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In China ist das Leben nicht willkürlich. Bei aller Freiheit sind ihm feste Fäden eingewebt, die es tragen und ordnen, die ihm Licht und Schatten, Glück und Unglück zur Harmonie gestalten. So fließt das Leben dahin wie am Webstuhl das Gewebe. Erlebnisse schießen zu von rechts und links, buntglitzerndes Glück und farblose Trauer, wie die Schiffchen mit dem Einschlag des Fadens herüber und hinüberschießen. Aber der Zettel liegt fest, der allem die Richtung gibt und es ordnet zu festen Figuren, aus deren Formen der Sinn sprüht, zu dem das wirre Leben sich verknüpft.
Das Jahr ist gegliedert durch seine Feste, die Erlebnisse sind geordnet durch Sitten. China hat keine Wocheneinteilung, und die regelmäßige Ruhe der Sonntagsfeier beginnt erst jetzt von den modernen Schulen aus sich über das Land zu verbreiten. Darum waren die Feste im alten China besonders wichtig. Sie schmückten das Leben mit den Blumen der Freude. Der Beginn dieser Feste ist das Neue Jahr, das in den ersten Anfang des wiederkehrenden Frühlings fällt. Es wird meist im Laufe des Februar gefeiert. Denn China hat noch immer trotz offizieller Einführung des gregorianischen Kalenders seinen alten guten Mondkalender im stillen beibehalten. Dieser Mondkalender steht dem Menschen nahe, führt ihn unmittelbar hinein in den Lebenszusammenhang mit dem kosmischen Vorgängen. Die Monate sind wirkliche Monde, sie beginnen mit dem Neumond, und am 15. ist Vollmond. Man braucht nur einen Blick auf den klaren Himmel zu werfen, um über den Kalender auf dem laufenden zu sein. Neben dem Mond kommt im chinesischen Kalender auch die Sonne zu ihrem Recht. Vierundzwanzig Sonnentermine sind in vierzehntägigen Abschnitten unabhängig vom Monddatum über die Zeit zerstreut und bilden die Kreuzungspunkte der Sonnenzeit mit der Mondzeit. Sie dienen zur Orientierung des Ackerbaus, und ihre Namen stehen großenteils in Beziehung zu dem Stand der Saaten. Am 5. Februar ist Frühlingsanfang, am 19. kommt Regenwasser, dann Erwachen der Winterschläfer, Frühlingsäquinoktium, reine Klarheit, Kornregen, Sommeranfang, kleine Fülle, Ährenkorn, Sommersolstiz, kleine Hitze, große Hitze, Herbstanfang, Ende der Hitze, weißer Tau, Herbstäquinoktium, kalter Tau, Herabkommen des Reifs, Winteranfang, kleiner Schnee, großer Schnee, Wintersolstiz, kleine Kälte, große Kälte. Diese Termine liegen nach dem Sonnenkalender ziemlich fest. Da aber die Monate nach dem Mond sich richten, so fallen die Termine nicht immer auf denselben chinesischen Monatstag. Die Monate haben neunundzwanzig oder dreißig Tage. Die fehlenden Tage werden jeweils zusammengelegt zu Schaltmonaten, die alle paar Jahre eingefügt werden, damit Mond und Sonne in Einklang bleiben. Das war eine wichtige Sache, und jedes neue Herrscherhaus hatte die heilige Pflicht, für die Übereinstimmung zwischen den Zeiten des Himmels und den Gaben der Erde zu sorgen. Diese astronomische Einstellung des Lebens hat dann weiterhin dazu geführt, daß je nach dem Sonnen- und Sternstand astrologische Gelegenheiten sich ergaben, die für verschiedene Unternehmungen besonders günstig sind. So sind noch jetzt im chinesischen Kalender die günstigen Tage angegeben für die Hochzeit oder Beerdigung, für Schulanfang, Bauarbeiten, Besuche bei Bekannten, Baden, Haarschneiden und alle die täglichen Arbeiten. Manche Tage sind auch für gar nichts günstig. An denen bleibt man am besten zu Hause in regelmäßigem Tun, ohne etwas Neues anzufangen. Aber nicht nur die Tage haben ihre Beziehungen, auch die Jahre haben ihren besonderen Charakter. Die Jahre haben einen großen Kreislauf von zwölf Zeichen, der dem Tageskreislauf der Doppelstunden entspricht. Jedes dieser Zeichen ist einem Tierbild zugeordnet und erhält durch den Charakter des Tieres seine Eigenschaften. So ist die Mitternacht und der Beginn der Jahreszyklus der Maus zugeordnet, dann kommt Ochse, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Widder, Affe, Hahn, Hund und Schwein. Diese zyklischen Zeichen dürfen nicht mit den Zeichen des Tierkreises verwechselt werden. Daneben gibt es noch einen uralten Zehnerzyklus, der mit dem Zwölferzyklus kombiniert den großen Zyklus der sechzig Jahre ergibt, die in China unseren Jahrhunderten entsprechen. Dieses Beziehungsvolle der Zeit macht das Leben bedeutend. Die Tage sind nicht die kalten, bedeutungslosen Nummern wie bei uns, sondern jeder hat sein besonderes Gesicht und steht mit seinen besonderen Gaben und Möglichkeiten bereit. So gibt der Wechsel der Horen dem Leben seine Ordnung.
Was nun das neue Jahr betrifft, so ist es eine Zeit der allgemeinen Fröhlichkeit. Das alte Jahr mit seinen Sünden und Schulden ist vorüber. Die ausstehenden Rechnungen sind eingetrieben, soweit die Schuldner nicht entflohen sind. Nun geht man daran, von den Vorräten festlichen Schmuck für die Häuser und schmackhafte Kost für die gemeinsamen Mahlzeiten zu besorgen. Wer es irgend kann, reist um diese Zeit in die Heimat. Neujahr ist das Fest der Familie. Eltern und Kinder sind beisammen. Die Söhne kommen aus der Ferne heim und bringen mit an Geld und Gaben, was sie im Getriebe des Lebens draußen ersparen konnten. Auch die neuverheirateten Töchter kehren manchmal zur Familie heim und erzählen Eltern und Geschwistern, was sie erlebt im neuen Hause und in der neuen Familie, der sie jetzt angehören. Auch mit den Himmlischen ist man in Verbindung. Der Herdgott, dessen Bild das ganze Jahr über dem Herd hängt und der stumm und still alles mit angesehen hat, was in der Familie während des Jahres an guten und bösen Taten geschah, ist am 24. des zwölften Monats nach dem Himmel gegangen, um dem Himmelsvater Bericht zu erstatten. Man hat ihm mit Feuerwerk und Schüssen das Geleite gegeben, nicht ohne ihm zuvor den Mund mit süßem Kleister zu verstreichen, damit nichts Unerfreuliches ihm über die Lippen komme. Nach Neujahr wird er wieder zurückkehren. Da muß man ihm ein neues Bild über den Herd hängen, wo er seinen Platz wieder einnimmt. Auch mit den Ahnen wird zur Neujahrszeit die Verbindung hergestellt. Ihre Bilder werden aufgehängt. Sie werden eingeladen, vom Familienmahle ihren Opferanteil entgegenzunehmen. So wacht man bei verschlossenen Türen, die durch die beiden Türgenien und rote Glückszeichen vor bösen Geistern geschützt sind, unter sorgfältigster Vermeidung aller unheilbedeutenden Worte die Mitternacht heran.
Vor dem Neujahrsfest sind alle Straßen mit ihrem Neujahrstreiben bunt geschmückt. Hier stehen Laternen feil in den abenteuerlichsten Gestalten: vom Goldfisch, der aus roten Augen glotzt, bis zur schlanken Jungfrau, die in zartem Licht verklärt blickt, sind alle Formen und Farben vertreten. Papierdrachen harren der Zeit, da sie die Lüfte bevölkern werden, wenn erst der Südwind aufgewacht ist und die weiten Ebenen vom Winterdruck der Luft befreit behaglich aus dem alten Staub auftauchen. An den Mauern hängen bunte Bilder zum Verkauf: meist runde, wohlgenährte Kinder darstellend oder die trauten Heiligen von Haus und Herd: Kuanti, den Schützergott mit seinem treuen roten Gesicht; Kuanyin, die Göttin der Barmherzigkeit mit ihrem Falken, der die Kette irdischer Gebete, die zu ihr aufsteigen, bringt, und ihrer Vase mit den segensreichen Zweigen, ihrer Dienerin und dem munteren Knaben, der ihr seit Eindringen der katholischen Mission in der Mingzeit auf den Schoß gesetzt wurde und so die Ähnlichkeit mit der Mutter Gottes vollendete, obwohl der Sinn des Bildes die söhnespendende Kuanyin – verschieden ist. Auch der Reichtumsgott ist in Abbildungen vorhanden. Er fehlt in keinem Laden auf dem Lande. Oft sind es sogar zwei, rings umtürmt mit Schätzen und Silberbarren. Die alte Mutter vom Taischan wird ebenfalls feilgeboten, daß man sie unter die Hausgötter hängen kann.
Aber nicht nur diese Bilder frommen Glaubens und alter Sitte hängen zum Verkauf aus. Schweizer Schneeberge und wilde indische Tiger hängen neben modernen Stutzern und Dämchen, die in ihren kurzen, modernen Kleidern wie Europäerinnen zu lächeln versuchen. Das alles ist in starken bunten Farben gemalt, die unverkennbar den deutschen Anilinfabriken entstammen. Namentlich ein grelles Blau, Violett und Grün wird bevorzugt.
Außer den Bildern sieht man künstliche Blumen und Scherenschnitte ausgestellt, dünne zierliche Stickmuster aus weißem Papier, die man auf die Schuhe klebt als Vorbild für die Stickerei, zarte rote Spitzenvorhängchen, die am Neujahrstag über das Tor gehängt zu werden pflegen, um Dämonen abzuhalten. Ein reiches Phantasieleben bewegt sich in diesen graziösen Scherenschnitten. In einem anderen Verkaufsstand sind Schattenbilder ausgestellt: allerlei Figuren, die aus farbiger, durchscheinender Eselshaut geschnitten sind und die an Drähten hinter einer beleuchteten Papierwand wie Marionetten bewegt werden. Mit diesen Schattenbildern werden ganze Dramen aufgeführt, eine Spezialität der Pekinger Gegend.
Natürlich gibt es auch allerlei Kleiderstoffe, Hausrat, Weihrauch, Kinderspielzeug aus Holz, Ton und Papier in größter Auswahl zu kaufen. Lustig wirkt der Unterschied zwischen dem modernen Chinesen, der Autos und Eisenbahnzüge aus Blech anbietet, und dem alten Mann schräg gegenüber, der noch immer seine stabilen kleinen hölzernen Reisewagen feil hat. Dort werden Schuhsohlen verkauft. Sie bestehen neuerdings aus Leder, weil das fester ist als das Papier oder der Filz, die früher verwendet wurden. Die zugehörigen Schuhe machen die weiblichen Familienmitglieder selbst. Doch auch für den Augenblick ist gesorgt. Fliegende Garküchen verkünden durch ihre Düfte, welche Herrlichkeiten den ruhebedürftigen Jahrmarktsbesucher erwarten, der sich bei ihnen niederläßt.
In einer Ecke hat sich ein Geschichtenerzähler eingefunden, der zum rhythmischen Schlag der Trommel eine Geschichte rezitiert. Guckkästen sind aufgebaut, durch deren Gläser man wechselnde Bilder sieht.
Auch die Tempel werden besucht, besonders der Tempel des Taischan vor dem Osttor. Diese Gottheit waltet über das Ende und den Anfang aller Dinge. Um die Neujahrszeit finden sich Scharen von Opfernden ein, wenn die Wende der Zeit aufs neue den Gedanken an den Wechsel alles Irdischen nahegelegt. Den ganzen Tag brennen dann hier die Weihrauchkerzen, und die Gläubigen werfen sich betend vor den Götterbildern nieder.
In den übrigen Tempeln in Peking und seiner Nachbarschaft ist ebenfalls um die Neujahrsnacht lebhafter Betrieb. Denn Neujahr ist in China nicht ein Tag, sondern ein halber Monat. Am Vollmondstag ist Laternenfest, und die Zwischenzeit ist mit Erholungen und allen Arten von Vergnügungen ausgefüllt. Im Tempel des Feuergottes, der wie Sankt Florian angerufen wird, um das schädliche Feuer, über das er waltet, von den eigenen Penaten fernzuhalten, ist während der ersten Wochen des Jahres großer Juwelenmarkt. Die Höfe des Tempels sind mit Matten überdeckt, und ein nicht endendes Gewühl von Menschen drängt sich durch die Schätze. Man lernt die Farben der Märchen von Tausendundeiner Nacht verstehen, wenn man hier einmal durchgegangen ist. Die Dinge, die umherstehen, haben alle möglichen Formen: Statuetten aus Lapislazuli oder Topas oder dem blassen wächsernen Nephrit, Vasen von Amethyst und Chrysopras, Schalen von finsterädrig fließendem Achat, Kugeln aus Bergkristall, in deren lichten Tiefen sich die Zukunft zu trüben Nebeln ballt, Anhänger aus Bernstein oder Karneol und Ketten aus Perlen und aus bemalten Porzellankugeln. Ringe sind da, aus denen Saphire blitzen und Rubine sprühen. Vor allem die Tabatieren! Sie haben die Form von kleinen Väschen oder Fläschchen, alle möglichen Gestalten und Materialien finden sich: Elfenbein und Jade und grüner, rotdurchstreifter Moosachat. Das Merkwürdigste wohl, was unter all diesen Dingen lag, war eine Tabatiere aus der Mongolei aus blassen weißen Menschenknochen geschnitzt und mit Silber und Türkisen eingefaßt! Die Händler stehen ruhig mit ineinandergeschobenen Ärmeln da. Man redet ein paar Worte, faßt ein Väschen an, fragt im Vorübergehen nach dem Preis und stellt es wieder weg. Vielleicht kommt man zurück und macht ein Gegenangebot. Und schließlich wird man handelseinig.
Beim Tempel der weißen Wolke sind Teehäuser errichtet. Die Pilgerzüge kommen von weit her, um hier ihre Verehrung kundzutun. Aber es ist auch für Volksbelustigung gesorgt. Pferderennen finden statt, und bunte Laternen geben dem Getriebe bei Nacht einen heiteren Glanz. Beim Gelben Tempel vor dem Nordtor ist ebenfalls ein Markt mit Rennen und berühmten Maskentänzen, bei denen die Teufel und bösen Geister verscheucht werden. Von weit her kommen die Lamas und treiben ihre Zauberkünste. Am meisten Menschen aber werden angelockt von den großen Maskentänzen am Lamatempel Yung Ho Kung. Wilde Tänze von schrecklichen Masken bewegen sich zu den markerschütternden Tönen der Muschelhörner und den tiefen Trommelwirbeln. Der ganze Platz vor dem Tempel ist mit Menschen übersät. Man plaudert, man lacht, man drängt sich. Manche klettern auf die Bäume und Mauern, und die großen Steinlöwen vor dem Tor sind mit Reitern ganz überzogen, die alle von da oben besser sehen wollen, aber häufig wieder in den Menschenbrei herunterrutschen, wo sie mit Lachen empfangen werden. Priester mit langen Peitschen schlagen nach den unsichtbaren Teufeln. Aber die Menschen, die in der Nähe sind, weichen auch zurück, wenn der Knall ihnen näherkommt. Polizisten mahnen und ordnen. Alles macht die Hälse lang, denn jetzt kommt der Zug heran. Mit Peitschen und Trompeten, mit Lärm und Getöse erscheinen all die wilden Tier- und Menschenmasken, und der Teufel, ein dürres Wesen mit spitzem, tückischem Knochenkopf, wird ausgetrieben. Bei einem zweiten Tanz am folgenden Tag wird er verbrannt. Dann hat die Welt wieder Ruhe für einige Zeit vor diesem Unhold. – Bei Nacht knattert und knallt es durch die Luft, Feuerregen, Raketen und krachende Frösche zischen in allen Straßen. Aber auch großes Stangenfeuerwerk wird abgebrannt. Ein Korb wird an einem hohen Gerüst hochgezogen und die Zündschnur angebrannt. Dann fallen die Gebilde aus seinem Innern heraus: Türme, Pagoden, Pavillons, Bäume, Menschen, Pferde. Dünne Schnurgerüste geben die Konturen, die von oben bis unten umsprüht sind von den mannigfachen Farben des Feuerwerks. Ein Gebilde um das andere stürzt heraus und bleibt in der Luft hängen. Manche drehen sich phantastisch, manche stehen unbewegt in ruhigem Glanz. Endlich ist es, als ob eine Explosion erfolge: nachdem das letzte Feuerbild in sich zusammengesunken, macht ein dumpfer Knall der ganzen Phantasmagorie ein Ende. Die Menge zerstreut sich, und der Mond hängt schließlich einsam tief im Himmel wie eine runde Papierlaterne, und wenn längst schon alles still geworden ist, gießt er immer noch sein graues Samtlicht über das schlafende Meer der Dächer hin.
Wenn das Laternenfest vorüber ist, dann kommt die Arbeit wieder, und das Leben geht seinen gewöhnlichen Gang weiter. Namentlich auf dem Land wird die Rückkehr zur Feldarbeit durch das Fest des Frühlingsanfangs bezeichnet. Wenn der Kaiser auf dem Anger vor der Stadt pflügte, so fand im ganzen Land eine ähnliche Feier statt. Die Beamten zogen vor die Stadt, und die Zeremonie des Pflügens wurde mit einem Papierochsen vollbracht. Die Farbe des Ochsen war den verschiedenen Jahren entsprechend verschieden. Nach dem Pflügen wurde in fröhlichem Streit der Papierochse unter die Bevölkerung verteilt, und wenn einer ein Horn oder ein Bein erwischte, so trug er es beglückt nach Hause in dem festen Bewußtsein, daß es fürs ganze Jahr Glück bringen werde. Selbstverständlich lockern sich alle derartigen Volkssitten jetzt immer mehr. Sie flüchten aufs Land, sie werden zu örtlichen Besonderheiten. Sie versteinern oder kommen ab. Das ist der Lauf der Zeit.
Das Konfuziusopfer, das im Frühling und Herbst dargebracht zu werden pflegt, ist z. B. aus dem öffentlichen Bewußtsein fast ganz ausgeschieden. Früher war es ein überaus festlicher Akt, als der Kaiser in eigener Person seine Huldigung vor dem Vertreter der höchsten geistigen Ideale darbrachte, als noch die heiligen Tänze mit Flöten und Fasanenfedern, mit Beilen und Schildern zu den Klängen der alten Musik vorgeführt wurden, als vor dem Meister und seinen vier Getreuen die Opfergaben an Seide, Wein, Feldfrüchten, Speisen und die drei Ganzopfer: Stier, Schwein, Schaf ausgebreitet wurden. Eine feste Zeremonie schrieb den Hergang vor. Erst wurden die Geister der Verehrten empfangen. Das Abbrennen von Weihrauch, der Klang der Pauke unter Festgesang und Reigen waren Zeichen ihres Nahens, das durch tiefe Verneigungen begrüßt wurde. Dann kam der heiligste Teil: die Darbringung der Opfergaben und ihre Zueignung an die Geister. Zum Schluß wurde den Geistern das Geleite gegeben und die Opfergaben abgeräumt. Die Seide und das Opfergebet wurden verbrannt, die übrigen Gaben an die Gehilfen des Opfers verteilt. Der Konfuziusdienst war ganz ohne Götterbild. Allein eine Tafel bezeichnete durch ihre Inschrift den Platz, wo der Heilige während der Opfer anwesend gedacht ward.
Dieser Opferdienst, der ja nur eine besonders feierliche Art des Tempeldienstes überhaupt ist, gibt manche Aufklärung über Dinge, die in chinesischen Tempeln dem besuchenden Fremden oft auffallen. Man kommt in einen Tempel voll von schrecklichen oder freundlichen Göttergestalten. Der Führer erklärt alles, bleibt vollkommen kalt, berührt die Bilder, ja beteiligt sich wohl oft selbst, wenn die Besucher ihre mehr oder minder geistvollen Witze machen. Man hat daraus geschlossen, daß der Chinese irreligiös sei und seine eigenen Götter verlache. Das ist jedoch nicht der Fall. Diese Bilder sind gar keine Götter. Es sind nur Orte, an denen sie sich niederlassen, wenn sie auf die rechte Weise gerufen werden. Wenn der Gott da ist, dann ist die Anwesenheit vor seinem Bilde eine strenge und heilige Sache. Wenn er aber nicht da ist, dann ist sein Bild ein Stück Holz oder Ton. Es ist sehr interessant darüber nachzudenken, wie diese Gottesgegenwart zustande kommt. Die Götter müssen doch irgendwie in der Nähe sein, damit sie herbeikommen, wenn Pauke und Glocke tönt und der Weihrauch emporsteigt. Die Antwort ist: es kommt alles auf das Herz des Gläubigen an. Wenn der Betende in seinem Herzen den Kontakt hat mit dem Namen des Gottes, dann ist der Gott für ihn da. Und was er bittet in diesem Kontakt mit dem Überpersönlichen, das wird er auch bekommen, ja, das hat er schon in dem Moment, da er bittet. Darum findet man in Tempeln auch häufig Tafeln mit der Inschrift: »Wer bittet, der wird sicher Erhörung finden« oder mit ähnlichen Worten. Der Konfuziusdienst war übrigens nie ein Bittgottesdienst, sondern stets nur Verehrung des Meisters. Darum spielt Konfuzius in dem Pantheon des Volks auch keine Rolle. Er ist da. Man ehrt ihn, aber man begehrt nichts von ihm. Besonders gegenwärtig, da die Organisation des Staates andere Wege geht, ist dieses Konfuziusopfer in der Morgenfrühe, an dem nur eine beschränkte Anzahl geladener Gäste teilnehmen darf, fast zu einer historischen Feier exklusiv akademischer Kreise geworden.
Dagegen ist das Frühlingsfest der reinen Klarheit (Ts'ing Ming) allgemein in China verbreitet und spielt etwa die Rolle des Osterfestes, mit dem es auch zeitlich häufig ungefähr zusammentrifft. Ursprünglich war es sicher ein Vegetationsfest. Am Tage vorher muß man fasten, man darf keine gekochten Speisen essen und soll kein Feuer anzünden. Am Festtag selbst werden merkwürdigerweise auch wie bei uns bunte gekochte Eier gegessen. Das Fest ist jetzt von allerhand Sagen umsponnen, durch die die damit verbundenen Bräuche erklärt werden sollen. Als der Fürst Wen von Tsin im Jahre 635 v. Chr. aus seiner Heimat fliehen mußte, folgte unter seinen wenigen Getreuen auch Kiä Tschï T'ui ihm in das Elend. Einmal, als alle Nahrungsmittel ausgegangen, schnitt er sich ein Stück Fleisch aus seinem Bein, um es seinem Herrn als Nahrung darzubringen. Dennoch wurde er, als der Fürst wieder zurückkehrte und den Thron bestieg, von ihm vergessen bei der Verteilung von Auszeichnungen. Kiä Tschï T'ui zog sich darauf mit seiner Mutter in einen dichten Bergwald zurück. Als der Fürst nun zu spät an seine Undankbarkeit erinnert wurde, sandte er jemand aus, um seinen treuen Diener holen zu lassen, aber vergebens, er war nicht zu finden. Da zündete man den Wald an, um ihn durch den Rauch herauszutreiben. Aber er blieb standhaft und ging mit seiner Mutter zusammen in den Flammen zugrunde. Der Fürst, von tiefer Reue erfaßt, habe angeordnet, daß an diesem Tag kein Feuer je mehr dürfe angezündet werden.
Dieses Fest des wiederkehrenden Lebens ist aber zugleich dem Andenken an die Heimgegangenen geweiht; denn Auferstehung setzt ja immer den Tod voraus. So werden die Gräber der Verstorbenen von Unkraut gereinigt, die Hügel neu aufgefüllt und eine Erdscholle obendrauf gelegt, auf der mit einem Stein ein Stück Papier als Opferteller befestigt wird. Wenn irgend möglich kehren die Familienmitglieder heim, um im Kreise der Sippe das Frühlingsfest zu begehen.
Dieses Fest hat sich unter der Republik erhalten. Als Baumtag wird es in allen Schulen gefeiert. Es hat sich der Brauch entwickelt, daß die Schüler Ausflüge machen und auf einem freien Platz Bäume pflanzen.
Wie auf Ostern Pfingsten folgt, so folgt auf das Ts'ing-Ming-Fest das Tuan-Wu-Fest, an dem die Höhe des Jahres, der Beginn der Frühernte gefeiert wird. Es ist am fünften des fünften Monats. Die lichte Sonnenkraft ist auf der Höhe. Aber eben deshalb lauern auch schon die finsteren Dämonen. Krankheiten schleichen um, üble Einflüsse sind in Keimen zu befürchten. Darum schützt man sich gegen böse Wirkungen, indem man Talismane an Türen und Fenster hängt. Meist nimmt man scharfriechende Kräuter: Beifuß oder Kalmus, die man als Zweige oder Bündel vor die Öffnungen hängt, durch die böse Geister eindringen können. Auch werden rote Scherenschnitte von Schlangen, Kröten oder Schildkröten und allerlei sonstigem Gewürm über den Eingängen befestigt.
Das Fest ist ein Sonnenfest. Es wird besonders in der Gegend des Yangtse gefeiert. Dort nennt man es das Drachenbootfest. Bunte Dschunken mit festlichem Schmuck und Drachengestalten rudern auf dem Fluß umher. Auf den Booten werden allerlei Kunststücke und Tänze ausgeführt. Der Drache ist das Symbol der lichten männlichen Kraft, und die Schiffe sind die Erinnerung an jene alten Zeiten, da übers Meer her der heilige Kult gekommen ist. Aber auch hier ist die Freude am Licht mit der Abwehr der Dämonen verbunden. Im Meer, im Fluß sind so viele Seelen Ertrunkener, die nicht teilhaftig werden der Opfer ihrer Nachkommen. Ihnen muß man etwas zukommen lassen; in Schilf gewickelte Reisklöße werden bereitet und als Opfergaben ins Wasser geworfen für die Geister dort unten. Aber auch unter den Lebenden ißt man diese schilfumwickelten Reisklöße zum Fest. Auch dieses Fest hat später eine Legende bekommen. Der Dichter K'ü Yüan, der Begründer der rhapsodischen Lyrik des Südens, stürzte sich, einen Stein in den Armen, in die Wasser des Flusses, da er von seinem königlichen Herrn verstoßen worden war und die Verzweiflung über das Schicksal seines Landes ihm das Leben unmöglich machte. Ihm gelten nun in erster Linie die Reisklöße, die man ins Wasser wirft.
Das Fest der jungen Mädchen ist der Siebenabend, der siebente des siebenten Monats. Da werden im Schein der schmalen Mondsichel Opfergaben aufgebaut für die himmlische Weberin. Die Mädchen üben sich, im ungewissen Lichte des Mondes Nadeln einzufädeln. Wenn es gelingt, so ist das ein Zeichen, daß die Göttin Geschicklichkeit in allen Handarbeiten dem glücklichen Mädchen zu eigen geben wird. Am Siebenabend sitzt man dann zusammen und erzählt Geschichten von dem Kuhhirten und der Weberin. Das sind zwei Sterne am Himmel: die Wega in der Leier ist die Weberin, und der Atair im Adler ist der Kuhhirt. Die Weberin ist ursprünglich die siebente der neun Töchter des Himmelsherrn gewesen, die vom Kuhhirten, einem Menschen, mit Hilfe seiner Wunderkuh im Bade überrascht worden war und ihn dann heiraten mußte, weil auch der alte Weidenbaum, den sie gefragt hatte, sprach:
»Siebenabend ist heut,
Der Kuhhirt die Weberin freit.«
Nachdem sie aber sieben Tage verheiratet gewesen, da habe die Weberin wieder in den Himmel zurückgemußt, um die Wolkenseide zu weben. Als der Kuhhirt ihr folgen wollte, zog sie einen Strich mit ihrem Haarpfeil quer über den Himmel. Das sei der Silberfluß (Milchstraße) geworden. So stehen die beiden einander seitdem so nah und doch so fern. Nur einmal im Jahre dürfen sie einander besuchen. Am Siebenabend kommen alle Krähen auf Erden herbeigeflogen und bilden eine Brücke, auf der die Weberin zu ihrem Geliebten herüber kann. – Am Siebenabend fällt häufig ein feiner Regen. Dann sagen die Frauen und alten Weiber zueinander: »Das sind die Tränen, die der Kuhhirt und die Weberin beim Abschied vergießen.« Darum ist der Siebenabend ein Regenfest.
Das schönste Fest im Jahr außer dem Neujahrsfest ist wohl das Mittherbstfest am fünfzehnten des achten Monats. In diesen Tagen gibt es die runden Mondkuchen, die mit Süßigkeiten gefüllt sind und mit roter Farbe bemalt werden. Denn das Mittherbstfest ist ein Mondfest, und der Herbstmond besonders zeichnet sich aus durch seine strahlende Helle. Der Vollmond, der die ganze Nacht am Himmel steht, übergießt alles mit seinem taghell blendenden Silberlicht. Das Mondopfer findet unter freiem Himmel statt. Die Früchte, die geopfert werden, haben alle symbolische Bedeutung: die Melonen bedeuten, daß die Familie vollzählig vereint bleiben möge, die Granatäpfel deuten auf reichen Kindersegen, die Äpfel auf Frieden. Das Gebäck hat die runde Form der vollen Mondscheibe.
Das Mondfest ist im Herbst, denn der Mond ist das Yinprinzip, wie die Sonne dem Yangprinzip entspricht. Das Yinprinzip ist alles Dunkle, Schattige, Kühle, Weibliche, und im Herbst beginnt diese Kraft ihre Herrschaft anzutreten. Da aber der Herbst gleichzeitig unter dem Zeichen der Erntefröhlichkeit steht, so ist das Mondfest trotz der Gedanken an das niedergehende Jahr dennoch ein Freudenfest. Namentlich die Frauen feiern das Mondfest gerne. Ist doch auch die Mondfee, die auf dem Schloß im Monde wohnt und dort einsam über dem Meere schwebend am dunklen Himmel die Unsterblichkeit gefunden hat, die Vertreterin des weiblichen Geschlechts. Am Mondschloß steht auch ein Kassiabaum. Denn um die Mittherbstzeit blüht die Kassia mit ihren süßduftenden, kleinen goldgelben Blüten. Dieser Kassiabaum auf dem Monde wächst und wächst und deckt mit seinem Schatten das ganze Mondlicht zu, bis er von Zeit zu Zeit wieder abgehauen wird. Auch ein Hase ist im Mond – wie in der Sonne eine Krähe –; dieser Hase stößt in einem Mörser die Kräuter des ewigen Lebens. Darum werden am Mondfest tönerne Hasen an die Kinder geschenkt. Der Mondhase ist weiß mit schönen roten Augen. Oft sieht man Abbildungen der Mondfee mit der Mondscheibe, und der Mondhase sitzt dann vertraulich bei ihr. Der Mond ist das Prinzip des himmlischen Wassers; man kann es mit einem konvex geschliffenen blanken Spiegel vom Mond herunterholen, wie man mit einem Hohlspiegel aus der Sonne das himmlische Feuer holen kann.
Der Mond ist aber doch nicht nur weiblich. Es treibt ein geheimnisvoller Alter, der Mondgreis, auf ihm sein Wesen. Der schleicht in der Nacht heimlich umher und bindet die Beinchen von neugeborenen Knaben und Mädchen mit einem unsichtbaren roten Zauberfaden aneinander. Dieser unsichtbare Faden ist so stark, daß niemand ihm widerstehen kann. Wenn der Knabe und das Mädchen herangewachsen sind, so werden sie, sich selber unbewußt, durch eine starke Fessel zueinander gezogen. Und wehe ihnen, wenn ihre Lebenswege einander einmal nahekommen, dann geht es ohne Hochzeit nicht mehr ab.
Die Frauen haben in China eine Freude am Ehestiften. Manche gibt es, die machen sich einen regelrechten Beruf daraus. Aber auch die übrigen sind gerne als Ehevermittlerinnen behilflich, wo es gilt, ein passendes Paar zusammenzubringen. Ohne Vermittlung kann man ja in China keine Ehe schließen; denn nicht die beiden Nächstbeteiligten heiraten einander nach Belieben, sondern es ist eine Familiensache. Dieser alte Mann im Mond nun macht sich ein Vergnügen daraus, die Ehen im Himmel zu schließen. Vielleicht verehren ihn die Frauen deshalb so.
Das Mittherbstfest ist in der schönsten Jahreszeit, gleichweit entfernt von den drei Hitzeperioden der Hundstage und den drei Kälteperioden des Spätwinters, und der Herbst ist in China viel schöner als der Frühling. Denn der Frühling muß sich unter viel Stürmen und rückfälliger Kälte aus den Fesseln des Winters herausarbeiten. Lange noch lastet der kontinentale Hochdruck mit seinen nordwestlichen Staubwinden über der chinesischen Ebene. Wenn der Umschwung eintritt, so setzt gewöhnlich auch schon gleich die Sommerhitze ein. Der Herbst dagegen ist ein mildes Abklingen der heißen, feuchten Wolkentage des Sommers. Der Himmel ist wochenlang von strahlender Reinheit, die Luft ist klar, so daß bis fernhin an die Berge die Umrisse des Horizonts sich scharf und dunkel abheben. Kein Sturmwind stört das ruhige Leuchten dieser Tage. Still dehnt sich der See, und fern aus dem Schilf klingen die Töne einer Flöte wehmütig durch den Äther.
Wenn diese schönen Tage vorüber sind, wenn der kalte Tau fällt, kommen die Herbstnebel aus den Tälern hervor. Das sind gefährliche Zeiten der Seuche. Darum steigt man jetzt auf die Höhen, um vor den Abendnebeln gesichert noch einmal beim Wein des Herbstes zu genießen. Das ist der neunte des neunten Monats, das doppelte Yang (Tsch'ung Yang), denn neun ist die Zahl des Yangprinzips, und der Verdoppelung dieser Lichtzahl wird an diesem Feste des sinkenden Jahres gedacht. Das Lichte kämpft hier wieder mit der Finsternis. Während das Jahr äußerlich der Kälte und dem Winter entgegenflieht, und die Herbstgrillen ihre wehmütigen Laute ertönen lassen, bilden sich im geheimen in den Tiefen der Erde die ersten Keime des neuen Jahres, so zart, so fein, daß sie dem menschlichen Auge noch nicht sichtbar sind.
Nun kommt die Zeit der Chrysanthemen heran, und ihre reinen Blüten sind der letzte Gruß des scheidenden Jahres. In Japan wird ein Chrysanthemenfest gefeiert, und man verbindet damit Ausstellungen von prächtigen Blumen. Man züchtet die Blüten so groß wie möglich, und dreißig, vierzig Blüten an einem Stock sind nichts Seltenes. In China ist das ganz anders. Die Chrysanthemen sind nicht wie die Päonien, die den ersten Frühling schmücken, Blumen der Pracht und der stolzen Entfaltung. Man züchtet in China selten mehr als drei oder fünf Blüten an einem Stock. Aber die Blüten sollen vollkommen sein und von gewählter Eigenart, und die Blätter sollen stark und grün die ganzen Stengel bis zur Erde bedecken. Der große Freund der Chrysanthemen war der Dichter T'ao Yüan Ming. Seine Liebe zu ihnen hat er in manchem Gedicht besungen:
In später Pracht erblühn die Chrysanthemen,
Ich pflücke sie, vom Perlentau benetzt.
Um ihre Reinheit in mich aufzunehmen,
Hab einsam ich zum Wein mich hingesetzt.
Die Sonne sinkt, die Tiere gehn zum Schlummer,
Die Vögel sammeln sich im stillen Wald. –
Fern liegt die Welt mit ihrer Unrast Kummer,
Das Leben fand ich, wo der Wahn verhallt.
Wie das Jahr mit seinem Kreislauf durch die Feste gegliedert ist, so ist auch das Leben des einzelnen Menschen von einem Kranz von festen Gebräuchen umgeben, die es einreihen in die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge.
Das Kind wird geboren. Es wird schon am ersten Tage in ein Hemdchen von festlich roter Farbe gekleidet. Neun rote Eier werden an die Eltern der Mutter gesandt, um ihnen Mitteilung von dem freudigen Ereignis zu machen. Der Vater aber begibt sich, wenn das Neugeborene ein Knabe ist, zu den Heiligtümern der Ahnen, um ihnen Bericht zu bringen, daß das Geschlecht sich weiter fortsetze. Für Mädchen haben die Ahnengeister weniger Interesse, da die Mädchen durch ihre Heirat aus der Familie ausscheiden und zur Fortsetzung der Erblinie in einem anderen Hause beitragen. Man hat das häufig für Lieblosigkeit gegen die Mädchen gehalten. Das ist aber keineswegs der Fall. Weder töten die Chinesen ihre neugeborenen Mädchen, wie das eine Zeitlang in Europa törichterweise verbreitet worden war, noch verachten sie dieselben. Aber die Familie ist ein Organismus, der über die persönliche Zuneigung hinausgeht. Das Wachstum und Leben der Familie ist von selbständiger Bedeutung gegenüber den einzelnen zu ihr gehörigen Individuen. Und diese Familie ist durchaus auf patriarchalischer Grundlage aufgebaut. Der Mann steht im Zusammenhang der Ahnenreihe und hat die Aufgabe, innerhalb dieser Reihe stehend, das Erbe der Vergangenheit an die Zukunft weiterzugeben. Die Frau aber wird in die Familie einbezogen als Gehilfin des Mannes. Ihre Pflicht ist es, die Familie des Mannes zu fördern, ihm Nachkommen zu schenken und sich einzufügen in das Vaterhaus des Mannes, in dem die Mutter waltet, der sich die Schwiegertöchter zu unterstellen haben. Zu diesem Zweck muß die Frau gelöst werden aus dem Ahnenverband ihres Vaterhauses. Darum holt der Bräutigam seine Frau zur Hochzeit aus ihrem Hause weg, und die Ehe wird im Vaterhaus des Bräutigams gefeiert. Die Eltern der Braut aber werden entschädigt durch Geld oder Geschenke. Die Lösung von der Familie, die jedem Mädchen bevorsteht, ist daher der Grund, warum von ihrem Dasein den Ahnen gar nicht erst berichtet wird.
Auch sonst sind die Gebräuche verschieden bei der Geburt von Knaben und Mädchen. Bei der Geburt des Knaben wird ein Bogen aus einem Maulbeerzweig und vier Pfeile aus Jujubenholz vor der Tür aufgehängt. Am dritten Tage wird der Bogen abgenommen und die Pfeile nach allen vier Himmelsrichtungen abgeschossen. Bei der Geburt des Mädchens dagegen wird nur ein Taschentüchlein aufgehängt, weil das Leben des Mädchens sich ja doch im Hause abspielen wird. Ein besonderer Tag ist der hundertste Tag nach der Geburt des Kindes, der ungefähr unserem Tauftag entspricht. Von Bekannten und Verwandten kommen Geschenke an. Armspangen, Glöckchen, Halsringe mit Schlössern, auf denen gute Wünsche eingraviert sind, die das Kind an das Leben anschließen sollen, werden überreicht. Meist sind die Sachen aus Silber und vergoldet. Es sind Gaben, die ungefähr den Patengeschenken in Europa entsprechen. Der Knabe wird auf einen Tisch gesetzt, auf dem Bücher und Schwerter, Beamtenabzeichen und Geld liegen. Er wählt seinen künftigen Beruf durch das Ding, das er zuerst ergreift. Den Mädchen breitet man Schere und Elle, Puder und Schminke, Diademe und Geld aus. Sie werden entweder gute Hausfrauen oder gefeierte Schönheiten oder haben das Glück, einen vornehmen oder reichen Mann zu bekommen. Zu dieser Zeit bekommen die Kinder ihren Milchnamen, der meist recht unscheinbar ist, um die Dämonen nicht aufmerksam zu machen. So werden Knaben etwa »kleines Mädchen« genannt, oder der Name richtet sich nach irgendeinem Ding, das in der Nähe ist oder zufällig erblickt wird. Erst beim Eintritt in die Schule wird der richtige Rufname erteilt.
Die patriarchalische Auffassung der Bedeutung der Kinder ist im alten Buch der Lieder aus dem ersten Jahrtausend v.Chr. einmal sehr hübsch zum Ausdruck gebracht. Da wird erzählt, wie ein Haus für einen Herrscher gebaut wird und wie er in der ersten Nacht einen glückverheißenden Traum hat, den ihm der Magier deutet. (Schï King II, 4, 5.)
Am lieblich stillen Flussesstrand,
An starker Berge dunklem Rand,
Wo Bambuswurzeln tief sich gründen,
Wo Pinienkuppeln breit sich ründen,
Der Brüder friedlicher Verein
Mög stets voll edler Liebe sein!
Und frei von allen Ränken sein!
Ahnfraun und Ahnherrn heiliges Teil
Dehnt sich des Hauses Mauer steil,
Nach West und Süden offne Tür,
Hier wohnt, hier weilt er für und für.
Hier ist sein Glück, sein Wort ist hier.
Fest stehn gefügt die Rahmenwerke,
Und fest gestampft der Wände Stärke,
Von Wind und Regen unversehrt,
Ratten und Vögeln stark verwehrt,
Von Gegenwart des Herrn geehrt.
Voll Hoffnung steht es und gerad,
So wie des Pfeiles schneller Pfad.
Und wie des Vogels neues Kleid,
Wie des Fasanen Flug so weit
Steht's zum Empfang des Herrn bereit.
Der Hof ist weit und wohl geschlichtet,
Die Säulen hoch und glatt gerichtet.
Froh spielt das Licht an Saales Bord,
Geräumige Schatten winken dort,
Hier ist des Herren Ruheort.
In kühle Matten eingehüllt
Deckt ihn des Schlummers Stille mild.
Und wenn er dann vom Schlaf erwacht,
Ruft er den Magier mit Bedacht.
»Was hat der Herr im Traum erschaut?«
»Braunbären, Graubären allzumal,
Ottern und Nattern in großer Zahl.«
Der Magier deutet nun den Traum:
»Braunbären und Graubären Söhne bedeuten,
Ottern und Nattern Töchter bedeuten.
Es werden euch Söhne geboren werden,
Die auf prächtigen Betten schlafen werden,
In bunte Gewänder gekleidet werden,
Mit Jadezeptern spielen werden,
Mit lauter Stimme schreien werden,
In roten Schärpen erscheinen werden,
Das Haus durch Herrschaft berühmt machen werden.«
»Es werden euch Töchter geboren werden,
Sie werden schlafen auf der Erden,
Sie werden in Windeln gewickelt werden,
Sie werden spielen mit tönernen Scherben,
Nicht gut, nicht böse werden sie handeln,
Sie werden nur Essen und Trinken behandeln
Und ohne Verdruß für die Eltern wandeln.«
Diese alten Sitten sind heute überholt. Die Frauenwelt in China ist längst herausgetreten aus den Fesseln alter Vorurteile. Die Mädchen sind heute in China viel freier als z. B. in Japan, wo das alte ritterliche Ideal noch weit mehr gepflegt wird. Selbst Freiheit der Gattenwahl wird immer mehr proklamiert, und in Verbindung damit ist die Frauenwelt Jung-Chinas auch streng gegen die bequeme Sitte vorgegangen, die es dem Gatten erlaubt, zu seiner eigenen Freude neben der Gattin noch eine Anzahl von Dienerinnen bzw. Nebenfrauen der Familie einzugliedern. Mit der freien Gattenwahl fällt natürlich ein Hauptgrund für das Vorhandensein der Nebenfrau weg, da ja dann ein jeder Mann es sich selbst zuzuschreiben hat, wenn es sich herausstellen sollte, daß seine Gattin weniger befriedigend ist, als er erhofft hatte. Nur die Frage männlicher Nachkommenschaft wird in den Ehesachen so lange eine Rolle spielen, als die patriarchalische Familie in China besteht, und damit wird dann, wenn die Hauptfrau ohne männliche Nachkommen bleibt, doch immer die Möglichkeit bleiben, eine Nebenfrau hinzuzunehmen, falls man die Ehe nicht – was nach chinesischen Recht erlaubt ist – deshalb lösen und eine neue Ehe eingehen will. Das neue chinesische Eherecht ist in bezug auf Scheidung viel freier als die meisten europäischen Rechte. Denn einerseits ist es nicht belastet durch kirchliche Rücksichten, und andererseits ist die Frage der Unterbringung und Erziehung der Kinder im Fall einer Scheidung in China nicht schwierig zu lösen, da die Ehe nur eine Verbindung innerhalb der Großfamilie ist, und die Kinder auf alle Fälle der Familie viel mehr angehören als den Eltern.
Aus dem bisherigen geht schon hervor, daß die Heirat im Leben des Mannes nicht eine so einschneidende Epoche bildet wie in Europa, da sie ja keineswegs mit der Gründung eines eigenen Hausstandes zusammenfällt. Wenn die Braut durch den Übertritt in eine andere Familie und durch ihre neue gesellschaftliche Stellung einen ganz neuen Lebensabschnitt begann, so blieb für den jungen Mann seine Stellung innerhalb des Hauses ziemlich unverändert, höchstens daß er mit seiner jungen Frau ein besonderes Gebäude innerhalb des allgemeinen Familiengehöftes zugewiesen erhielt. Die Auswahl der Lebensgefährtin war durch die Eltern längst schon vorgenommen. Die Hochzeit wurde festgesetzt, wenn etwa aus Anlaß häuslicher Geschäfte eine weitere Arbeitskraft der Mutter des Jünglings erwünscht erschien. Der Bräutigam kam dann, wenn er auswärts war, für ein paar Tage nach Hause. Wenn er z. B. eine Schule an einem anderen Orte besuchte, so genügte eine Woche Urlaub, worauf der junge Gatte dann wieder wie bisher zur Schule ging. Damit hängt zusammen, daß der Mann, solange seine Eltern noch der Haushaltung vorstehen, oft jahrelang mit kurzen Unterbrechungen von Hause fort ist. Die Frau ist ja ebenso wie die Kinder wohlversorgt in der Familie. Darum war es für eine junge Frau ein wichtigeres Problem, wie sie sich zur Schwiegermutter stellte, als zum Mann. Mit der Schwiegermutter mußte sie dauernd zusammenleben, auch war deren Einfluß als Mutter auf den Sohn so stark, daß dieser seine Frau gegen sie nicht schützen konnte, wenn ernstliche Zerwürfnisse die Beziehungen zwischen den beiden Frauen getrübt hatten. Und solche Zerwürfnisse kamen vor. Zwar ist die Anzahl von verunglückten Ehen in China weit geringer als in den Großstädten Europas. Aber der Kampf mit der Schwiegermutter ist doch auch hier eine sehr ernste Sache gewesen (für die Frau, denn der Mann war von der seinigen ja völlig fern), und manchmal war Selbstmord die letzte Auskunft einer gequälten Frau, die keinen Ausweg aus der Hölle täglicher Familienschwierigkeiten mehr fand. Das war für die Schwiegermutter freilich stets eine sehr peinliche Sache, denn abgesehen davon, daß es in der Öffentlichkeit doch ein recht schlechtes Licht auf sie warf, war immer auch mit Belästigungen durch das Gespenst der Selbstmörderin zu rechnen.
Jung-China hofft sehr viel von der Ehereform, die, wie erwähnt, sich durchzusetzen beginnt. Man will sein Eheglück in eigene Hand nehmen und selber darüber wachen. Es ist selbstverständlich, daß die alte Form der Ehe nicht länger aufrechterhalten werden kann, wenn die Persönlichkeiten differenzierter werden. Die chinesische Familie, die wenig auf das Individuum Rücksicht nahm, setzte voraus, daß die einzelne Persönlichkeit in den größeren Zusammenhang sich reibungslos einordnete, was natürlich nur bei schwächer entwickelter Eigenart und Selbstbewußtheit der Charaktere möglich ist.
Es ist unzweifelhaft, daß auf dem Lande die alte Ehe noch lange bestehen bleiben wird, weil dort noch immer die großen übergreifenden Bindungen eines auf den Ackerbau gegründeten Patriarchalismus vorhanden sind. Dagegen werden in den Städten neue Verhältnisse und damit auch neue Ehen sich bilden müssen. Die Zertrümmerung der Großfamilie, die für den Großstädter schon aus wirtschaftlichen Gründen unvermeidlich ist, produziert neue Eheformen. Nur ist die Frage, welche das sein werden. Die Ehe hat zu ihrer Voraussetzung immer die übergreifende Bindung eines irgendwie gearteten Familienzusammenhangs. Für isolierte und proletarisierte Menschen gibt es letzten Endes nur in Ausnahmefällen noch wirkliche Ehen. Jung-China ist voll Hoffnung für die Zukunft. Was wird es für Erfahrungen heimbringen, und wie wird die Ehe endgültig aussehen, die aus dem Schmelzprozeß der neuen Zeit sich herauskristallisieren wird?
Am Schluß des Lebens stehen endlich die Sitten, die sich um die Beerdigung gruppieren. Hier hat die rote Farbe ein Ende. Der farblose Sack ist die Trauerkleidung, und Askese in den äußeren Verhältnissen, aus denen alle Bequemlichkeit entfernt wird, entspricht der Herzenstrauer der Hinterbliebenen. Trotz dieser Trauer, die siebenundzwanzig Monate lang dauert, ist der Tod nicht etwas, das außerhalb aller Erwägung bliebe, solange die Eltern leben. Daß die Menschen sterblich sind, ist eine Tatsache, über die sich in China niemand hinwegzutäuschen sucht. Wenn die Zeit herannaht, da nach des Lebens Last und Hitze die Ruhe winkt, so bestellt man gern rechtzeitig sein Haus, und es ist eine zarte Rücksicht der Kinder, wenn sie für altgewordene Eltern schon zu deren Lebzeiten Sarg und Totenkleider besorgen. Diese können dann ohne Sorge an den letzten dunklen Gang der Rückkehr denken.
Natürlich ist der Tod und das Begräbnis in China umgeben von einem reichen Kranz von Sitten. Denn die Lehre des Konfuzius, die die Kindesehrfurcht in den Mittelpunkt der Volksmoral gestellt hat, mußte den Moment besonders betonen, da der treue Dienst der lebenden Eltern ein Ende nahm und die Kindesehrfurcht aus der ethischen Form in die religiöse übergehen mußte. So war Fasten, Askese, Trauer vorgeschrieben. Mehr auf den Ernst der Gesinnung kam es dem Meister an, als auf den Pomp äußerer Prachtentfaltung. Es herrschte die Sitte, daß der Verstorbene begraben wird entsprechend dem Rang, den er bei Lebzeiten innegehabt. Die Opfer aber wurden vollzogen entsprechend dem Rang der hinterbliebenen Söhne und Enkel. Der Adel ging nicht auf Kinder und Enkel über, nur der älteste Sohn rückte als Stammhalter der Familie in dessen Rang ein – dagegen hatten alle Vorfahren indirekt teil an der Standeserhöhung der Nachkommen.
Neben den Totenbräuchen, die aus dem Konfuzianismus sich ergeben, haben sich im Laufe der Jahrhunderte noch eine Menge Bräuche eingefunden, die aus ganz anderen Quellen stammen. Die Versorgung der Toten ist in China ein Kreuzungspunkt für alle Religionen geworden. Taoistenpriester machen am Leichenhause ihre Musik, und auch Buddhistenmönche lese ihre Messen. Neben den Sitten der Ehrung der Toten als vollendeter höherer Wesen geht eine Menge von Bräuchen her, die in den Toten gefährliche Gespenster sehen, die gebannt werden müssen. Während man betend emporschaut zu dem verklärten Geistigen und es durch Opfer nährt und ehrt, ist das verwesende Körperliche ein peinlicher Erdenrest, der gespenstig unpersönlich dem Leben feind ist.
In Peking war vor nicht gar langer Zeit die Beerdigung eines hohen Staatsbeamten. Der Trauerzug schwankte stundenlang durch die Straßen. Kräcker wurden abgebrannt und große Gongs geschlagen, um die bösen Geister zu verscheuchen auf dem Weg der Leiche. Fahnen und Amtsinsignien wurden getragen, weiße Zweige mit Papierstreifen umhüllt folgten. Ehrenschreine und Ehrenschirme bewegten sich voran. Dann kamen die Grabbeigaben. Sie werden nicht mehr wie früher aus Ton gebildet und dem Toten mit ins Grab gegeben, sondern aus Papier gemacht und am Grab verbrannt. Alles was zum Luxus des Lebens gehört, von der Villa und dem Automobil an bis zu den unentbehrlichen Pferden, Dienern und Geräten, war vorhanden. Von über hundert wimmelnden Menschen wurde unter einem Baldachin der prächtig verhüllte Sarg getragen. Der Chopinsche Trauermarsch, von einer buntgekleideten Kapelle gespielt, wechselte ab mit den schrecklichen Hörnerstößen und der wimmernden Klarinettenmusik und den Trommeln und Gongs der Bonzen. Weißgekleidet schleppte sich der Sohn, auf Diener gestützt und einen Trauerstab nach sich ziehend, hinter dem Sarge her. Wagen und Autos ohne Zahl, Kränze und Blumen und Ehrenschriften gaben dem Toten das Geleite zur Stadt hinaus in das sorgfältig gemauerte Familiengrab.
In einer kleinen Nebengasse trugen zwei Arbeiter einen kümmerlichen Sarg mit Stricken an einer Stange befestigt, der notdürftig nur mit einer schmutzigen roten Bettdecke verhüllt war. Es war vielleicht die einzige Bettdecke des Sohnes, der hinter dem Sarge ging. Er hatte sich irgendwo einen weißen europäischen Stoffkinderhut gekauft, damit er auch etwas Weißes trüge. Der Hut war schmutzig, und viele Leute lachten über den Anblick. Doch der Sohn bemerkte nichts davon. Er mußte sich beherrschen, sein Schluchzen zu unterdrücken. Er hatte keine Zeit. Emsig schritten die Träger voran. Vor Sonnenuntergang mußte er begraben sein. Im Augenblick waren sie im Gedränge der Straße verschwunden.
Als sie die Erde wegschaufelten, da fanden sie einen gebleichten Totenschädel. Vielleicht war es derselbe, der einst dem Tschuangtse im Traum erschienen war und sprach: »Im Tode gibt es weder Fürsten noch Knechte und nicht den Wechsel der Zeiten. Wir lassen uns treiben, und unser Lenz und Herbst sind die Bewegungen von Himmel und Erde.«