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Es war in der Zeit nach den ersten Reformedikten, die eine Umgestaltung des Unterrichtswesens auf allen Stufen vorsahen, daß ich häufig aufs Land kam; denn man wußte sich in China nicht so recht zu helfen mit der Einrichtung der neuen Schulen. So wurde ich von verschiedenen Seiten gebeten, die Leitung und Einrichtung solcher Schulen in Dorf und Stadt eine Zeitlang zu übernehmen. Namentlich die Schule in Kaumi und einige Dorfschulen des Umkreises waren meiner Fürsorge zugeteilt. Solange die Schantungbahn, die jetzt Tsingtau mit der Provinzialhauptstadt Tsinanfu verbindet, noch nicht gebaut war, mußte die Reise ins Innere zu Pferd gemacht werden. Der Weg führt um die Kiautschoubucht herum. Die Gegend an dieser Bucht, die sich früher viel weiter ins Festland hinein erstreckte, ist zum größten Teil eben. Der Strand ist an manchen Stellen abgedämmt zu Salzpfannen, in denen durch Verdunstung Meersalz gewonnen wird. Unter den Produkten der Tsingtauer Umgegend spielt dieses Salz eine sehr große Rolle. Im übrigen sind die Felder bepflanzt mit den Nutzpflanzen des Nordens von China: Hirse, Sorghum, Weizen, Soyabohnen, Bataten, auch Mais und Erdnüssen. Bedeutend ist auch die Obstkultur, namentlich Birnen, Kakifeigen und Jujuben gedeihen. Die Bauernhäuser der Gegend sind meist aus Granit und Porphyr gebaut, die Mauern primitiv, oft ohne Mörtel oder nur mit Lehm verbunden. Die Dächer sind entweder mit Stroh gedeckt oder flach abgerundet mit Lehm und Kalk gestampft. Das Leben in einem solchen chinesischen Fischerdorf ist alles andere als bequem. Die Wohnungen sind alle einstöckig. Vom Hof, an dem sich die Tenne anschließt, kommt man durch eine doppelflügelige Holztür ohne Klinke, die durch einen Riegel von innen verschlossen werden kann, sofort in den Mittelraum, dessen Boden aus gestampftem Lehm besteht. Eine Zimmerdecke ist nur in wohlhabenden Häusern üblich, meist liegt die Dachkonstruktion offen. An der Seite im Hintergrund steht der Herd, über dem ein farbiges Bild des Herdgottes hängt. Der Rauch des Kochens sucht sich meist selbst seinen Abzug aus dem Haus, höchstens, daß ein kleiner, undichter Schornstein ihm ein wenig den Weg öffnet. Das nach Süden orientierte Haus hat im Mittelraum außer der Tür keine Lichtöffnung, weshalb die Tür tagsüber meist offen steht. Nur an der Nordwand ist noch ein breites, niedriges Fenster angebracht, das im Winter vermauert, im Sommer dem Luftdurchzug dient. Rechts und links vom Mittelraum sind noch zwei innere Räume, die durch Öffnungen, die meist nur durch Vorhänge abgeschlossen werden, zugänglich sind. Diese Innenräume haben Südfenster mit Holzgitterwerk, das im Winter mit Papier verklebt wird. An der hinteren Wand steht ein gemauertes Bett, durch dessen Züge die Abzugswärme des Herdes geleitet wird, so daß man im Winter im geheizten Bett schlafen kann. Wenn freilich der Lehm der Mauerung undicht ist, muß man die Erwärmung durch viel beizenden Rauch erkaufen. Möbel gibt es in einem solchen Bauernhaus recht wenig. Im Mittelraum sind die Küchengeräte und sonstige Gebrauchsgegenstände untergebracht, an der Wand ein roher Tisch und ein paar Hocker, sonst nichts. Das gemauerte Bett, der K'ang, ist der bevorzugte Aufenthalt des weiblichen Teils der Familie. Ein kleines Schränkchen steht am Fußende des K'angs, in dem die Kleider aufbewahrt werden, soweit sie nicht in Kisten verstaut sind. Das Bett ist häufig durch Vorhänge abgeschlossen. Steppdecken dienen als Unterlage und zum Zudecken, während man Nackenstützen für den Kopf benützt. Am Fenster steht ein rechteckiger Tisch mit ein paar Stühlen. Die Reibschale für die Tusche, Pinsel und Papier, wohl auch ein Briefsteller, ein Kalender liegen darauf. Im ganzen sind die Räume im Winter kalt und rauchig, nur durch die geschützte Lage sind sie, namentlich an Nordwindtagen, erträglich. Im Sommer, besonders zur Regenzeit, kommen andere Unannehmlichkeiten: schwüle Hitze, Scharen von Moskiten, die durch einen beizenden Rauch von Artemisiakräutern verscheucht werden sollen, und andere Insekten, die sich durch keinen Rauch verscheuchen lassen, und die ständige Gefahr, daß der Lehm des Daches und der Wände im Regen schmilzt und das Haus in größeren oder kleineren Teilen einstürzt. Denn der Lehm ist zwar durch einen Kalküberzug gegen die Regenwirkung geschützt, aber wo sich undichte Stellen finden, kommt der Regen, der oft mit sintflutartiger Gewalt fällt, unnachsichtig durch und richtet seine Verheerungen an.
Das Fischerhandwerk, das in den Dörfern an der Kiautschoubucht betrieben wird, ist recht dürftig und auch gefährlich. In früheren Jahren, als die Bucht von Heringsschwärmen regelmäßig besucht wurde, war dies anders. Da gab es Fische im Überfluß, soviele, daß man selbst Hühner und Schweine damit fütterte und die ungenießbaren Mengen als Dünger für die Felder benützte. Aber diese Zeiten sind längst vorüber. Die langen, schmalen Silbermesserfische werden gesalzen und getrocknet und schmecken für einen verwöhnten Gaumen gräßlich. Außer verschiedenen anderen »Fischen« werden auch Krabben, Garneelen, Tintenfische und Quallen gegessen. Neuerdings leidet die Fischerei sehr durch die japanischen Fischdampfer, die durch ihren Massenfang sehr verheerend wirken.
Neben dem Fischfang wird Landwirtschaft betrieben. Der Ackerbau ist sehr mühsam, da der Viehbestand nicht sehr zahlreich ist. Manchmal kann man sehen, wie der hölzerne Pflug von Menschen gezogen wird. Beim Ackerbau beteiligt sich die ganze Familie, daher ist Kindersegen als Zuwachs an Arbeitskräften durchaus erwünscht. Man kann an Sommertagen auf den Feldern bei der Ernte Männer, Frauen und Kinder an der Arbeit sehen; über das ganze ist der strahlende Himmel gebreitet, und Mensch und Natur verwachsen zu einer großen Einheit. In der Sommerzeit spielt sich das Leben fast ganz im Freien ab. Die Hitze und die Moskiten machen die dumpfen Häuser unerträglich. Man baut sich Hütten auf dem Feld. In der oberen Abteilung hausen Frauen und Kinder, zu ebener Erde die Männer der Familie. Trotz der großen Armut der nordchinesischen Bauern, die in einem Steppenklima Ackerbau treiben, wobei es oft an Regen fehlt, dann wieder heftige Sommerregen Überschwemmungen bringen, lebt das Volk zufrieden und einfach, ein Beweis dafür, wie Konfuzius es verstanden hat, durch seine Sitten die Menschen harmonisch zu gestalten.
Über die Ebene blicken die ernsten Gipfel des Laoschan herüber. Jenseits der Bucht grüßen im Westen die Perlberge und dazwischen die grünen Bauminseln der Dörfer in dem weiten, wogenden Getreidemeer. Einen solchen Abend schildert ein alter Dichter mit ein paar Strichen:
»Nebel sieht man in den Bergen brauen,
Scheidend blickt die Sonne durch den Bambushain.
Vöglein flattern nach des Daches Giebel,
Und der Rauch steigt in die Abendluft hinein.«
Gegen Abend kommen dem Reitenden die Zinnen der Stadtmauer von Kiautschou zu Gesicht. Das Schicksal dieser Stadt ist im Lauf der Geschichte sehr wechselvoll gewesen. Sie hegt im Süden der Ebene, die als breites nordsüdliches Band die Halbinsel Schantung mit dem Festland verbindet. Die Halbinsel ist durchweg gebirgig. Der Laoschan, der bis 1100 Meter hoch direkt aus dem Meer aufsteigt, und der Schongschan, sein Gegenbild im Norden, bilden die Grenzposten dieser Halbinsel. Sie lag in den ältesten Zeiten außerhalb der Sphäre der chinesischen Kultur. Die Gebirge galten als geheimnisvoller Aufenthalt von Zauberern und Feen. Gar mancher Kaiser, der die Pille der Unsterblichkeit suchte, hat in diese Gegenden Wallfahrten gemacht. Das Ponglaigebirge im Norden, wo man den »Seemarkt« an manchen Tagen aus den Dünsten des Meeres aufsteigen sieht, galt als Versammlungsort der Unsterblichen, und von hier aus sandte einst der mächtige Ts'in Schï Huang Ti jene Expedition von Hunderten von Knaben und Mädchen aus, die die Insel der Seligen suchen sollten. – Die Halbinsel bietet der Seefahrt manche Gefahren. Die Felsen des Schantungvorgebirges haben, wenn ein Taifun wütet, gar manchem Schiff schon Verderben gebracht – auch das deutsche Kanonenboot »Iltis« ist dort der Gewalt des Sturmes unterlegen. Deshalb wurde unter der Mongolenzeit ein Kanal angelegt, der sogenannte Kiaulai-Kanal, der von der Kiautschoubucht aus nach Norden ging und bei der Kreisstadt von Laitschou in den Golf von Tschïli mündete. Dieser Kanal kürzte nicht nur den Weg ab für die Schiffe, die von Süden her nach der nördlichen Hauptstadt wollten, sondern ersparte ihnen auch die Gefahren einer stürmischen Fahrt um das Schantungvorgebirge herum. Kiautschou lag damals unmittelbar an der Bucht und war eine blühende Hafenstadt. Die Dschunken liefen aus und ein, und die Waren wurden in der Stadt gestapelt. In der Nähe des Hafens wurde der Tempel der Himmelskönigin errichtet, die den Schiffern erscheint, wenn der Sturm das Meer durchwühlt. Wenn alles voll dunkler Wolken ist, wenn Blitz und Donner, Sturm und Wassermassen, Wogen und Gischt das Schiff zu zertrümmern drohen, dann flehen die Schiffer in höchster Not zur Himmelskönigin. Die hängt dann ihre Lampe heraus und naht auf den Wellen den Bedrängten und stillt den Sturm. Gar manches gerettete Schiff hat aus Dankbarkeit im Tempel der Göttin eine kleine hölzerne Dschunke aufgehängt. Noch immer steht dieser Tempel vor den Mauern der Stadt im Südbezirk. Aber das Meer ist weit zurückgewichen. Kiautschou ist eine Binnenstadt geworden, die stundenweit von der Bucht durch eine ebene Sandstrecke getrennt ist. Der Kanal nach Norden ist zerfallen. Die größeren Dschunken können nicht viel über die Mitte der Bucht vordringen, dann müssen sie vor Anker gehen und auf flachen Sampans ihre Waren löschen. Am öden Strand bei einer einsamen Pagode auf einem Hügel liegt der Hafenort von Kiautschou, Taputur, der den spärlichen Handel vermittelt, der noch über die Kiautschoubucht geleitet wird. Seit am Eingang der Bucht der Tsingtauer Hafen gebaut ist, zog sich der Hauptteil des Handels dorthin.
In der Stadt Kiautschou, wie in allen großen Orten, finden noch regelmäßige Märkte statt, zu denen die Bevölkerung von allen Himmelsgegenden her zusammenströmt. Lange vor Tagesgrauen brechen die Leute mit ihren Eseln oder Schubkarren von Hause auf mit ihren Waren oder Feldfrüchten, die sie auf dem Markt verkaufen, um dagegen die notwendigen Geräte und Handwerkszeuge einzukaufen. Diese meist in Perioden von fünf Tagen abgehaltenen Märkte dienen auf dem flachen Land fast allein dem Warenverkehr, soweit nicht Hausierer von Ort zu Ort gehen und ihre Dinge feilbieten. Der Markt ist zudem die beste Gelegenheit, Neuigkeiten auszutauschen. Da werden oft sehr abenteuerliche Gerüchte als Nachrichten zum besten gegeben. Wenn wie eine Epidemie schwankende Gerüchte das Land durchflattern, die niemals Tatsachen wiedergeben, sondern immer nur Stimmungen, so sind die Herde der Verbreitung stets die Märkte. Zeitungen im westlichen Sinn sind ja erst in den allerletzten Jahrzehnten in China häufiger geworden. – Gelegentlich werden auch Streitigkeiten geschlichtet, und oft ist es so, daß der Schuldige ein Essen mit Wein geben muß, bei dem alle Beteiligten sich gütlich tun und wieder heiter und freundlich werden. Gelegentlich zeigen sich dann aber, wenn etwa ein Bäuerlein auf dem Markt nach einem guten Handel zuviel des Guten getan hat, auf dem Heimweg in der Finsternis böse Gespenster, die allerlei Unheil und Schabernack anrichten. Derartige Geschichten werden schon in alter Zeit erzählt. So heißt es z. B. in den Frühlings- und Herbstannalen des Lü, der zur Zeit des Ts'in Schï Huang Ti lebte:
»In einem Dorf war ein sonderlicher Teufel, der freute sich daran, die Gestalt von anderer Leute Söhnen oder Brüdern anzunehmen. Ein Alter aus der Gegend war einst zu Markt gegangen und kam von dort betrunken heim. Der Teufel nahm die Gestalt seines Sohnes an und führte ihn scheinbar nach Hause. Doch plagte er ihn unterwegs aufs ärgste. Als nun der Alte heimkam, war der Rausch verflogen. Er schmähte seinen Sohn und sprach: ›Ich, als dein Vater, habe es noch nie an Liebe zu dir fehlen lassen. Was war der Grund, daß du auf dem Weg mich so plagtest, da ich nun betrunken war?‹ Sein Sohn schluchzte, stieß das Haupt zur Erde und sagte: ›Das ist ein Spuk. Nicht also war es. Denn vorhin hatte ich im Osten etwas zu tun. Du kannst die Leute auf der Straße fragen.‹ Sein Vater glaubte ihm und sprach bei sich: ›Ei, das ist sicher wieder dieser sonderliche Teufel. Ich habe wohl von ihm gehört. Morgen will ich wieder zu Markt gehen und erst recht trinken. Da möchte ich ihm begegnen. So bring ich ihn dann sicher um.‹ Am andern Morgen ging er auf den Markt und ward betrunken. Sein Sohn aber, der fürchtete, daß der Vater nicht allein imstande sei zurückzukommen, ging ihm entgegen vor das Dorf hinaus. Der Alte sah seinen Sohn. Er zog sein Schwert heraus und stach ihn tot.« –
Kiautschou ist heute eine stille Stadt. Die Mauern zerbröckeln allmählich, die Tore zerfallen, und die Erinnerung an die Vergangenheit brütet über den weiten Feldern, die heute an Stelle von Häusern und Straßen große Teile der ummauerten Stadt ausfüllen. Die Zikaden schwirren in den sommerlichen Weidenbäumen, und die Lerchen singen in ihren Käfigen, die von Vogelliebhabern schon am frühen Morgen in die Natur hinausgetragen werden.
Es gibt eine alte Sage von der Fee Maku, daß sie noch immer jung geblieben sei, obwohl das Meer dreimal zu Maulbeergärten sich gewandelt habe und die Maulbeergärten dreimal sich ins Meer versenkten. So steigt heute wieder das Land aus dem Meer, wird Sandfläche, Steppe, Getreideland. Hafenstädte rücken ins Inland zurück, und neue Orte tauchen aus dem Nichts hervor wie damals der deutsche Hafen Tsingtau, der ehedem ein ärmliches Fischernest war, bis die Eisenbahn kam und die Riesendampfer, die großen Straßen und die Fabriken. Kiautschou sank in die Vergessenheit eines Landstädtchens zurück. Und wieder ändern sich die Zeiten. Einst wohnten deutsche Soldaten in prächtigen Kasernen auf einem Hügel vor der Stadt Kiautschou. Sie sind wieder abgezogen, um die Kasernen wuchs ein Wald, während langsam Fenster und Dächer, Türen und Riegel verfielen und entfernt wurden, so daß heute nur noch Gestrüpp und Ruinen die Stelle bedecken. Und dies alles: Kommen und Gehen in einem halben Menschenalter. Man versteht im Blick auf diesen Wandel, wenn Laotse sagt:
»Alle Dinge erheben sich im Gedräng.
Ich bleibe ruhig und sehe, wie sie zurückkehren.«
Von Kiautschou führt der Weg landeinwärts nach Kaumi. Diese Stadt ist der Ort der Phäaken. Am Fuß eines Hügels voll alter Gräberhaine, der sogenannten alten Stadt, gelegen, erheben sich ihre Mauern am Ufer eines kleinen Wasserlaufs. Die Gegend ist eben und tief. Früher war im Norden der Stadt ein großer See, der aber im Lauf der Jahrhunderte ausgetrocknet ist und nur noch auf europäischen Landkarten ein gespenstisches Dasein führt. Die Stadt ist vollkommen ländlich in ihrem Charakter. Die Bürger haben dafür gesorgt, daß die Eisenbahn auf eine weite Strecke von der Stadt entfernt bleibt. Man muß auf diese Weise fast eine ganze Stunde vor Abgang des Zuges sich auf den Weg machen, aber man bleibt den fremden Einflüssen ferner. Zur Zeit, als ich in Kaumi verkehrte, gab es dort noch immer Leute, die sich geweigert hatten, die Bahn auch nur einmal zu sehen. Auf dem Hügel der Altstadt waren damals deutsche Baracken, in denen eine Abteilung berittener Marineinfanterie (es war wirklich diese merkwürdige Waffengattung; sie ritten sogar auf Maultieren) zum Schutz des Bahnbaus stationiert war. Nach der Vollendung des Bahnbaus blieben diese Truppen aus alter Gewohnheit noch da. Erst als nach dem russisch-japanischen Krieg die japanische Regierung sich nach ihnen erkundigte, wurden sie sehr schnell zurückgezogen.
Der Bahnbau hat manche Unruhe in das selige Dasein der Phäaken gebracht. Als ich das erstemal nach Kaumi kam, waren die meisten der vornehmen Familien vor den deutschen Soldaten geflüchtet, und ihre Häuser standen offen da. Ich erinnere mich besonders an eines dieser Häuser. Es sah von außen ganz unscheinbar aus. Der Besitzer lebte in dürftigster Einfachheit. Aber im innersten seiner Höfe hatte er Halle an Halle mit Strängen des durchlöcherten, alten chinesischen Kupfergeldes bis unter das Dach hin vollgestopft. Das alles war nun leer. Nur da und dort auf dem Boden sah man einige zerstreute Münzen liegen. Trotzdem der Mann nicht ärmer geworden war durch diesen Verlust, trug er an dem Unglück namenlos schwer und hat es nie ganz verwunden. In einem anderen der Gebäude wurde mir vom Mandarin eine Wohnung angewiesen. Ich wohnte in einem besonderen Hause eines Seitenhofes. Die großen Haupthallen standen leer, und die alte solide Pracht der Räume mit den Resten der Kunstgegenstände, die noch da geblieben waren, stand im traurigen Gegensatz zu den ängstlich umherschleichenden Dienern, die zur Bewachung zurückgelassen worden waren. Später kam dann der Besitzer wieder zurück. Es war ein bedauernswerter, kränklicher junger Mann, der das Erbe seiner Väter nur mühsam weiter schleppte und schließlich durch Opiumrauchen und Unfähigkeit in Armut versank und zugrunde ging. Es gab eine ganze Anzahl solcher untergehenden Geschlechter in Kaumi. Manche düstere Geschichten hatten sich hinter den mächtigen Toren, vor denen steinerne Löwen Wache hielten, und innerhalb der verschwiegenen Mauern der Höfe abgespielt. Manche Kampfszenen aus alter Zeit hatten ihre Spuren hinterlassen, wenn z. B. einem der steinernen Torlöwen der Kopf abgeschlagen war. Heimliche Gerüchte erzählten von Dingen, wie sie in dem berühmten Roman vom »Traum des roten Schlosses« geschildert werden, wo es einmal heißt, daß die steinernen Löwen vor dem Tor die einzigen wirklich keuschen Hausbewohner seien.
Allmählich kamen die Mitglieder der Gentry wieder in die Stadt zurück, und es bildete sich mit der Zeit auch zu den deutschen Besatzungstruppen, von denen weiter oben schon einiges berichtet ist, ein erträgliches Verhältnis aus. Nur gelegentliche Störungen des Bahnbetriebes brachten jeweils neue Aufregungen mit sich. Einmal war es z. B. vorgekommen, daß jemand, um sich an einem Feind zu rächen, einige Schrauben von den Bahnschienen entfernt hatte innerhalb der Strecke, für die sein Feind als Dorfvorsteher verantwortlich war. Die Sache wurde gemeldet, und der deutsche Hauptmann verlangte strengste Bestrafung des Schuldigen. Der Mandarin untersuchte den Fall. Da die Schrauben nirgends gefunden wurden, so war nichts sicheres herauszubekommen. Die Sache zog sich in die Länge, und immer dringender wurden die Mahnungen des Hauptmanns. Schließlich kam man auf einen Ausweg. Im Gefängnis war ein armer Schlucker, der beim Hühnerdiebstahl betroffen war. Der nahm die Schuld auf sich, als er erfuhr, daß man bereit sei, seiner alten Mutter, für die er die Hühner zur Nahrung gestohlen hatte, eine für seine Verhältnisse sehr beträchtliche Unterstützung zu bezahlen. Es wurde also ein Protokoll aufgenommen. Der Dieb, der glücklich war, durch sein Geständnis seiner alten Mutter aus der Not zu helfen, legte ein detailliertes Geständnis ab und bekannte auch, daß er die Schrauben an einer Stelle ins Wasser geworfen habe, die so tief sei, daß man sie nicht wiederfinden könne. Das Protokoll wurde dem Hauptmann zur Kenntnis gegeben. Der Dieb wurde sofort hingerichtet. Als später der Hauptmann den Mann noch einmal vernehmen lassen wollte, da war es schon zu spät. Derartige Fälle sind in jener Zeit nach den Boxerwirren mehr als einmal vorgekommen, und die europäischen Mächte befanden sich oft in peinlicher Aufregung darüber, ob wirklich auch immer die richtigen Leute hingerichtet wurden. Heute erscheint es fast spukhaft unwirklich, daß solche Dinge möglich waren. Aber wenn man nicht diese dunklen Hintergründe in Betracht zieht, so versteht man nicht die einmütige Weigerung Chinas, sich von den Fremden weiter knechten zu lassen.
Die deutschen Soldaten hatten ursprünglich in der Stadt selbst in den alten Prüfungshallen gewohnt. Als die Baracken auf dem Altstadthügel fertig waren, wurde in den Prüfungshallen eine Mittelschule errichtet, mit deren Leitung ich beauftragt wurde. Die Schule wurde noch nach dem Übergangssystem betrieben: westlicher Unterricht, d. h. deutsche Sprache und Realien am Vormittag, Unterricht in den chinesischen Fächern am Nachmittag. Die Schule war öffentlich. Die Schüler erhielten freie Kost und Wohnung. Dort sah ich auch zum erstenmal die feierliche Verehrung des Konfuzius, wie sie in jenen Zeiten in China üblich war. An der Nordwand wird eine Holztafel mit der Tempelbezeichnung des Konfuzius aufgestellt. Davor stehen rechts und links zwei Leuchter und zwei Vasen, in der Mitte ein Räuchergefäß, in dessen weiße Asche glimmende Weihrauchstäbchen gesteckt werden. Nachdem ich nach westlichem Brauch meiner Verehrung für den Meister durch eine dreimalige Verbeugung Ausdruck gegeben hatte, trat der Zeremonienmeister vor, der erst die Litanei sprach, dann die Zeremonie leitete. Dreimal knien Lehrer und Schüler auf viereckigen Kissen nieder, und jedesmal berühren sie mit der Stirn die Erde. Dann ist diese Zeremonie beendet, und die feierliche Begrüßung der Lehrer durch die Schüler folgt nach. Die Lehrer haben durch ihre Verehrung für den großen Meister die Würde erlangt, die ihnen das Anrecht auf die Ehrung durch die Schüler gibt. Ein merkwürdiger Zug bei diesen Vorgängen ist, daß, wenn der Schüler vor dem Mann, den er als Lehrer ehren will, seine Ehrenbezeugung macht, der Lehrer mit derselben Ehrenbezeugung erwidert. Alles ist auf Gegenseitigkeit aufgebaut, keine sklavische Proskynese gibt es, sondern nur freie gegenseitige Achtung. Ich habe diese alte chinesische Sitte, die das Schulleben auf die Grundlage der Ehrfurcht als der fruchtbarsten menschlichen Seelenregung stellt, immer schön und eindrucksvoll gefunden. Es wird bei dieser Ehrung nicht die zufällige Person des Anwesenden übermäßig emporgehoben, sondern es wird letzten Endes das Geistige geehrt in dem, was über uns, und in dem, was unter uns ist, und die Schüler, die durch Anhänglichkeit an denselben Lehrer verbunden sind, zeigen so auch die Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist.
In den Kreisen der Mission hat es damals manche Diskussion darüber gegeben, ob diese Konfuziusverehrung nicht etwas Heidnisches sei, und auch mir wurden schwere Vorwürfe wegen meiner Haltung von mancher Seite aus gemacht. Aber ich bekenne, daß ich diese Sitte nur schön und erhebend finden kann. Die Haltung der Ehrfurcht ist unter allen Umständen ein Vorzug. Wo sie fällt, tritt nichts an ihre Stelle, das als Symbol von gleichem Ausdruckswert sein könnte. Die innere Freiheit wird dadurch nicht gestört. Es ist kein Zeichen höherer Frömmigkeit oder tieferer Freiheit, wenn man Verehrungswürdigem, dem man auf seinem Weg begegnet, die Ehre versagt, die ihm gebührt.
Als später das Detachement zurückgezogen wurde, sank Kaumi allmählich wieder ganz in seinen Dornröschenschlaf zurück. Die Honoratioren traten wieder hervor und berieten über die Geschäfte. Einzelne Familien, die verarmten, verkauften ihre Altertümer und schieden allmählich aus den Reihen der Genießenden und Besitzenden aus. Andere, Emporgekommene, traten in die verlassenen Stellen ein. Uneinigkeit und Intrigen lähmten die Entschlußkraft. Manche der Tüchtigsten zogen sich je nach ihrem Besitzstand zur Opiumpfeife oder zum Schnapskännlein zurück. Die Revolution kam, und damit hörte die ganze Aristokratie zunächst auf, den früheren Einfluß auszuüben. Denn mit der Revolution kam ein ganz anderes System der Verwaltung auf. Das Mandschuregiment in China war aufgebaut gewesen auf einem ausbalancierten Gleichgewichtszustand von lokaler Selbstverwaltung und zentralisierter Bürokratie. Die Organe der Selbstverwaltung waren die Geschlechter, die Schenschi, Gürtelträger, wie sie genannt wurden. Sie mußten gewisse Rücksichten nehmen auf die verschiedenen Zünfte und Gilden, aber im wesentlichen hatten sie die Macht, wenn sie einig waren und das Interesse der Bevölkerung wahrten. Die Zentralregierung war vertreten durch den Kreisbeamten, den die Portugiesen Mandarin und die Engländer Magistrat zu nennen pflegten. Er hatte richterliche und verwaltungsführende Kompetenzen. Die Kreisbeamten waren direkt vom Kaiser ernannt, und es war festes Gesetz, daß keiner in seiner eigenen Provinz Beamter werden durfte. Dadurch sollte die Gefahr des Zusammenhaltens der unteren Instanzen gegen die Zentralregierung vermieden werden. Denn der Kreisbeamte war nach oben hin abhängig von den Bezirksbeamten und weiterhin den Provinzialgouverneuren, die alle Repräsentanten der Zentralregierung in Peking waren und dieser unterstanden. Immerhin war es einigen mächtigen Männern unter ihnen gelungen, zeitweise eine gewisse selbständige Macht in ihren Provinzen zu bilden, weshalb in Europa die falsche Bezeichnung »Vizekönig« für die Provinzialgouverneure und Generalgouverneure aufkam. Li Hung Tschang, Tschang Tschi Tung und später Yüan Sch'ï K'ai waren Beispiele dieses Typs. Aber auch sie waren letzten Endes bedingungslos vom Hof abhängig und konnten versetzt und ihrer Macht beraubt werden, wenn das aus irgendeinem Grunde nötig wurde.
Dieses System, in dem die Interessen der Selbstverwaltung und der Zentralregierung sehr gut zum Ausdruck kamen, war solange wirkungsvoll, als die Beamten ihre Stellung längere Zeit innehatten, so daß sie sich mit den lokalen Verhältnissen und Bedürfnissen wirklich vertraut machen und zu einem produktiven Zusammenarbeiten mit den Vertretern der Ortsbevölkerung kommen konnten. Aber nachdem der Ämterkauf unter der Mandschuherrschaft immer mehr eingerissen hatte, mußte man alle die vielen Anwärter, die für die Bezahlung ihres Patentes oft größere Beträge entlehnt hatten, möglichst zahlreich an die Futterkrippe lassen, so daß sie Gelegenheit hatten, die angelegten Kapitalien möglichst rasch herauszuwirtschaften. So wurden denn die einzelnen Posten oft jahrzehntelang nur vertretungsweise besetzt. Diese stellvertretenden Beamten, die wußten, daß sie kaum länger als ein Jahr auf ihrem Posten sein würden, konnten bestenfalls die laufende Routinearbeit erledigen, darauf bedacht, durch Sporteln und Spesen soviel wie möglich herauszuwirtschaften, um dann auf der Leiter des Avancements so rasch wie möglich weiter zu klettern. Auf diese Weise kam Hast und Unsicherheit in das öffentliche Leben. Nichts wurde mehr gründlich erledigt; alles wurde irgendwie zurecht gestutzt; Schlamperei und Oberflächlichkeit war die Folge. Diese Umstände waren der Hauptgrund zum Umsturz. Die Beamten waren im Durchschnitt lange nicht so korrupt, wie man in Europa dachte. Das hätte sich die Bevölkerung schon gar nicht gefallen lassen, die mit Krawallen und Protesten sofort bereit war, wenn ein Beamter in wirklich unberechtigter Weise sich auf Kosten der Steuerzahler bereichern wollte. Aber das System hatte aufgehört wirksam zu sein, weil der Thron nicht mehr den nötigen Ernst hatte.
Jetzt ist dieses Doppelspiel von Zentralregierung und lokaler Selbstverwaltung ausgeschaltet. Seit der Revolution sind die Beamten ebenfalls aus Angehörigen der eigenen Provinz wählbar. Damit hat sich das Verhältnis geändert. Die lokale Zusammenarbeit ist die Grundlage geworden. Das Verhältnis der Provinzen zur Zentralregierung hat sich gelockert. Die Steuern werden in den Provinzen verbraucht. Der Zentralregierung stehen nur noch die Zölle und die – alle verpfändeten – Einnahmen aus dem Salzregal, den Eisenbahnen usw. zur Verfügung. Wenn die Verhältnisse, die durch dauerndes Dazwischenreden der fremden Mächte gegenwärtig vollkommen unhaltbar geworden sind, sich wieder konsolidieren, dann wird China ein ziemlich lose gefügter Bundesstaat werden.
Die Verhältnisse in Provinz und Stadt wiederholten sich im kleinen in den Dörfern, nur daß hier der Ortsvorstand, der aus der Gemeinde selbst hervorging, dem Kreisbeamten gegenüber die verantwortliche Persönlichkeit war, ebenso wie der Büttel (Tipao) die Verantwortung in polizeilicher Hinsicht trug.
Auch auf dem Lande hatte ich mit Organisation von Elementarschulen ziemlich viel zu tun. Die Umstellung dieser Anstalten auf einen neuzeitlichen Betrieb war keine leichte Sache. Eine chinesische Dorfschule in der Vergangenheit war etwas ganz anderes, als man in Europa unter Schulen versteht. Die Kulturbehörde der Zentralregierung hatte mit Schulwesen gar nichts zu tun. Von Seiten der Regierung wurden nur die Prüfungen der verschiedenen Grade abgehalten, und es blieb den Teilnehmern überlassen, auf welche Weise sie sich darauf vorbereiten wollten. Die Schulen waren daher alle private Veranstaltungen. Es konnte etwa ein Gelehrter ein Erziehungsheim eröffnen, zu dem je nach seinem Ruf aus der näheren oder ferneren Umgegend Schüler herbeikamen, die in Lebensgemeinschaft mit ihm an ihrer literarischen Ausbildung arbeiteten und sich auf die staatlichen Prüfungen vorbereiteten. Die Anfangsstudien wurden meist auf dem Lande betrieben. Entweder stellte die Dorfgemeinde entbehrliche Räume eines Tempels zur Verfügung, ein Lehrer wurde angestellt, die Kinder kamen zum Unterricht herbei und bezahlten ihre kleinen Beiträge zum Unterhalt des Lehrers, oder größere Familien richteten wohl in einer Ahnenhalle Familienschulen ein. Oft taten sich auch ein paar Familien zusammen und stellten gemeinsam einen Lehrer an für ihre Kinder.
Der Lehrer hatte nun den ganzen Tag über, von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht, die Aufsicht über die Kinder, höchstens daß da eine Mittagspause eintrat, wo die Kinder nicht beim Lehrer wohnten, oder der Lehrer nicht im Hause der Schüler wohnte. Natürlich konnte der eigentliche Unterricht nicht die ganze Zeit dauern. Die Schüler beteiligten sich gelegentlich an den häuslichen Arbeiten des Lehrers, zu anderen Zeiten beschäftigten sie sich mit Lernen und Schreiben. Der Lehrer nahm mit jedem einzelnen Schüler sein Pensum durch, bezeichnete ihm zunächst die Aussprache der Zeichen des zu lernenden Textes. Dann setzte sich der Schüler hin und memorierte laut in singendem Rhythmus. Da nun je nach der Länge des genossenen Unterrichts und nach der Begabung der Schüler die Pensen verschieden waren, so war der Zusammenklang der memorierenden Stimmen für ein unkundiges Ohr wahrhaft betäubend. Aber die chinesischen Schüler haben gute Nerven. Ungestört singt jeder sein Pensum her, während sein Nachbar ganz andere Töne erklingen läßt. Weithin summt es aus einer solchen altchinesischen Schule heraus wie aus einem im Schwärmen begriffenen Bienenstock. Wenn dann der Schüler seinen Abschnitt auswendig konnte, so trat er vor den Lehrer und sagte ihn auf. Dabei mußte er, was sehr merkwürdig aussah, dem Lehrer den Rücken zukehren. Der Grund war aber ein doppelter: einmal wurde auf diese Weise vermieden, daß der Schüler heimlich ins Buch einsah, das der Lehrer in der Hand hielt, und dann war der dargebotene Rücken gleich bereit zur mahnenden Bearbeitung mit dem Lineal, falls der Schüler stockte oder sonst sich faul erwies.
Ähnlich ging das Schreibenlernen vor sich. Der Lehrer malte die Zeichen in großem Format mit Tusche auf einen Bogen. Darüber wurde ein durchscheinendes Papier gelegt, auf dem der Schüler mit Tusche die Umrisse des Zeichens nachmalte. Der Lehrer korrigierte dann die Leistungen. Striche durch die so gemalten Buchstaben bedeuteten, daß sie schlecht waren, Ringe galten als Lob. Die chinesische Schrift ist sehr schwer zu schreiben, weil die Pinselführung leicht und bequem sein muß; darum hat von je her in China das Schreiben als eine Kunst gegolten, und Schriftrollen von berühmten Malern sind nicht weniger gesucht als ihre Gemälde.
Die chinesische Schrift war ja ursprünglich eine hieroglyphische Bilderschrift. Allmählich wurden die Zeichen dann als Silbenzeichen angewandt und durch beigefügte Klassenzeichen näher bestimmt. Je nach der Art ihrer Zusammensetzung unterscheidet man bildliche, begriffliche und lautliche Zeichen. Die bildlichen Zeichen waren etwa: ein Kreis mit einem Punkt im Zentrum = Sonne, ein Halbkreis = Mond usw.; die begrifflichen Zeichen waren aus mehreren bildlichen zusammengesetzt. So bedeuten z. B. zwei Bäume = Hain, drei Bäume = Wald, Frau und Sohn = gut, Frau unter dem Dach = Friede, Schwein unter dem Dach = Familie, Vögel im Nest = Westen, Abend.
Die lautlichen Zeichen bestehen aus einer Hälfte, die den Laut angibt (phonetischer Bestandteil), und einem Klassenzeichen (Radikal), das die Klasse angibt, zu dem die Sache gehört: z. B. T'ung = gemeinsam.
T'ung mit dem Klassenzeichen »Metall« bedeutet »ein Metall, das T'ung gesprochen wird«, d. h. Kupfer.
T'ung mit dem Klassenzeichen »Baum« bedeutet einen Baum, der T'ung gesprochen wird, d. h. die Paulownia
oder Tsch'ong = vollenden.
Tsch'ong mit dem Klassenzeichen »Erde« bedeutet »etwas aus Erde Gemachtes, das Tsch'ong gesprochen wird«, d. h. ein Stadtwall.
Die chinesische Sprache ist einsilbig und die Wörter sind alle unveränderlich, so daß sie als Grammatik nur Syntax, aber keine Formenlehre hat. Die Zahl der vorkommenden Silben ist sehr beschränkt. Es gibt z. B. kein »r« im Chinesischen, und die Silben endigen nur auf Vokale oder n und ng. Der Anlaut besteht nur aus einfachen Konsonanten. Die beschränkte Anzahl der vorkommenden Silben reicht natürlich bei weitem nicht aus, um für jeden Begriff einen besonderen lautlichen Ausdruck zu finden. Das ist bei der geschriebenen Sprache keine Schwierigkeit, da jeder Begriff ein besonderes Zeichen hat. Für die gesprochene Sprache aber entsteht die Möglichkeit der Verwechslung, da viele Zeichen gleich gesprochen werden. Die Sprache ist daher auf den Ausweg gekommen, durch die Art der Intonation die verschiedenen gleichlautenden Silben zu unterscheiden. So heißt z. B. Hao in fragendem Ton gesprochen »schön« und in befehlendem Ton gesprochen »lieben«. Dennoch kommen Mißverständnisse nicht selten vor. Im schlimmsten Fall schreibt man die Worte entweder mit Bleistift auf Papier oder mit dem Finger in die Hand.
Die neue chinesische Schrift und Umgangssprache ist übrigens so geartet, daß solche Mißverständnisse viel weniger vorkommen als früher.
Die alten chinesischen Schulen waren in den letzten Jahrhunderten immer mehr in einen äußerlichen Betrieb hineingekommen, durch den hauptsächlich die rein gedächtnismäßigen Fähigkeiten der Schüler entwickelt wurden. Der Unterricht beschränkte sich im wesentlichen auf literarische und geschichtliche Fächer. Aber auch die alte Weisheitsliteratur wurde vielfach einfach vom Gesichtspunkt ihrer Verwendbarkeit für die Prüfungen aus behandelt. Die Prüfungen aber waren seit der Mingzeit immer mehr ins rein formalistische Fahrwasser gekommen. Eine feste Aufsatzform, die aus acht Teilen bestand – in großer Ähnlichkeit mit der früher auch in Europa üblichen Form der Chrie – war das Schema, in das die Behandlung der den vier heiligen Büchern entnommenen Themata gepreßt wurde. Wer dieses Schema gewandt und geistvoll zu handhaben wußte, bestand sein Examen, auch wenn die Gedanken ganz an der Oberfläche blieben. Oft kam es natürlich auch vor, daß bei den Prüfungen betrogen wurde. Es gab kleine Bücher mit allen möglichen Aufsätzen, die man im Ärmel verschwinden lassen konnte, und die in winzigem Druck ein Kompendium des gesamten Examenspensums enthielten. Es galt nur im Register jeweils das richtige Thema aufzuschlagen. Griff man daneben, so konnte man den schönsten Aufsatz machen und fiel dennoch durch. Das großartigste in dieser Art war ein schöner seidener Examensmantel, dessen weißseidenes Futter von oben bis unten eng mit Examensaufsätzen beschrieben war. Ein Taschentuch, das ihm beigegeben war, enthielt das Inhalts- und das Ortsverzeichnis der betreffenden Aufsätze. Ein kurzes Unwohlsein genügte, um sich an einem stillen Plätzchen den betreffenden Ort aus dem Futter zu schneiden und mit Glanz die Prüfung zu bestehen – falls man nicht erwischt wurde. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß das Gebot »Du sollst dich nicht erwischen lassen« mit großer Gewissenhaftigkeit in China befolgt wurde.
Bei diesen Umständen hatte der Lehrer einer Dorfschule ein ziemlich behagliches Dasein. In seiner Haushaltung hatte er stets die Arbeitskräfte der Schüler zur Verfügung, und das Lernen mußten die Schüler auch selbst besorgen. Er hörte nur zu und züchtigte die Faulen mit dem Lineal. Gar oft an heißen Tagen kam es vor, daß der Lehrer fest schlief wie ein Schöffe bei einer Gerichtsverhandlung. Oft auch hatte er eine Kanne Schnaps neben sich stehen, den er allmählich in kleinen Täßchen verschwinden ließ. Von Zeit zu Zeit prügelte er wohl auch einen Schüler, um sich munter zu erhalten. Wenn er aber dann doch zum Opfer fiel, so dauerte es oft lange, bis die lautlernenden Schüler es merkten, wie die alten Heiden oft noch lange ihren Göttern opferten, nachdem sie schon gestorben waren.
So war es denn eine wirkliche Notwendigkeit, daß das gesamte Schulwesen auf eine gesunde Grundlage gesetzt wurde. Dies geschah dadurch, daß man die Prüfungen abschaffte, und statt dessen öffentliche Schulen mit festen Lehrplänen einführte. Natürlich fehlte es an Lehrern. Man wandte sich zunächst an Japan, machte dabei aber nicht immer gute Erfahrungen, denn naturgemäß waren es nicht gerade die besten japanischen Lehrer, die sich in eine chinesische Landstadt setzten. Ich kannte einen, der im Physikunterricht immer nur Akustik durchnahm, die er den Schülern dadurch beibrachte, daß er auf einem verstimmten Harmonium allerlei Gassenhauer vorspielte. Ähnliches mag auch an anderen Orten vorgekommen sein. Es wurden abgekürzte Kurse und Lehrerbildungsanstalten eingerichtet, um den alten Lehrern einen modernen Schliff zu geben. Das Volk aber nannte die Tsch'uan Hsi So = Übungsanstalten »Tsch'uan I So« = Bekleidungsanstalten und die Schi Fan Hsüo T'an = Lehrerschule nannte man »Tschi Fan Hsüo T'ang« = Eßschulen, um damit anzudeuten, daß die Tagegelder, die die Besucher jener Schulen bekamen, das Wichtigste dabei waren. Jetzt sind die Verhältnisse längst anders geworden. Heutzutage verschmähen es selbst Absolventen der Pekinger pädagogischen Reichsuniversität nicht, auf die Dörfer als Schulmeister zu gehen, um gründliche Arbeit der Volksbildung zu leisten. China macht rapide Fortschritte in der Zahl und Güte seiner Schulen.
Ich hatte aber in jenen Zeiten viel zu tun mit der Einrichtung jener Dorfschulen. Ich mußte oft weite Reisen machen. An einer der Bahnstationen erwartete mich z. B. allemal der Maultierkarren des Schulvorstandes, eines alten Freundes von mir, dem daran lag, im Schulwesen seines Heimatdorfes wirklich etwas Tüchtiges fertig zu bringen. Da galt es dann, den ganzen Tag über, durch Straßenstaub und Sommersonne sich die chinesische Landstraße entlang über Berg und Tal holpern zu lassen, bis man bei Sonnenuntergang ankam. Durch diese Reisen wurde mir die frühere Strafe des Räderns aus eigenem Erleben vollkommen geläufig. Zunächst mußte ich immer meinen bis in die Tiefen erschütterten Magen wieder in Ordnung bringen. Zu diesem Zweck hatte der rührende Mann in der Regel ein üppiges Essen mit Kornschnaps aufgestellt. Auf dem Lande gibt es in China keine Luxusküche. Das Fleisch, man nahm mir zuliebe meist solches von Rindern, vor dem die Dorfbewohner – meines Erachtens mit vollem Recht – Abscheu empfanden, war zäh und mit Bohnenöl ungenießbar gemacht. Die Garneelen waren alt und rochen, die schwarzen Eier waren wirklich nicht mehr ganz frisch, obwohl sie kaum ein paar Wochen alt waren. Der Bohnenkäse schmeckte brenzlich, und der Schnaps war fuselhaltig. Kurz, das Gastmahl pflegte das zu vollenden, was die Reiseerschütterung etwa noch zu tun versäumt hatte. Aber nach einer mehr oder weniger übel verbrachten Nacht inmitten von Moskitos und anderen Tieren war ich in der Regel am nächsten Morgen imstande, die Schule mit ihren frischen, lernbegierigen Jungens zu inspizieren. Und im Sonnenlicht vergaßen sich die Strapazen dann immer schnell wieder.
Mein alter Freund war das Muster eines frommen, gütigen Patriarchen. In seiner Familie herrschte Ordnung, solange er lebte. Das Haus erinnerte lebhaft an die Familie jenes Musterhausvaters vor vielen hundert Jahren, in der neun Geschlechter gleichzeitig vertreten waren, die in solcher Eintracht lebten, daß selbst die Hunde ihrem Beispiel folgten.
Diese alte patriarchalische Familienform, bei der auch die fromm verehrten Ahnen mit den lebenden Nachkommen eine große Gemeinschaft bildeten, findet sich auf dem Land in China noch immer und wird sich noch lange finden, denn China ist in seiner Masse ein Bauernvolk, und Bauernvölker haben feste, dauernde Sitten.