Admirals. Als gerade die Engländer, die an der Spitze marschierten, durch feindliche Angriffe besonders stark mitgenommen waren, ließ er sie durch die Deutschen ablösen. Darin lag nur eine ganz selbstverständliche Maßregel. Die Deutschen haben sich ebenso tapfer benommen wie die übrigen Nationen, aber es wirkte natürlich unangenehm auf ganz Europa, daß dieser Vorfall in Deutschland durch Bild und Wort so aufgebauscht wurde, als ob die Deutschen so ungefähr an die Spitze der ganzen Menschheit kommandiert worden wären. Solche Taktlosigkeiten schadeten Deutschland enorm, und sie trugen viel bei zu dem allgemeinen Haß, der uns dann im Weltkrieg zu unserer Verwunderung allseitig entgegengebracht wurde.
In der deutschen Kolonie Tsingtau herrschte in jener Zeit auch große Aufregung, zumal da der größere Teil des Seebataillons nach Tientsin abgerückt war. Der kleine Rest der Soldaten machte von Zeit zu Zeit Umzüge durch die Straßen, um sich zu zeigen. Die Bevölkerung versah sich mit Waffen bis an die Zähne. Ich glaube, unser Haus war das einzige, in dem sich tatsächlich keine Waffe befand. Daß es dabei zu mancherlei Mißverständnissen kam, liegt in der Natur der Dinge. So wurde einmal in der Frühe der Signalberg längere Zeit beschossen von einer Gesellschaft, die sich den größeren Teil der Nacht hindurch Mut zugetrunken hatte und bei der nächtlichen Heimkehr sich keine genaue Rechenschaft mehr von dem Feinde geben konnte, der zu vernichten war.
Militärische Übungen auch der gesetztesten Bürger wurden in die Wege geleitet, und jedes rauschende Blatt erweckte bei Nacht die schwärzesten Befürchtungen. Es ist aber nichts Übles geschehen. Das damals noch gänzlich unbefestigte Tsingtau durchlebte die ganze Boxerzeit ohne Angriff.
In Peking vergingen unterdessen Wochen voll dramatischer Spannung. Wenn die chinesische Regierung einheitlich mit der Boxerbewegung gegangen wäre, so wären die ganzen Gesandtschaften vernichtet worden. Aber in der chinesischen Regierung selbst herrschten verschiedene Strömungen. Darum war kein System im Angriff, und die Gesandtschaften konnten sich, wenn auch einige Menschenleben zum Opfer fielen, so lange halten, bis Rettung kam. Vieles, was man als Hinterlist ansah, wie die Zusendung von Melonen an die Gesandtschaften durch die Kaiserin-Witwe, war wirklich gute Absicht gewesen. Die Kaiserin-Witwe hatte nämlich, als einzelne Boxer selbst in ihren Palast eindrangen, doch die Gefahr der Bewegung erkannt und hatte energische Stellung gegen sie genommen.
Schließlich kam der Entsatz. Japanische Truppen waren es, die zuerst in Peking einrückten, und ihnen folgten andere auf dem Fuß. Wenn der Boxeraufstand als Beweis gelten konnte, daß China nicht auf der Höhe der Zeit stand, so gaben sich die nun siegreich eindringenden Massen redliche Mühe, zu zeigen, daß Roheit und Grausamkeit auf Seiten der »Kulturnationen« nicht hinter dem zurückblieb, was man an China mit Abscheu verdammte. Die Deutschen haben im Weltkrieg den Titel Hunnen von ihren damaligen Verbündeten erhalten, weil in der Aufregung des Augenblicks den ausziehenden Chinakämpfern die Hunnen als Vorbild mitgegeben worden waren. Diese Beschimpfung war unverdient. Alle Beteiligten zeigten damals aufs unzweideutigste, daß sie solcher Vorbilder nicht bedurften. Was damals an Menschenleben, schuldigen und unschuldigen, vernichtet wurde, was an unersetzlichen Kunstwerken im Unverstand zugrunde ging, läßt sich nur annäherungsweise abschätzen. Von deutscher Seite wurden damals bekanntlich unter anderem die berühmten astronomischen Instrumente von der Pekinger Stadtmauer entfernt und als Siegesbeute mitgeführt. Sie mußten nach dem Versailler Vertrag zurückgegeben werden. Aber man darf daraus nicht schließen, daß von anderer Seite weniger gestohlen worden wäre. Man stahl vielleicht mit mehr Sachkenntnis. Das war alles. Die großen Sammlungen Europas und Amerikas enthalten so manches Stück, dessen Herkunft aus der Boxerbeute keinem Zweifel unterliegt.
Als man nach dem siegreichen Einzug in Peking allmählich sich auf sich selbst besann, bemerkte man, daß die Kaiserin-Witwe weg war. Während schon die fremden Truppen die Straßen durchzogen, verließ sie auf einem chinesischen Reisewagen als chinesische Bäuerin verkleidet die Stadt. Ihr Begleiter, der nachmalige Generalgouverneur Schong Yün, hat mir später manches erzählt von den Beschwerden und Mühsalen dieser Flucht nach Hsianfu.
Für die siegreichen Mächte entstand durch diese Flucht eine große Verlegenheit. Wohl rüstete man unter großem Aufwand Strafexpeditionskorps aus. Wohl ernannte der deutsche Kaiser, der die Sache mit großer Lebhaftigkeit betrieb, Graf Waldersee zum »Weltmarschall«. Aber die Verhältnisse wurden immer schwieriger. Die verschiedenen Expeditionen siegten zwar dauernd im Land umher, zumal da nirgends ernstliche Feinde standen, denn die Boxer waren nach ihrem Zusammenbruch wieder unter der Masse der Bevölkerung verschwunden. Aber immer ernster wurden die inneren Reibungen der Besatzungsarmee. Namentlich der französische Befehlshaber begann die Befehle des Grafen mit geflissentlicher Offenheit zu mißachten. Allerlei Unglücksfälle, wie der Brand des feuerfesten Asbesthauses des Grafen Waldersee, bei dem der unersetzliche York von Wartenberg ums Leben kam, machten die Stimmung noch ungemütlicher, und schließlich war man froh, als der greise Li Hung Tschang sich opferte, indem er im Namen der chinesischen Regierung sich an den Verhandlungstisch setzte.
Der Friede, der dann zustande kam, ist in allem das getreue Vorbild des Diktats von Versailles gewesen. Man hatte die Einzelheiten in Deutschland nur vergessen, sonst hätte man sich über Versailles nicht so sehr verwundert. In China wunderte sich kein Mensch darüber. Ohne daß man Deutschland für schuldig am Weltkrieg hielt, wußte man doch aus eigener Erfahrung, wie die Friedensschlüsse beschaffen sind, die Kulturnationen besiegten Gegnern zu diktieren pflegen. Auch im chinesischen Krieg spielte die Schuldfrage eine Rolle. Obwohl man während der ganzen Expeditionszeit die Fiktion aufrechterhalten hatte, daß man nicht gegen China, sondern nur gegen die Räuber kämpfe, weil sonst der Krieg unmögliche Dimensionen angenommen hätte, so mußte nun doch die Regierung sich für alles verantwortlich halten. Statt daß man gemeinsam mit China Maßregeln beraten hätte, die eine Rückkehr ähnlicher Konvulsionen verhüteten, statt daß man daran gegangen wäre, eine Erschließung der ungeahnten Hilfsquellen Chinas durch sachgemäße Untersuchung zu ermöglichen, wobei alle Teile auf ihre Rechnung gekommen wären, begann zunächst ein widerliches Feilschen um die Köpfe von Großwürdenträgern und Prinzen, die man als Sühnopfer brauchte, wobei denn die groteske Situation sich ergab, daß man oft sogar die falschen Köpfe begehrte, Köpfe von Leuten, die sich für Schutz der Fremden und Mäßigung eingesetzt hatten: so schlecht war man informiert. Ungeheure Entschädigungen mußten bezahlt werden, die zu ihrer Amortisation phantastische Zeiträume brauchten und auf unabsehbare Zeit das große Reich unter die Finanzkontrolle der siegreichen Mächte stellten. Ein kaiserlicher Prinz mußte persönlich nach Europa kommen, um sich wegen der Ermordung des deutschen Gesandten zu entschuldigen. Ein Ehrentor mußte in der großen Hatamenstraße errichtet werden, auf dem in chinesischer und lateinischer Schrift der Frevel an dem deutschen Gesandten und seine Sühne verzeichnet stand – zum ewigen Andenken.
An der englischen Gesandtschaft aber ließ man ein Stück der von Kugeln durchlöcherten Mauer unberührt stehen und schrieb daran: »Lest we forget!« Diese Worte sind jedoch längst verblaßt, und die Mauer ist mit Moos überzogen. Der Weltkrieg hat andere Feinde geschaffen, und man ließ nicht nach, bis man China in diesen Krieg der Zivilisation gegen die deutschen Barbaren hineingezogen hatte. Bei der Friedensfeier versuchten betrunkene französische Soldaten den Kettelerbogen umzureißen, was ihnen jedoch mißlang. Die chinesische Regierung hat ihn dann an sich genommen. Heute steht er am Eingang des Zentralparks, in dem sich die Jugend Pekings amüsiert, und trägt wieder eine lateinische und eine chinesische Inschrift: »Dem Sieg des Rechts«. Man fragt sich im Grunde vergebens, was mit dem Recht gemeint ist, das gesiegt hat. Ist es der Gesandtenmord, der nun nachträglich unter allgemeiner Zustimmung der Alliierten sanktioniert werden soll? Oder sind es die Versprechungen, die man China beim Eintritt in den Krieg gemacht hat und die man bis auf den heutigen Tag nicht zu erfüllen gewillt ist? In Wirklichkeit wäre es im eigentlichen Interesse Chinas, wenn man diese volltönende Inschrift, die von den Tatsachen längst überholt ist, in aller Stille entfernen würde. Aber wie dem auch sei, auch diese Inschrift wird nicht ewig dauern.
Jene Zeit hatte auch in Schantung kleinere Störungen im Gefolge. Der Bau der Bahn von Tsingtau nach Tsinanfu war begonnen worden. Allein verschiedene Umstände wirkten mit, den Bahnbau in der chinesischen Bevölkerung sehr unbeliebt zu machen. Zum Teil herrschte noch der Aberglaube, der eine Störung der Ahnengeister fürchtete, zum Teil hatte man – wie sich später herausstellte – sehr berechtigte Befürchtungen, daß die Überschwemmungsgefahr für gewisse tiefliegende Landstriche durch den Bahndamm vermehrt werde, zum Teil gab es Mißverständnisse zwischen Bahnangestellten und Bevölkerung. Kurz, es kam zu Störungen des Bahnbaus, in deren Folge eine militärische Expedition ins Hinterland Tsingtaus nach Kaumi ausgerüstet wurde.
Hier kam es nun zu äußerst bedauerlichen Konflikten zwischen europäischer und asiatischer Denkweise. Als die deutschen Truppen anrückten, schlossen die Dörfer ihre Tore zu und begannen mit ihren vorsintflutlichen Kanonen in die Luft zu schießen, wie sie das gewohnt waren, wenn Räuber um den Weg waren. Wie erstaunten sie jedoch, als die deutsche Artillerie sich davon nicht erschrecken ließ, sondern wiederschoß, und mit welch vernichtendem Erfolg! Die Frauen und Kinder wollten nun zu einem Seitentor hinaus entfliehen. Aber von deutscher Seite hielt man die Frauen in ihren roten Hosen für Boxer und nahm sie unter Maschinengewehrfeuer. Unterdessen begann auch ein entferntes Dorf seine Böller zu lösen. Die Deutschen zogen ab, um jenes Dorf in Brand zu schießen. Als sie zurückkamen, waren die Boxer, die im ersten Dorf den Widerstand organisiert hatten, entkommen, und die eingesessene Bevölkerung hatte die Not des Krieges zu erdulden.
Ich hörte in Tsingtau von diesen Dingen. Ich war überzeugt, daß es sich um gegenseitige Mißverständnisse handle. Und trotz Abreden bedenklicher Freunde entschloß ich mich, in die Gegend zu reisen, um zu versuchen, durch Vermittlung Menschenleben zu retten.
Es gab nun viel zu tun und zu besprechen. Da alle Verhandlungen auf chinesisch geführt werden mußten, so lernte ich in jenen Wochen ganz von selbst die chinesische Sprache meistern. Besonders aufregend war die Geschichte eines entfernten Dorfes, das der Aufforderung, die Waffen abzuliefern, nicht Folge zu leisten gewagt hatte. Schon war ein Strafzug geplant. Mit Mühe erreichte ich Aufschub bis zum nächsten Morgen. Ich ging zum Ortsbeamten und teilte ihm die Lage mit. »Dem dummen Volk, das noch immer nichts gelernt hat, ist nicht zu helfen«, war seine Antwort. Da mußte ich ihn recht ernst an seine Verantwortung erinnern. Noch in derselben Nacht wurden reitende Boten abgesandt. Am nächsten Morgen zählte ich mit Aufregung die Stunden. Schon war die Strafabteilung zum Aufbruch fertig. Ich hatte Nachricht, daß die Waffen kommen, und konnte sie noch einige Minuten zurückhalten. Endlich verlor der Offizier die Geduld und wollte eben den Befehl zum Abmarsch geben. Da tauchten die Leute auf dem nächsten Hügel auf. Sie hatten ihre Waffen getreulich mitgebracht. Verrostete Schwerter und Donnerbüchsen und ein paar alte Mörser, aus denen man steinerne Kugeln ein paar hundert Meter weit schleudern konnte. Man war aber damals sehr scharf darauf aus, die Entwaffnung wirksam durchzuführen.
Schließlich gelang es mir, die Vertreter aller Dörfer des Kreises zusammenzubringen. Sie hatten ihre Waffen abgeliefert, und ich konnte ihnen die Beruhigung geben, daß sie künftig geschont werden sollten. Noch lange hatte ich mit meinen Gehilfen zu tun, die Verwundeten, namentlich Frauen und Kinder, zu verbinden und zu versorgen. Eine rührende Dankbarkeit der Bevölkerung war die Folge. Eine Menge von seidenen Ehrenbehängen wurden mir überreicht, in denen die Leute für ihre Rettung dankten, und schließlich wurde mir auf Antrag des Provinzialgouverneurs von der chinesischen Regierung sogar der Rangknopf eines Mandarins verliehen.
Auf die Boxerzeit folgte eine Zeit sehr starker Gegenströmung. Waren früher die Christen verfolgt worden, so suchten sie sich jetzt an ihren Feinden mit Hilfe der Missionare zu rächen. Ja, gar mancher schloß sich an eine Kirche an, um auf diese Weise einen Prozeß, den er mit seinen Nachbarn hatte, wirksam unterstützen zu lassen. Denn wenn es gelang, den Nachbarn als früheren Boxer zur Anzeige zu bringen, so war sehr viel zu hoffen.
Solche Erfahrungen ließen mich eine ganz neue Missionsmethode für China bevorzugen. In einem Land wie China wird es dem Europäer selten gelingen, die moralische Höhenlage eines Christen, den er taufen soll, vollkommen zu durchschauen. Dennoch übernimmt die Kirche die Verantwortung für ihre Mitglieder, und nichts schadet dem Christentum in China mehr als ein zweifelhafter Lebenswandel seiner Bekenner. Denn nicht die Lehre macht den Menschen groß, sondern der Mensch macht die Lehre groß. Die katholische Kirche, der die einzelne Generation nichts ist, rechnet mit diesen Faktoren. Sie nimmt unbedenklich auch zweifelhafte Elemente auf in der festen Zuversicht, daß die Kinder und Enkel solcher Konvertiten einst gute Christen werden. Der Individualismus der Protestanten läßt solche langfristigen Wechsel nicht zu.
Aber eben deshalb schien es mir richtiger, mich auf das einfache Leben nach christlichen Grundsätzen zu beschränken, durch Schule und Hospital zu wirken, mit den Menschen zusammenzuleben und ihnen innerlich nahe zu kommen, indem ich es dem Wirken des Geistes überließ, was sich daraus gestalten würde. Eine Kirche in einer Kulturnation kann sich nur von selbst konstituieren, sie kann nicht unter der Leitung von Fremden – oft solchen von niedriger gesellschaftlicher Bildung und ohne Takt – stehen, ohne selbst zur Inferiorität verdammt zu sein. So habe ich denn niemand in China getauft und bin dem Wesen des chinesischen Volkes vielleicht eben dadurch um so näher gekommen. Und ich habe nie Konflikte gehabt wegen eines Anhangs unerwünschter Konvertiten.
Zum Schluß sei noch eine Frage beantwortet, die gegenwärtig häufig gestellt wird. Weil nämlich um die Jahrhundertwende viele Kenner einen Ausbruch vorausgesagt hatten, der von den leitenden Kreisen nicht geglaubt wurde, dünken sich auch heute manche Menschen besonders klug, wenn sie einen neuen Boxeraufstand für die nächste Zukunft weissagen. Der Nachtmahr von der gelben Gefahr gehört ebenfalls in dieses Gebiet. In Wirklichkeit aber darf man ziemlich beruhigt sein. Der Boxerkrieg beruhte einerseits auf nationaler Begeisterung und religiösem Fanatismus; aber um solche Dimensionen annehmen zu können, wie er es getan hat, gehörte auch die ganze geographische Unwissenheit jener Zeit dazu. Heute aber kennt man in China etwas von der Welt. Man weiß, daß die Fremden nicht spärliche Bewohner ferner Inseln sind, sondern reale Mächte, mit denen man rechnen und sich auseinandersetzen muß. Diese Auseinandersetzungen können vielleicht noch manche Überraschung bringen, aber einen Ausbruch der »Faust zum Schutz der öffentlichen Ruhe« wird es nicht mehr geben.