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Sechstes Kapitel. Das neue China

Wenn man das neue China, das im Verlauf der letzten Jahrzehnte sich gebildet hat, wirklich verstehen will, so genügt es nicht, die nach außen hervortretenden politischen Verhältnisse und die zum Teil recht verwickelten Kämpfe der Militärführer zu verfolgen. In China spielt sich zur Zeit eine doppelte Geschichte ab: die Geschichte des von Europa importierten, in gegenseitigen Kämpfen sich erschöpfenden Militarismus und die Geschichte der im stillen heranwachsenden und immer mehr Selbstbewußtsein bekommenden chinesischen Kultur. Die Führer dieser geistigen Bewegung Jung-Chinas haben sie wohl gelegentlich mit der europäischen Renaissancezeit verglichen. Jedenfalls ist sie auch eine Neugeburt auf geistigem Gebiet.

Man hatte sich in Europa eine Zeitlang daran gewöhnt, in China einen Riesenkomplex zu sehen, der in Jahrtausende langer Erstarrung unbeweglich daliege, von allem Fortschritt der Welt durch eine »chinesische Mauer« getrennt. Dieses kurzsichtige Urteil rührt von der Unkenntnis der innerchinesischen Verhältnisse her und von der Oberflächlichkeit der Betrachtung, auf die eine fremde Massenerscheinung immer einen gleichförmigen Eindruck macht, weil man die unterscheidenden Merkmale sowohl der einzelnen Menschen als auch ganzer Geschichtsepochen später entdeckt als die gemeinsamen Züge.

Dennoch ist die chinesische Kultur von jeher weit entfernt von monotoner Gleichartigkeit gewesen. Auf die klassische Zeit der Tschoukultur folgten immer wieder neue Epochen mit neuen selbständigen Kulturwerten, und noch die letzten Jahrhunderte haben eine durchaus eigenartige Kulturausprägung im Aufkommen einer streng wissenschaftlichen, kritischen Philologie gehabt. Man wußte nur nichts davon in Europa, weil man sich nicht die Mühe nahm, von den alten festgetretenen Urteilsbahnen abzugehen und das neuere chinesische Geistesleben selbständig zu durchforschen.

Zu den Vertretern der älteren wissenschaftlichen Generation gehört Tschang T'ai Yän, der nicht nur die klassische Literatur vollkommen beherrscht, sondern auch auf dem Gebiete des Mahayana-Buddhismus ein bedeutender Gelehrter ist, der aber, da er keine europäische Sprache spricht und wenig Verkehr mit Ausländern pflegt, im Westen so gut wie unbekannt ist. Er vertritt die mittelchinesische wissenschaftliche Tradition. Er gilt in China heute als der unbestrittene Führer auf dem Gebiet der literarischen Wissenschaft. Seine strenge, demokratische Gesinnung hat ihn auch der aufkommenden Jugend verehrungswürdig gemacht. Dennoch hat er auf das praktische Leben weniger Einfluß als auf das wissenschaftliche, wodurch er in eine gewisse aristokratische Vereinsamung gekommen ist.

In Südchina sind von Gelehrten, die im letzten Jahrhundert auftraten und bis in die Gegenwart hinein tätig sind, zu nennen die beiden als Reformer schon erwähnten Männer K'ang Yu We und Liang K'i Tsch'ao. Der ältere von ihnen, K'ang Yu We, ist heute ein freundlicher Greis, der da und dort in China auftritt und wieder verschwindet. Man redet lächelnd von ihm als von dem »neuen Heiligen«, womit man auf sein Verhältnis zu Konfuzius anspielt. Aber kein Mensch ahnt, welcher Vulkan hinter dem freundlich lächelnden weißhaarigen Gesicht getost hat. Wenn man im Konfuziustempel in Peking umhergeht, so findet man einen Wald von Gedenktafeln, auf denen die Namen aller derer in Stein gegraben sind, die die höchsten Prüfungen mit höchster Auszeichnung bestanden haben und dadurch aufgenommen wurden in den heiligen Bezirk der Weisen, die durch alle Jahrtausende hindurch die Lehre des Meisters Konfuzius zu verbreiten für würdig befunden sind. Einer der Namen auf der letzten Tafel ist ausgemeißelt und zur Vergessenheit verurteilt. Es ist der Name des Reformers K'ang Yu We. Er selbst war dem Zorn der alten Kaiserin entgangen, aber sein Name wenigstens sollte sterben. Er hat es sicher vom Standpunkt der alten Dame aus vollkommen verdient, nicht nur durch seine Reformtätigkeit, sondern vielmehr noch durch das, was er geschrieben hat. Er war ein arger Ketzer, dessen Lehren von denen von Marx und Lenin nicht eben sehr abweichen, wenn er sie auch als Geheimnis vor der Mitwelt, die dafür nicht reif sei, bewahrt hat.

Seine erste Revolution war eine literarische. Man hatte in den letzten Jahrhunderten sich bemüht, die alten heiligen Schriften kritisch zu sichten. Die Überlieferung besagte, daß Konfuzius diese Schriften, die dem höchsten Altertum entstammen, geordnet und herausgegeben habe als heiliges Erbe für die Zukunft. Bei den genannten Untersuchungen war man immer weiter gekommen in der Kritik. Man fand spätere Zusätze und Fälschungen, die man zunächst damit erklärte, daß durch die Bücherverbrennung des Ts'in Schï Huang Ti die ganze konfuzianische Literatur im wesentlichen zugrunde gegangen und später erst wieder kümmerlich zusammengestellt worden sei, wobei es denn nicht fehlen konnte, daß die kaiserlichen Belohnungen, die auf das Auffinden alter Schriften gesetzt waren, auch solche Schriften ans Licht brachten, die eigens zu diesem Zweck hergestellt und künstlich alt gemacht worden waren. Diese Fälschungen galt es zu entdecken und auszusondern. K'ang Yu We wagte die Aufsehen erregende Behauptung, daß die ganzen Texte, die unter dem Namen »alte Texte« gingen, weil sie in der Hanzeit (etwa um die Wende unserer Zeitrechnung) auftauchten, bewußte Fälschungen seien, daß durch die Bücherverbrennung des Ts'in Schï Huang Ti die konfuzianischen Schriften gar nicht vernichtet worden seien, und daß der Zweck der Fälschungen gewesen sei, dem Usurpator Wang Mang auf den Thron zu verhelfen. Noch hatte sich die Aufregung in der chinesischen Gelehrtenwelt über diese Lösung des gordischen Knotens nicht gelegt, da erschien ein neues Buch, das noch umstürzlerischer wirkte: »Die Reform des Konfuzius«. Darin wird versucht zu zeigen, daß die alten Schriften von Konfuzius nicht etwa überliefert und redigiert seien, sondern daß er sie alle selbständig verfaßt habe, um seinen für die damalige Zeit revolutionären Lehren einen historischen Hintergrund zu verleihen. Ob jene Heroen der alten Zeit gelebt haben oder nicht, das könne man nicht wissen. Jedenfalls seien die Überlieferungen, die durch Konfuzius auf uns gekommen sind, freie Erfindungen des Meisters. Er habe sich seine Heroen Yao und Schun ebenso geschaffen, wie Laotse den Huangti, Moti den großen Yü, Hsü Hsing den Schen Nung und wie alle Philosophen der damaligen Zeit ihre Vorbilder in die Vergangenheit projizierten. Aus dem antiquarischen Gelehrten, als den viele Konfuzius anzusehen gewohnt waren, wurde nun ein kühner Neuerer, der mit genialer Schöpferkraft eine Kultur für die Jahrtausende schuf. Die Gestalt gewann eine wunderbare mystische Tiefe. Rätselhaft blickte er aus dem Geheimnis hervor, das er mit kluger Hand um sich gewoben, und nicht mehr nur als ein Weiser der Vorzeit verdiente er Verehrung, sondern als göttlicher Heiland verdiente er Anbetung, wie Jesus sie von den Seinen erhielt. K'ang Yu We war von da ab bestrebt, eine konfuzianische Kirche zu gründen nach der Art der christlichen. Damit hat er freilich kein Glück gehabt. Die konfuzianische Kirche in Peking, von der später noch die Rede sein wird, bietet heute einen ziemlich traurigen Anblick.

Trotz seiner Verehrung für Konfuzius hat K'ang Yu We durch diese Arbeit, die noch aufregender wirkte, als die erste, die in ihrer ganzen Auflage von der Kaiserin-Witwe vernichtet worden war, den Heiligen aus seiner einzigartigen Stellung herausgelöst und ihn gewissermaßen in Parallele gebracht zu den anderen bedeutenden Männern seiner Zeit, die ja auch alle sich irgendwie eine Vergangenheit zurechtgemacht hatten. Er hat damit den Weg eröffnet, der alten Geschichte viel unabhängiger und objektiver gegenüberzutreten als dies bisher in Jahrtausenden der Fall gewesen war, K'ang Yu We selbst war freilich von jeder Objektivität sehr fern. Er war eine sehr eigenwillige Natur. Das zeigt sich nicht nur in seinem Verhältnis zur alten Literatur und ihren Quellen, sondern auch in seinem Benehmen zu lebenden Menschen, namentlich zu seinen Schülern, von denen er sich viele entfremdet hat. Er könnte heute der unumstrittene Führer Jung-Chinas sein, wenn er sich nicht auf allerlei Eigenheiten verbissen hätte.

Am revolutionärsten ist sein drittes Werk, in dem er dazu übergeht, selbständige Theorien für die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft aufzustellen. Dieses Werk »Das Buch von der großen Gemeinsamkeit« ist freilich nur in wenigen als Manuskript gedruckten Exemplaren verbreitet, weil er der Überzeugung ist, daß seine Zeit noch nicht gekommen sei. Er geht darin zurück auf eine Stelle im alten Buch der Sitten, wo eine dreifache Menschheitszeit in Aussicht genommen ist: eine Zeit der Unordnung, eine Zeit der kleinen Kräftigung und eine Zeit der großen Gemeinsamkeit. Die Grundsätze für die Zeit der großen Gemeinsamkeit führt er in seinem Buch aus. Es ist nicht nur als Utopie gedacht, sondern als ganz ernsthafte Grundlage für die künftige Gestaltung der menschlichen Gesellschaft. Die Hauptgedanken dieses Werkes sind:

1. Abschaffung des Staats. Die ganze Welt hat eine gemeinsame Regierung, die sich in einzelne Unterabteilungen nach Nationen gliedert.

2. Die Gesamtregierung und die Unterregierungen werden vom Volk gewählt.

3. Abschaffung der Familie. Mann und Frau leben nicht länger als ein Jahr zusammen. Nach Ablauf der Zeit findet Wechsel statt.

4. Frauen, die schwanger sind, gehen in eine Mutterschaftsschule; die Neugeborenen kommen in ein Säuglingsheim.

5. Die Kinder kommen ihrem Alter entsprechend in Kindergärten, später in die Schule.

6. Die Erwachsenen erhalten von der Regierung das Gebiet ihrer Berufstätigkeit zugewiesen.

7. Für die Kranken sind Krankenhäuser, für die Alten Altersheime da.

8. Die Mutterschaftsschulen, Säuglingsheime, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altersheime sind alle sorgfältig ausgestattet, so daß die Insassen sich wirklich wohl darin fühlen.

9. Erwachsene Männer und Frauen müssen dem jetzigen Militärdienst entsprechend an diesen Anstalten eine bestimmte Anzahl von Dienstjahren verbringen.

10. Wohnungen und Speiseräume sind öffentlich. Jedem bleibt die freie Verfügung über den Ertrag seiner Arbeit.

11. Alle Faulheit wird durch strenge Strafen verhindert.

12. Förderer der Wissenschaft und solche, die in den öffentlichen Anstalten besondere Dienste geleistet, werden besonders ausgezeichnet.

13. Die Toten werden verbrannt. Neben den Verbrennungsanstalten befinden sich die Fabriken für Kunstdünger.

Man muß bedenken, daß diese Gedanken, die sicher so radikal sind, daß sie nichts zu wünschen übrig lassen, durchaus selbständig gefunden sind. Sie liegen dreißig Jahre zurück und sind in einer Zeit gedacht, da K'ang Yu We noch keinerlei Fühlung mit sozialistischen und kommunistischen Ideen im Westen haben konnte. Das Zentrum seines Systems liegt in der Abschaffung der Familie, wodurch der Buddhismus, der sich durch Flucht aus der Familie den Bitternissen des Lebens entziehen will, ganz von selbst überflüssig wird, ebenso wie aller Streit und Kampf um das Eigentum ganz von selbst gegenstandslos wird, wenn eine Vererbung des Eigentums nicht mehr möglich ist. Daß in dem System einige Härten sich finden, entspricht ganz dem Feuerkopf, der es erdacht hat.

Freilich, eine Sache ist sehr merkwürdig: er hat diese Gesellschaftsordnung fix und fertig ausgedacht, aber er hat sie immer geheim gehalten. Nur ausgewählten Schülern gewährte er Zugang zu diesen Lehren, und wenn sie begeistert an ihre Verwirklichung gehen wollten, hielt er sie zurück. Er hat, auch als er die Macht in Händen hatte, nie versucht, die Gedanken in Wirklichkeit umzusetzen, da er der Überzeugung war, daß man zunächst über die Methoden der »kleinen Kräftigung« noch nicht hinausgehen dürfe. So ist er denn bis zuletzt ein Anhänger der Mandschudynastie geblieben. Erst seit ganz kurzem hat er erlaubt, daß dieses Zukunftsvermächtnis gedruckt wurde. Bei meinem Abschied aus China hat er mir auch einige Exemplare davon sowie von seinen übrigen Werken geschenkt. Es gehört zu den merkwürdigen Erinnerungen meines Lebens, wie der alte Mann mit sichtlicher Rührung Abschied nahm und mir seine guten Wünsche mit über das Meer gab. – Ich bin auf ihn etwas näher eingegangen, weil er ein Beweis dafür ist, wie in China oft unbekannt und ganz verborgen weltstürzende Ideen ausgesprochen werden, ohne daß man in Europa eine Ahnung davon hat. Ruhig spricht man weiterhin von dem stagnierenden Geistesleben der Chinesen. – Nun liegt der Fall K'ang Yu We allerdings etwas eigenartig. Er ist auch mit der chinesischen Welt des Neuen ganz auseinandergekommen durch den merkwürdigen Zwiespalt in seinem Leben.

Unter den Schülern K'ang Yu Wes ragt bei weitem Liang K'i Tsch'ao am meisten hervor, wohl der fruchtbarste Schriftsteller, den das moderne China besitzt. Die Veröffentlichungen des heute in den Anfängen der fünfziger Jahre stehenden Mannes gehen schon ziemlich weit zurück. Er hat mit K'ang Yu We zusammen sich für die Aufnahme westlicher Bildung und westlicher Methoden eingesetzt und hat mit ihm zusammen den neuen literarischen Stil geschaffen, dessen Gewalt die öffentliche Meinung Chinas in der Zeit des großen Übergangs vom Alten zum Neuen beeinflußte. Liang K'i Tsch'ao ist von Anfang an viel radikaler in seinen Gesinnungen gewesen als K'ang Yu We. Er machte mit den Gedanken seines Lehrers, die dieser halb schüchtern vor der Welt versteckte, ernst. Von Japan aus, wohin er nach dem Mißerfolg des gemeinsamen Reformversuchs unter Kaiser Kuanghsü geflüchtet war, arbeitete er aktiv am Umsturz des Alten und an der Vorbereitung des Neuen mit. Nach der Revolution von 1911 kam er nach China zurück und hat eine Zeitlang verschiedene Ämter in der Regierung der jungen Republik innegehabt. Er hat sich dann wieder von der amtlichen Laufbahn zurückgezogen, da sie zu viele Kompromisse notwendig machte, und lebt nun das Leben eines Gelehrten und Schriftstellers. Er ist von ungemein beweglichem und anpassungsfähigem Geiste und gehört noch heute zu den meistgehörten Führern der Jugend. Er steht in seinen religiösen Ansichten dem Buddhismus nahe, den er für die Religion Chinas hält, nachdem er durch eine eingehende Reformation seine Schlacken abgestreift haben würde. Volkswirtschaftlich steht er sozialistischen Überzeugungen nahe, was ja auch bei der ganzen klassischen Literatur der Chinesen der Fall ist. Wenn man neuerdings soviel von der bolschewistischen Gefahr für China redet, so liegt dem ein großer Irrtum zugrunde. China wird nicht gewaltsam bolschewisiert werden, weil viele der lebendigen Gedanken, die dem Bolschewismus seine Triebkraft geben, in China schon längst an der Arbeit sind und zum Teil sogar die realen Verhältnisse gestaltet haben. Daher findet man im neuen China ja auch trotz aller Kämpfe und Parteiunterschiede ein durchaus einheitliches Volksempfinden, das sich neuerdings immer mehr in einer geschlossenen öffentlichen Meinung ausdrückt. Liang K'i Tsch'ao hat einmal den Inhalt dieser öffentlichen Meinung in zwei grundlegenden Sätzen zusammengefaßt:

1. Alle, die keine Chinesen sind, haben kein Recht, sich in chinesische Angelegenheiten einzumischen.

2. Alle, die Chinesen sind, haben das Recht, in chinesischen Angelegenheiten mitzubestimmen.

Er führt diese Punkte dann noch folgendermaßen weiter aus: »Der erste Satz spricht den Geist des nationalen Staates aus, der zweite den Geist der Republik. Diese doppelte Gesinnung war früher keineswegs vollständig abwesend, doch die öffentliche Meinung schlief und träumte und fand keinen klaren Ausdruck. Aber im Verlauf dieser letzten 50 Jahre, oder noch genauer der letzten 30 Jahre, hat sie einen ganz deutlichen Ausdruck gefunden. Ich wage zu behaupten, daß, wenn nach dem Sturz der Mandschus wieder ein fremder Stamm dem Beispiel der Wu Hu, Toba, Liao, Kin, Mongolen oder Mandschus folgen und das alte Lied von der Invasion und Beherrschung Chinas von neuem beginnen wollte, eher das Meer austrocknen und die Felsen verfaulen könnten, als daß sie noch einmal Erfolg hätten. Ich wage zu behaupten, daß das Schild der Republik, das jetzt über uns hängt, auch nicht in Jahrtausenden wieder herabgerissen werden kann. Ganz einerlei, ob einer so heilig wäre wie Yao und Schun oder so mächtig wie Ts'in Schï Huang oder der Ahn der Ming oder so listig wie Ts'ao Ts'ao oder Sï-Ma I: wenn er Kaiser von China werden wollte, würde kein Mensch es dulden. Diese Tatsache darf man nicht leicht nehmen, man darf nicht sagen, daß es sich hier nur um Worte, nicht um Wirklichkeiten handle. Ein altes Wort sagt sehr richtig: ›Der Name ist der Gast der Wirklichkeit.‹ Alles, was in der Gesellschaft den festen Platz eines korrekten Namens einnimmt, wird sicher, indem sich dem Namen entsprechend die Wirklichkeit verdichtet, immer mehr im Volksbewußtsein sich festigen. Kurz, was wir Chinesen in den letzten 30 Jahren getan haben, ist einmal, daß wir dem mehr als tausendjährigen Zustand, da immer wieder fremde Stämme von außen her uns zu beherrschen unternahmen, ein für allemal gründlich ein Ende gemacht haben, und zweitens, daß wir die Willkürherrschaft des Absolutismus, die seit den zwei Jahrtausenden von Ts'in Schï Huang auf uns lastet, für alle Ewigkeiten beseitigt haben. Diese beiden Dinge sind auch keineswegs die Frucht eines unbewußten Zufalls, sondern sie sind durch ein ganz tiefes Erwachen und große Anstrengung zustande gekommen. Von hier aus betrachtet, ist dieses Ergebnis entschieden als Fortschritt zu bezeichnen.

Was nun allerdings unsere staatlichen Verhältnisse während des Jahrzehnts der Republik anlangt, so begegnen sie allgemeinem Hohn des Auslandes. Dennoch glaube ich, daß kein Grund da ist zum Verzweifeln, denn diese Zustände sind durch zwei außergewöhnliche Ursachen bestimmt, die beide in kurzem beseitigt sein werden. Die eine Ursache ist, daß man sich während der Revolution, weil die eigene Kraft des Volkes noch nicht stark genug war, genötigt sah, äußere Macht Dieser Passus bezieht sich auf die Truppenführer, die als Erben Yüan Schï K'ais, den man bei Beginn der Revolution nicht entbehren konnte, mit ihren Söldnerheeren nun eine große Verlegenheit bilden. zu Hilfe zu nehmen. Die Machtpolitik ist ein Gespenst der alten Zeit. Da dieses Gespenst eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und sehr klug ist in der Anwendung seiner Mittel, so konnte man nicht verhindern, daß es noch ein paar Jahrzehnte weiterspukte, aber seine Zeit ist zum größten Teil abgelaufen, und in kurzem wird es zu Ende mit ihm sein. Wenn erst diese Zeit vorüber ist, wird ganz von selbst eine neue politische Atmosphäre sich bilden.

Die zweite Ursache liegt in den naturgemäßen Vorgängen bei der Ausdehnung einer Bewegung. Die einzelnen Etappen der Umwandlung wurden von einer Reihe von wirklichen Helden unter Einsetzung ihrer ganzen Kraft erreicht. Da ist es nur natürlich, daß im Lauf der Zeit ein vorübergehender Ermattungszustand eintritt, und außerdem sind leider eine ganze Anzahl der entschlossenen Kämpfer als Opfer der Zeit gefallen. Die Nachfolger fanden nicht sofort den Anschluß an ihre Höhe, so entstand ein Zwischenraum von einer gewissen Leere. Aber ich denke, daß diese Zeit nun auch vorüber ist. Die alten Führer haben ein wenig ausgeruht und können aufs neue erwachen zu neuem Kampfeseifer. Und da auch die neu in die Reihen Einrückenden von Tag zu Tag zahlreicher werden, so ist die Lage so, daß eine neue Zeit erwartet werden kann.«

Alle die drei genannten Führerpersönlichkeiten stehen wie gesagt irgendwie dem Buddhismus nahe, denn auch K'ang Yu We erwähnt ihn gelegentlich in seinen Schriften. Daß der Buddhismus, der eine Zeitlang daniederlag und in Aberglauben niedriger Art versunken war, wieder hochkam und heute in China wieder regelrecht unter den Gebildeten Mode zu werden beginnt, hängt natürlich mit den historischen Verhältnissen zusammen. Ein Sekretär des bekannten Staatsmannes Tsong Kuo Fan, namens Yang Wen Hui, der später auch mit dem Sohn von Tsong Kuo Fan, dem bekannten Marquis Tsong, als dieser Gesandter in London wurde, nach Europa ging, war es, der in dieser Hinsicht großen Einfluß auf die Gelehrten der neuen Schule ausübte. Er hatte eine überaus gründliche und tiefe Bildung und ließ sich in späteren Jahren in Nanking nieder, wo er sich der Erforschung des Buddhismus und dem Unterricht von Jüngern in den Geheimnissen der buddhistischen Gedankenwelt widmete. Er starb einen Tag vor dem Ausbruch der Revolution. Der von ihm gegründete Kreis ist noch heute in seinen Ausläufern in Nanking vorhanden.

Sicher hat der Buddhismus Gefahren für manche der oberflächlicheren seiner Anhänger gehabt. Manche wurden aus einem gewissen Weltüberdruß in seine Arme geführt, um sich zu retten vor dem Getriebe des Lebens. Diese pessimistische Stimmung, die jedoch nicht mit Notwendigkeit im Mahayana-Buddhismus begründet ist, bedeutet natürlich eine Senkung des Niveaus, ähnlich wie das im Christentum der Fall war in den Zeiten, da man sich durch Weltflucht aus diesem irdischen Jammertal zu retten suchte. Aber die sehr verbreitete Sekte vom »Reinen Land«, die in mancher Hinsicht an den Protestantismus erinnert, indem sie Erlösung nicht aus Werken, sondern allein durch den Glauben erhofft, hat fast noch mehr geschadet. Diese Sekte verzichtet von vornherein auf die Möglichkeit, in diesem Leben schon Vollendung zu erreichen. Man vertraut auf Amida und ruft ihn an (Chinesisch: »Amit'ofo«), dadurch erlangt man die Kraft seiner stellvertretenden Verdienste, durch die man nach dem Tod in das »Reine Land«, das Paradies, eingeht, wo man noch einmal wiedergeboren wird, um das Nirwana zu erlangen. Dieser Glaube bedeutet eine starke Erleichterung. Man kann ihn unter Menschen von recht zweifelhafter Art finden. Sie beten und meditieren, dann gehen sie wieder hin und sündigen fröhlich weiter, denn sie wissen ja, daß der einfache Ausruf Amit'ofo wieder alle Seligkeiten herbeiruft. In dieselbe Richtung gehört es, daß die Vertreter des Buddhismus die verschiedenen spiritistischen und sonstigen okkultistischen Geheimsekten gefördert haben in ihrem oft sehr lichtscheuen Treiben. In diesen Beziehungen ist eine Reform des Buddhismus am Werk. Daß man dabei auch Anleihen beim Christentum macht, Jubiläumsfeiern christlicher Art abhält, Zeitschriften herausgibt, buddhistische Jünglingsvereine (Y. M. B. A.!) gründet, ist eine Auskunft, die wohl nicht sehr geschmackvoll ist, aber auch nicht zum eigentlichen Wesen der Sache gehört. Ganz ernsthafte Männer unter den Führern der Jugend sind der Meinung, daß, wie die Wiedergeburt Europas von der Wiederbelebung des Griechentums durch die Renaissance und die Wiederbelebung des Christentums durch die Reformation bewirkt worden sei, so auch das chinesische Rinascimento, von dem die heutige chinesische Jugend so viel redet, ebenfalls diese doppelte Wurzel haben müsse: auf ästhetischem Gebiet die Erneuerung der Literatur und Kunst und auf dem Gebiet der Weltanschauung eine Erneuerung des Buddhismus. Das Christentum liegt diesen Kreisen offenbar zu fern. Man bekämpft es nicht weiter, man hält es für eine in Europa selbst im Absterben begriffene Kraft, man ist der vielen Streitigkeiten müde, man hält seinen Standpunkt gegenüber den vielen neuen Fragen, die das geistige Leben beschäftigen, für veraltet. Man fällt nach Abwägen des Für und Wider das Urteil: »Weder Lob noch Tadel« Dieses Urteil, das bedenklich an das Wort: »Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist« aus Apoc. 3, 15 erinnert, spricht z. B. ganz unbefangen Liang K'i Tsch'ao in seiner »Geschichte der Wissenschaft während der Ts'ingdynastie« aus..

Unter den Führern des neuen China muß hier auch der kürzlich verstorbene Sun Wen (Sun Yat Sen) genannt werden, der ebenfalls aus der Kantonprovinz, also dem äußersten Süden Chinas, stammt. Es ist anläßlich der chinesischen Revolution schon von ihm die Rede gewesen. Hier sei nur noch erwähnt, daß er in einem Werk großartige Pläne für die wirtschaftliche Ausgestaltung Chinas hinterlassen hat. Ein Netz von Eisenbahnen sollte ganz China überziehen. Große weltstädtische Hafenplätze sollten an der Küste geschaffen werden. Vgl. Schen Yi und Stadelmann, China und sein Weltprogramm. Alles ist phantasievoll und großzügig, in Zahlen gedacht, die nur in Amerika ihre Parallele haben. Das Suggestive der Persönlichkeit Sun Yat Sens hat aber im allgemeinen nicht in seiner literarischen Arbeit gelegen. Sein wild bewegtes Leben voll Gefahr und Verfolgung schenkte ihm keine Zeit zu literarischer Vertiefung. Aber er war bedeutend als Sammlungsmittelpunkt. Er hat das Banner der Revolution hochgehalten, bis die Republik die Regierungsform Chinas geworden war. Nach dieser politischen Revolution wandte er sich dem Gedanken der sozialen Umbildung zu, je mehr er sah, daß mit der Umwandlung der Staatsform allein noch recht wenig getan war. Aber daß er es war, der auch den neuen Weg einschlug, bewirkte, daß die dem Neuen zustrebenden Kräfte einheitlich blieben. Er hat das soziale Empfinden des Bürgertums geweckt und es zum großen Teil mitgerissen auf die Bahn der sozialen Reformen. Daß heute Kaufleute, Studenten und Arbeiter eine einheitliche Masse bilden, daß auch die Soldaten im entscheidenden Moment mit dem Volk zusammengehen, ist die große Kraft des neuen China. Dieser ganz starke, einheitliche Geist hat die Gewißheit des Sieges in sich. So bedeutet der Name Sun Yat Sens für weite Kreise des chinesischen Volkes ein einigendes Symbol. Vielleicht wird diese Kraft nun, da er gestorben ist, noch größer werden, weil er zu Lebzeiten gerade in Kanton eine Menge parteimäßiger Gegner hatte und weil er während der dauernden Kämpfe, in denen er stand, und die zwischen Sieg und Niederlage schwankten, doch manchmal zu Maßregeln gezwungen war, um sich Geld für seine Zwecke zu verschaffen, die nicht immer seine Beliebtheit bei den davon betroffenen Kreisen vermehrten.

Namentlich bei der studierenden Jugend spielt eine große Rolle der Präsident der Pekinger Reichsuniversität, Ts'ai Yüan P'e. Ts'ai Yüan P'e stammt noch aus der alten Schule. Er war Mitglied der alten Hanlin-Akademie und beherrscht die alte chinesische Wissenschaft und den alten Stil vollkommen. Er hat sich jedoch von Anfang an mit Überzeugung der neuen Bewegung angeschlossen, in der er sehr bald eine führende Stelle einnahm. Er ist der einzige der literarischen Führer aus der älteren Generation, der längere Zeit an europäischen, besonders an deutschen Universitäten verbrachte. Zurückgekehrt nach China war er als Unterrichtsminister tätig und wurde schließlich mit der Präsidentschaft der Pekinger Reichsuniversität betraut. Sein Werk ist der Neuaufbau des gesamten chinesischen Erziehungs- und Bildungswesens. Wir haben gesehen, daß die chinesische Reformarbeit lange schwankte, wieviel von der westlichen Zivilisation zu übernehmen sei, ohne daß es nötig würde, die altüberlieferte Kultur zu beschränken oder aufzugeben. Das mußte natürlich ein Versuch bleiben, der notwendig zum Scheitern verurteilt war. Denn die Beherrschung der altchinesischen Schrift, des alten Stils, der alten Philosophie, der alten Geschichte war eine Aufgabe gewesen, die bisher die Kräfte eines normalen Studierenden vollkommen ausgefüllt hatte. Wollte man nun noch fremde Sprachen, Mathematik oder Realien hinzufügen, so mußte eine Halbheit entstehen, die je nach der Orientierung entweder auf die »neuen« Fächer oder auf die »alten« Fächer besonders drückte. In Wirklichkeit waren die bisherigen Versuche ein Übergang von der einen Art zur anderen gewesen.

Die erste Einführung der westlichen Wissenschaften unter den Jesuiten bleibt außer Betracht, insofern als die von ihnen gebrachten westlichen Kenntnisse nicht als Bestandteil der Allgemeinbildung eingeführt wurden, die ruhig in ihren alten Bahnen blieb, sondern nur von einem Teil der damaligen Gelehrten aufgenommen und verarbeitet wurden. Die damaligen Einwirkungen auf die chinesischen Wissenschaften hätten noch fruchtbarer sein können, wenn die Jesuiten die damals neueste Wissenschaft von Europa importiert hätten. Allein sie schleppten sich – aus religiösen Gründen – noch immer mit der Astronomie Tycho de Brahes herum, so daß sie zwar leichter in der chinesischen Weltanschauung Eingang fanden – denn der Standpunkt, auf dem sie standen, war nicht prinzipiell von dem antik chinesischen verschieden – aber sie revolutionierten die chinesische Wissenschaft nicht. Die chinesischen Arbeiten, die auf der Grundlage des von ihnen Gebrachten standen, waren notwendig dazu verurteilt, veraltet zu sein, schon als sie entstanden.

Die Aufnahme der modernen europäischen Wissenschaft geschah, wie schon gezeigt, äußerst zögernd. Nur für die praktische Anwendung schienen die westlichen Kenntnisse, in denen man mehr bloße Technik als Wissenschaft sah, geeignet. Noch Tschang Tschi Tung stand mit seinem bekannten Manifest, das die Reform der Bildung fordert, auf dem Standpunkt, daß der Kern der Bildung altchinesisch und nur die Praxis europäisch sein sollte. Diese Unterscheidung beherrschte jahrzehntelang die Diskussion, sie löste die Schwierigkeit mit einer eleganten Phrase. In Wirklichkeit sah man sich natürlich genötigt, den Kern immer mehr zusammenschrumpfen zu lassen, da die praktische »Schale« immer mehr an Ausdehnung gewann. Dadurch bildete sich ein Zustand der Wurzellosigkeit bei der Jugend heraus, der wirklich bedauerlich war. Namentlich in Missionsschulen konnte man es erleben, daß die Zöglinge zwar ganz leidlich in englisch sich ausdrücken konnten, aber ihre eigene Muttersprache nicht mehr so weit beherrschten, daß sie auch nur einen einfachen Brief hätten schreiben können. Damit sank natürlich der Wert ihrer fremden Ausbildung innerhalb des chinesischen Kulturgebietes auf die Bedeutung der Sprachenkenntnis eines Oberkellners herab. Die Absolventen solcher christlichen Universitäten brachten es daher auch vielfach nicht weiter als zu Dolmetschern, Schreibern oder Büroangestellten in fremden Diensten, was andere Leute mit ein wenig Mutterwitz in weit kürzerer Zeit ohne »Universitätsstudium« auch erreichten.

Auf der anderen Seite zeigte sich der Mißstand, daß gerade die Vertreter des Neuen, die Reformatoren wie K'ang Yu We oder Liang K'i Tsch'ao keine fremde Sprache verstanden und deshalb für ihre Kenntnis des Westens im wesentlichen auf Übersetzungen angewiesen waren. Diese Übersetzungen waren teils oberflächlich und ungenau, wie die meisten der in älterer Zeit von Missionaren angefertigten, teils waren sie in elegantem Chinesisch geschrieben, wie die berühmten Übersetzungen von Yän Fu. Aber diese Werke waren so glatt übersetzt oder eigentlich umgeschrieben, daß sie sich lasen wie alte chinesische Schriften und das Neue der Gedanken sozusagen eingewickelt und zugedeckt war durch den alten literarischen Stil. Es war, wie wenn wir etwa die Darwinschen Werke durch eine Aneinanderreihung von Bibelstellen übersetzen wollten. Daneben kam auch in Betracht, daß die übersetzten Werke keineswegs die wichtigsten waren, sondern Werke zweiten Ranges, Sachen von Huxley, Spencer, St. Mill, Montesquieu. Diese Dinge bildeten nun eine Zeitlang in China die Quintessenz der modernen Wissenschaft.

Diesen unvollkommenen Versuchen, Ost und West einander nahezubringen und eine einheitliche Volksbildung wieder zu gewinnen, konnte nur durch einen kühnen Entschluß ein Ende gemacht werden. Man mußte den Ballast des Alten, der nur beschwerte, ohne zu bereichern, energisch beseitigen, um Zeit zu gewinnen für eine Ausbildung in der chinesischen Schriftsprache und den Realien. Bisher hatten die klassischen Werke der alten Philosophen zugleich dem Unterricht im Lesen und Schreiben gedient. Ein Kompendium der konfuzianischen Moral, Philosophie und Geschichte diente als erste Fibel, es war das sogenannte Dreizeichenbuch, das seinen Namen davon hat, daß es in dreifüßigen Versen geschrieben ist. Es begann mit den tiefen Worten:

»Der Menschen Anfang
Ist in der Wurzel ihrer Natur gut.
Von Natur sind sie einander nahe,
Durch Gewöhnung kommen sie einander fern.«

Diese Schriften wurden Wort für Wort auswendig gelernt – nur dem Ton nach, ohne daß der Schüler zunächst verstand, was er las. Erst wenn er die ganzen Werke memoriert hatte, wurden sie in einem zweiten Kurs, oft recht oberflächlich, ihrem Sinne nach erklärt. Man kann sich denken, daß die tiefen Weisheitslehren der größten Denker der alten Zeit für kleine Abc-Schützen nicht eben die am leichtesten verdauliche Kost waren, und daß sie – namentlich bei dem veräußerlichten Lehrbetrieb der letztvergangenen Zeit – nicht eben viel zur lebendigen moralischen Erziehung der mit ihnen überfütterten Knaben dienten.

Ts'ai Yüan P'e tat nun, als er Unterrichtsminister war, den entscheidenden Schritt, der durch seine Vorgänger in mancher Hinsicht vorbereitet war, er beseitigte die alten klassischen Schriften aus dem Elementarunterricht und wies ihnen den Platz zu, der ihnen gebührte: die Universität. Hier sollten die alten Schriften philologisch, historisch und philosophisch bearbeitet und für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. In den Schulen aber wurden Lesebücher eingeführt, die nicht mehr in der hieroglyphisch schweren Sprache vergangener Jahrtausende geschrieben waren, sondern die, dem Gedankenkreis der Gegenwart entnommen, die Schüler bekanntmachen sollten mit dem Gebrauch ihrer Muttersprache in Wort und Schrift.

Man kann die Bedeutung dieser Reform kaum überschätzen. Denn nicht nur wurde der ganze Bildungsgang, die ganze Art des Lernens von Grund aus nach den Prinzipien der Pädagogik umgestaltet; auch der Konfuzianismus hörte damit auf, die religiöse Grundlage der Bildung zu sein. Literarische Bildung hatte man im alten China in der Schulgemeinschaft erlangt, die letzten Endes auf den Meister der zehntausend Generationen, Konfuzius, zurückging. Wenn diese Schulgemeinschaft auch nicht die straffe Organisation einer Kirche hatte, so bildete sie doch einen festen Lebens- und Weltanschauungshintergrund. Der »Meister« schwebte unsichtbar über allen Schulen. Wissenschaft war zugleich Religion und Moral. Die Schrift war heilig. Beschriebene Papiere wegzuwerfen, galt als Frevel. Man hatte in den Schulen Kasten aufgehängt, in denen sie gesammelt wurden, um von Zeit zu Zeit feierlich verbrannt zu werden. Mit dem Lernen ging praktischer Dienst im Hause des Lehrers häufig Hand in Hand. Der Schüler wuchs hinein in die große, die Jahrhunderte umspannende Kulturgemeinschaft. Damit daß die konfuzianischen klassischen Schriften Gegenstand des Universitätsstudiums geworden sind und ihre Grundsätze – zum Teil stark modifiziert – nur noch im Unterrichtsfach der Ethik gelehrt werden, ist eine neue Einstellung von selbst gegeben. Konfuzius wird zwar noch mit Achtung und Verehrung genannt als Weiser des Altertums, aber die lebendige Beziehung ist unterbrochen. Die Schule ist entkirchlicht.

Als Ts'ai Yüan P'e dann die Leitung der Pekinger Reichsuniversität übernahm, schuf er sie um zu einer umfassenden Bildungs- und Forschungsanstalt. Er gliederte sie in Fakultäten und Abteilungen. Der Lehrkörper bekam dadurch, daß er die Dekane und den Prorektor wählte, selbständigen Anteil an der Leitung des Ganzen. Es gelang Ts'ai Yüan P'e, die bedeutendsten jüngeren Kräfte heranzuziehen. Ein unglaublich produktives wissenschaftliches Leben begann. Trotz geringer Bezahlung, die infolge der trostlosen Finanzverhältnisse oft monatelang im Rückstand bleibt, herrscht eine beispiellose Schaffensfreudigkeit unter den Professoren und ein enger Kontakt zwischen Lehrern und Studenten. Ts'ai Yüan P'e hat die unbedingte Freiheit der Wissenschaft zum Prinzip gemacht. Auch die kühnste, revolutionärste Weltansicht kam zu Wort, aber auch stark konservativ gerichtete Lehrkräfte konnten sich unbehindert beteiligen. Selbst der Reaktionär Ku Hung Ming war eine Zeitlang Dozent an der Universität.

Im allgemeinen kann man sagen, daß die Pekinger Universität an der Spitze aller geistigen Bewegungen Chinas steht und daß sie eine lebendige Kraft in unmittelbarem Kontakt mit dem Volksleben ist. Die Professoren halten es alle für eine Ehre, dieser Gemeinschaft anzugehören. Die Studenten suchen und finden Berührung mit den breitesten Schichten des Volkes. Sie sind freiwillig tätig an Abendschulen für das Volk. Alles, was an wissenschaftlichen, ästhetischen, sozialen Fragen auftaucht, findet Interesse, und eine Menge freier Vereinigungen bildeten sich, in denen Dozenten und Studenten sich an die Bearbeitung neu auftauchender Fragen machen. So hat denn die Pekinger Universität, wie sie durch Ts'ai Yüan P'e und seine Mitarbeiter geschaffen wurde, einen überaus wichtigen Platz im geistigen Leben des neuen China.

Eine der bedeutendsten Taten dieses Kreises um die Pekinger Reichsuniversität ist die Schöpfung einer neuen chinesischen Umgangssprache. Die alte chinesische Schriftsprache geht im wesentlichen zurück auf die Sprache der letzten vorchristlichen Jahrhunderte. Damals hatte sich aus der manchmal noch etwas unbeholfenen vorklassischen Sprache und Schrift eine äußerst elegante, biegsame und doch klare Schriftsprache herausgebildet, die in den bekannteren Werken jener Zeit niedergelegt ist. Diese Schriftsprache hatte sich im wesentlichen durch die Jahrhunderte hindurch erhalten und wurde immer wieder bei neuen Kompositionen nachgebildet, auch dann noch, als die gesprochene Sprache längst eigene Wege gegangen war, und zwar so weit von der Schriftsprache abweichende, daß diese nicht mehr verstanden wurde, wenn man sie gelesen hörte, vielmehr das Schriftbild zum Verständnis unbedingt notwendig war. Schon seit der Zeit der Auseinanderentwicklung von Wort und Schrift gab es neben der Schriftsprache auch eine Literatur in der jeweils gesprochenen Sprache. Der berühmte Gelehrte Tschu Hsi in der Sungzeit hat z. B. seine Gespräche mit seinen Jüngern in der Umgangssprache herausgegeben. Außerdem kam eine volkstümliche Literatur von Dramen, Novellen und Romanen auf, die alle mehr oder weniger der Umgangssprache sich näherten. Aber diese ganze Literatur führte nur ein Dasein zweiten Ranges und galt nie als vollwertig.

Nun kamen mit der neuen Zeit auch neue Bedürfnisse. Eine literarische Revolution fand statt, die mit den großen Bewegungen der Renaissance zu vergleichen ist, durch die die europäischen Nationalsprachen zu Schriftsprachen wurden. Man wollte eine Sprache, die wirklich den neuen Gedanken sich anpassen konnte und die leicht und allgemein verständlich war. Diese literarische Revolution fand ihren ersten Ausdruck in der Zeitschrift »Die neue Jugend«, die von dem Dekan der literarischen Fakultät an der Pekinger Reichsuniversität, Tsch'en Tu Hsiu, begründet worden war. Diese Zeitschrift vertrat politisch und sozial einen sehr weit links stehenden Standpunkt und in der Literatur den Standpunkt des Naturalismus. Ein hochbegabter junger Professor, Hu Schi, der von einem längeren Studienaufenthalt aus Amerika zurückgekehrt war und nicht nur geläufig englisch sprach und schrieb, sondern auch die pragmatische Philosophie Amerikas in sich aufgenommen hatte, entwarf in der Zeitschrift sein neues Programm und machte auch in einer ganzen Reihe von Publikationen wirklich Ernst mit dem Gebrauch dieser neuen Volkssprache. Eine Menge anderer Zeitschriften schloß sich an. Vorübergehend gab es über 400 Zeitschriften und Zeitungen, die in der Volkssprache geschrieben waren und die ihren Stoff hauptsächlich durch Übersetzungen aus fremden Sprachen bezogen. Selbstverständlich konnte sich eine so große Zahl auf die Dauer nicht halten. Ein großer Teil ging später wieder ein. Hu Schi veröffentlichte eine Aufsehen erregende Geschichte der chinesischen Philosophie, von der zunächst der erste Teil in der neuen Sprache erschien und so den Beweis erbrachte, daß diese Sprache auch für wissenschaftliche Werke ein biegsames und brauchbares Verständigungsmittel war.

Ein Sturm des Widerspruchs erhob sich gegen diese Revolution. Man fühlte sich im Lager der Alten verletzt durch die rücksichtslose Volkstümlichkeit der neuen Sprache – wo war die Feinheit, wo der abgewogene Rhythmus, wo der versteckte Schillerglanz der zitatenreichen Sprache der Vergangenheit? Es war alles so klar, so unmittelbar, so offen, so gemein. Natürlich spielte bei dieser Opposition auch der Umstand eine Rolle, daß die literarische Revolution, ganz ähnlich wie die literarische Revolution in Europa am Ende des vorigen Jahrhunderts, mit großen sozialen und politischen Strömungen verbunden war. Tsch'en Tu Hsiu mußte aus Peking fliehen. Er begab sich in die Fremdenniederlassung von Schanghai, wo er eine Anzahl ziemlich radikaler Oppositionsblätter herausgab.

Das literarische Haupt der Gegner der neuen Bewegung war eine Zeitlang Lin Schu, der durch seine Übersetzungstätigkeit eine gute Stellung gehabt hatte, die durch die neue Sprache in Frage gestellt war. Zudem war er auch in politischer Verbindung mit der Anfupartei, die er gegen die radikale Jugend zu verteidigen suchte.

Inzwischen hat die neue Bewegung sich abgeklärt und ist zur festbegründeten Tatsache geworden. Nicht nur die aufstrebende Jugend wie Hu Schi und Liang Schu Ming oder der moderne Dichter Hsu Tschi Mou und viele andere haben wertvolle Werke in der neuen Sprache geschaffen; auch Liang K'i Tsch'ao und Ts'ai Yüan P'e haben sich der Bewegung angeschlossen und haben sie dadurch auf eine unbestreitbare Ebene emporgehoben.

Mit dieser literarischen Bewegung hängt eine große Lebendigkeit des ganzen geistigen Lebens zusammen. Die Schranken gegen das Ausland sind gefallen. Offene und rückhaltslose Auseinandersetzung mit allen Gedanken des Westens hat begonnen. Man hat kein sonderchinesisches Reservat mehr, an das man sich zu klammern sucht, wie Tschang Tschi Tung das noch getan hatte. Eine philosophische Gesellschaft wurde begründet unter dem Vorsitz von Liang K'i Tsch'ao, Tsiang Po Li und dem besonders auch in Deutschland bekannten Dr. Carsun Chang, die fremde Professoren nach China einlud. Bertrand Russell von England, Dewey von Amerika, Hans Driesch von Deutschland und Rabindranath Tagore aus Indien haben dem Ruf bis jetzt Folge geleistet. Andere werden folgen.

Eine Zeitlang schien es, als ob die kulturelle Selbständigkeit Chinas im Zustrom der neuen Gedanken rettungslos verloren sein würde. Der Krieg hat da Wandel geschaffen. Die westlichen, europäisch-amerikanischen Staaten zeigten doch zu deutlich in diesem Krieg die furchtbar gefährlichen Seiten ihrer Kultur. China erwachte aus dem Kosmopolitismus, in den es schwärmend eingetreten war und der sich in den Schriften K'ang Yu We's und anderer Zeitgenossen zeigte, zu einem bewußten Nationalgefühl. In dieser Richtung wirkten dann auch ganz besonders die neu sich zeigenden russischen Einflüsse. Das neue Rußland, das von Europa vielfach mit dem gedankenlosen Schlagwort »Bolschewismus« erledigt werden möchte, ist eine viel mehr zusammengesetzte Erscheinung, als wir hier sehen. Außer dem Prinzip des Kommunismus ist der Sowjetgedanke sehr mächtig, der die freie Zusammenarbeit vollkommen selbständiger, gesellschaftlicher oder nationaler Bildungen bedeutet. Dieser Sowjetgedanke stärkt in Asien überall das nationale Element. So auch in China. Keine »gelbe Gefahr«, das inhaltsleere Gespensterphantom des europäischen schlechten Gewissens, kein blutiger Agrar-Kommunismus, kein »Bolschewismus« in diesem Sinne ist von China zu erwarten, wohl aber die feste Entschlossenheit, Herr im eigenen Hause zu werden, die jahrhundertelange Knechtung durch europäische Anmaßung zurückzuweisen, eine gleichberechtigte Nation unter anderen zu sein und gemeinsam mit ihnen an der großen Menschheitssache mitzuarbeiten. Das sind die Ziele von Jung-China. Deutschland und Rußland haben China dieses Recht freiwillig zugestanden. Die anderen Nationen, die von den Chinesen als Unterdrücker empfunden werden, sehen sich einem sehr starken passiven Widerstand gegenüber, der die ganze chinesische Nation einigt. Sie kämpfen mit Tanks und Maschinengewehren und reden in ihrer Presse von chinesischen Aufständen, wenn sie wieder einige hundert Chinesen niedergeschossen haben – ohne daß ein einziger Europäer getötet worden wäre. Daß vereinzelte Europäer durch Unglücksfälle, Räuber oder durch eigene Schuld zu Schaden kamen, kann hier außer Betracht bleiben. Der ganze Geist der Bewegung ist ganz klar und eindeutig. China hat demgegenüber nur die neue Waffe der Entschlossenheit. So spielen sich dort vor unseren Augen entscheidende Kämpfe einer neuen Weltgestaltung ab.


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