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Mit Bettlern, Dieben und Räubern bin ich nicht sehr häufig in Berührung gekommen, aber meine Erfahrungen waren eigentlich alle verhältnismäßig erfreulich. Denn in China wird die Höflichkeit gegen Gäste und Fremde sehr hoch geschätzt, und man kann bis in die neueste Zeit beobachten, daß diese Ritterlichkeit, wenn sie auch nicht allein ausschlaggebend war, doch eine bedeutende Rolle im Verkehr auch dieser Leute mit den Fremden gespielt hat, solange sich nicht andere Gründe als noch dringender erwiesen.
Natürlich sind die Gesellschaftsschichten, von denen hier die Rede ist, ebenso wie andere Stände in China wohl organisiert, doch disziplinierter als in Europa, wo häufig ein gewisser Konkurrenzneid zwischen den verschiedenen unterweltlichen Berufen zu herrschen scheint. Diese Organisation verlangt dann auch moralische Grundlagen. Schon der Philosoph Tschuangtse hat eine hübsche Geschichte von der Notwendigkeit moralischer Eigenschaften bei einem tüchtigen Räuberhauptmann.
Die Gesellen des Räubers Tschï fragten ihn einmal und sprachen: »Braucht ein Räuber auch Moral?«
Er antwortete ihnen: »Aber selbstverständlich! Ohne Moral kommt er nicht aus. Intuitiv erkennt er, wo etwas verborgen ist: das ist seine Größe; er muß zuerst hinein: das ist sein Mut; er muß zuletzt heraus: das ist sein Pflichtgefühl; er muß wissen, ob es geht oder nicht: das ist seine Weisheit; er muß gleichmäßig verteilen: das ist seine Güte. Es ist vollkommen ausgeschlossen, daß ein Mann, der es auch nur an einer dieser fünf Tugenden fehlen läßt, ein großer Räuber wird.«
Aber ganz ernsthaft gesprochen muß man bekennen, daß die Zugehörigkeit zu dieser unteren anonymen Schicht der Ausgestoßenen des Lebens zwar gewisse seelische Bezirke, die für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben notwendig sind, verkümmern läßt, aber dennoch nicht alle besseren Gefühle des Menschen erstickt. Namentlich gilt dies von den Bettlern, die oft viel mehr durch äußere Verhältnisse, als durch eigene Bosheit aus der Gesellschaft herausgefallen sind. Das Familiensystem in China bewirkt, daß jeder Mensch in seiner Sippe einen festen Rückhalt hat, auf den er sich unter allen möglichen widrigen Schicksalen stets wird zurückziehen können. Aber anders stehen die Dinge, wenn durch Reisen in die Ferne, Epidemien, Wanderungen ganzer Dorfgemeinden in großen Hungerjahren dieser Zusammenhang mit der eigenen Sippe verloren geht. Wohltätigkeitsanstalten fehlen in China zwar keineswegs ganz. Aber die öffentliche Armenpflege ist bei weitem nicht so systematisch organisiert wie in Europa, eben weil der Zusammenhalt der Sippe sie in den meisten Fällen ersetzt. So haben denn die Ausgestoßenen ein bitteres Leben. Höchstens, daß sie da und dort ein Obdach finden. Für die Nahrung und die dürftigen Lumpen, mit denen sie ihre Blöße decken, müssen sie selbst sorgen. Ich war einmal in Tsinanfu in einem Armenhaus. Es war Winter, der Tag war kalt. In den Winkeln der rauchgeschwärzten düsteren Räume saßen die Unglücklichen zusammengedrängt, soweit sie nicht auf Bettelgängen auswärts waren. In der Mitte des Raumes schwelte in trüber Glut ein Kohlenfeuer, an dem ein uralter Mann hockte. Sein mächtiger, wohlgebildeter Schädel war kahl. Die Augen blickten weit und leer, zitternd hielt er die Hände über die Kohlen und auf alle Fragen antwortete er nur mit einem dumpfen Huhu. Er war, wie die anderen sagten, weit über hundert Jahre alt, er habe die Gegenwart vergessen und unterhalte sich nur manchmal auf schauerliche Weise mit den Schatten der Vergangenheit, die sich ums Feuer zu drängen scheinen.
Die Bettler bilden eine regelrechte Gilde. Sie hatten früher einen behördlich anerkannten Bettlerkönig, dem sie Abgaben zu zahlen hatten und der Arbeit und Verteilung der vorhandenen Mittel überwachte. Noch jetzt werden in größeren Städten die einzelnen Straßen, in denen Geschäftshäuser sind, regelmäßig zu bestimmter Stunde abgeerntet. Größere Firmen lösen durch feste Beträge ihre Kunden von der Unannehmlichkeit, angebettelt zu werden, ab. Andere ziehen es vor, den Bettlern nach entsprechendem Warten die Beträge selbst auszuzahlen. Sie lassen die einzelnen dabei ihre Sprüche ziemlich lange hersagen, ehe sie ihnen ihr Kupferstück vorwerfen, denn sonst kämen die nächsten zu rasch, und der für diese Zwecke festgesetzte Betrag würde nicht ausreichen.
Wenn einmal ein Mensch in diese Tiefen gesunken ist, kann man ihm schwer helfen. Er ist erschlafft, es fehlt ihm die Kraft zum sittlichen Aufschwung. Wenn man etwa im Winter einem solchen Straßenbettler warme Kleider schenkt, so kann man mit Verwunderung erleben, daß er sie schon am nächsten Tag verkauft oder versetzt hat. Als ich einmal einen darüber zur Rede stellte, sagte er mir ganz treuherzig: »Ich bin nicht undankbar. Die schönen warmen Kleider waren eine große Wohltat, und ich habe sie auch recht gut verkauft. Aber ich muß in Lumpen gehen, wenn ich auch noch so sehr friere. Denn wenn ich gut angezogen bin, schenkt mir kein Mensch auch nur ein Kupferstück. Und mit warmen Kleidern kann man doch nicht seinen Hunger stillen.«
Natürlich trifft man viel Herabgekommenheit und seelische Defekte unter diesen Leuten. Die dumpfe Gier ist der einzige Trieb, der sie beseelt. Sie betteln und schlagen den Kopf auf den Boden oder rennen den Wagen nach, ohne durch irgend etwas sich abhalten zu lassen. Nur das zugeworfene Geldstück bringt sie für Momente zur Ruhe. Fürchterlich ist das Schicksal dieser Ärmsten, wenn sie krank werden und durch den Anblick ihrer gräßlichen Leiden die Vorübergehenden zu Mitleid und Abscheu erregen. Am Südtor von Peking saßen früher große Rudel von diesen entmenschten Qualgeschöpfen. Als Yüan Schï K'ai die Herrschaft an sich nahm, sind sie dann plötzlich verschwunden. Aber kein Mensch hat erfahren, was aus ihnen geworden ist.
Zuweilen kann man auch Weise und Heilige unter den Bettlern finden. Oft trifft einen aus struppigem Haargewirr und tiefen Falten ein Blick von einer Tiefe des Leides und Milde der Überwindung, daß man sich zu den Füßen eines solchen Bettlers setzen möchte und ihn um sein Geheimnis fragen, durch das er solche Höllen überwunden hat. Aber er sitzt ruhig da und wartet. Er wird nicht ungeduldig, wenn Tausende vorübergehen, und wenn ihm einer etwas gibt, dankt er mit einem stillfreundlichen Lächeln, so daß man das Gefühl bekommt, daß er einem etwas gegeben, das weit mehr ist als das dürftige Geldstück, das man ihm in die Schale gelegt. – Einmal lief ein kleiner Knabe mit bittenden Augen neben mir her. Ich gab ihm ein Stück Brot und Fleisch von meinem Reisevorrat. Er dankte und legte es, ohne etwas davon zu essen, in seine Almosenschale. Ich fragte ihn, ob er fremdes Brot nicht liebe. Da leuchtete sein Gesichtchen: »Eine Festspeise ist es, aber ich habe eine kranke Mutter zu Hause und bin froh, wenn ich es ihr bringen darf.« »Hast du denn selber schon etwas gegessen?« Da sagte er, fast sich entschuldigend: »Nein, heute noch nicht, aber ich bin noch jung und habe es nicht so nötig. Ich finde schon noch etwas für mich.«
Als vor mehreren Jahren in der Provinz Schantung ein betagter Bettler starb, da stellte sich heraus, daß er trotz seiner äußerst dürftigen Lebenshaltung ein recht beträchtliches Vermögen zusammengespart, buchstäblich vom Munde sich abgespart hatte. Dieses Vermögen bestimmte er durch eine hinterlassene Willenserklärung für eine Armenschule, damit wenigstens einige Kinder durch ihn noch nach seinem Tode gerettet werden von dem Los, ihr Leben auf den Straßen als Bettler zu verbringen.
So ist es denn verständlich, wenn in den chinesischen Märchen und in der chinesischen Kunst gar oft alte Bettler von abstoßendem Äußeren im geheimen mächtige Zauberer und Weise sind, und wenn der große Magier Li T'iä Kuai die Erscheinung eines alten Krüppels borgte und sich nicht schämte, in dieser Form in der Gesellschaft der acht Seligen sich zu zeigen, in die er durch seine Zauberkräfte Aufnahme gefunden hat.
Eine besondere Kategorie der Bettler sind die in China sehr zahlreichen Blinden. Sie zeichnen sich im Gegensatz zu den oft mißtrauischen und tückischen Tauben durch eine stille Sanftheit aus. Meist spielen sie eine Laute oder sonst ein Instrument, wenn sie durch die Straßen gehen, und verdienen sich dadurch eine Kleinigkeit. Sie haben in der einen Hand einen Stock, mit dem sie merkwürdig geschickt ihren Weg abtasten, in der anderen einen kleinen Glockengong, dessen regelmäßige Schläge Vorübergehende bitten, Platz zu machen für einen Blinden. Im allgemeinen begegnet man den Blinden auch mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Ich werde nie den Blinden vergessen, der in den Straßen von Sutschou an mir vorüberging. Es war Frühling, und er spielte auf einer kleinen chinesischen Geige, einem jener primitiven Instrumente, die aufrecht gehalten werden und zwischen deren beiden Saiten ein Bogen aus Pferdehaaren gewöhnlich schrille kreischende Töne hervorbringt.
Ich bin schon manchmal gefragt worden, ob China auch Musik hat. Da fallen mir vielleicht die lärmenden Theater ein mit ihren Becken und Kastagnetten, oder die klimpernden Gitarren und die näselnden Töne der Geigen, die die Teehaussängerinnen begleiten, oder auch die klagende Herbstflöte über dem schilfbedeckten See. Aber das alles ist es nicht. Daß China Musik hat, weiß ich, seitdem ich den blinden Geiger gehört an jenem Frühlingsabend in der schönen Stadt Sutschou.
Selbstverständlich sind auch in China nicht alle Bettler solche idealen Musikanten. In Peking sah ich einmal eine Szene, die in ihrer schauerlichen Komik fast an ein Bild vom Höllenbreughel erinnerte. Ich fuhr den weidenumsäumten Kanal entlang, der die Grenze der alten Kaiserstadt bildet. Beim früheren Tatarentempel, in der Nähe des Akazienwäldchens, in dem immer von Zeit zu Zeit die Geister der Erhängten ein neues Opfer fordern, das man eines Morgens an einem der Bäume hängen sieht, war ein Volksgewühl. Die Zeitungsjungen hatten ihre Zeitungen beiseite gelegt und sich herzugedrängt, andere Müßiggänger, die sich immer dichter zusammenballten, umgaben einen schimpfenden Knäuel, aus dem von Zeit zu Zeit Staubwolken aufstiegen. Als ich näher kam, sah ich einen blinden Bettler inmitten seiner Peiniger. Er war aus irgendwelchen Gründen mit ein paar Taugenichtsen in Streit geraten, die sich nun über ihn lustig machten, indem sie ihm immer von neuem Hände voll Straßenstaub ins Gesicht warfen. Der Blinde war in schäumender Wut. Weit riß er seine weißen, leeren Augen auf und schlug mit seinem Stab und seiner Gitarre tobend um sich. Lachend stob die Menge vor seinen Schlägen auseinander, und neue Staubwolken hüllten ihn ein. Mit kreischender Stimme verfluchte und beschimpfte er die Umstehenden. Aber seine unflätigen Schimpfreden wirkten in ihrer maßlosen Übertreibung so grotesk, daß sie wieherndes Lachen hervorriefen. – Gewiß, solche Szenen des zügellos gewordenen Großstadtmobs wirken abstoßend. Aber dennoch muß zur Ehre der Chinesen gesagt werden, daß ein paar ruhige Worte genügten, um die ganze Schar zur Besinnung zu bringen. So rasch wurde Vernunft Meister, wie das unter einer solchen Menge wohl kaum irgendwo sonst möglich gewesen wäre.
Während die Bettler in der Mehrzahl der leidende Teil in der Unterschicht der Gesellschaft sind, sind Diebe und Räuber mehr aktiv gerichtet. Aber wie schon erwähnt, herrscht auch unter diesen Schichten eine feste Ordnung. Im allgemeinen kann man sagen, daß in China wohl gelegentlich Kleinigkeiten, namentlich solche, die vom Besitzer nicht gebraucht oder vernachlässigt werden, wegkommen, daß aber eigentliche Diebstähle weit seltener sind als in Europa. In den ganzen Jahrzehnten vor dem Krieg konnte man im allgemeinen die Haustüre selbst bei Nacht ruhig offen lassen, ohne daß etwas gestohlen wurde. Nur ein einziges Mal um die Neujahrszeit hatten meine Diener ein dürftiges Dieblein gefangen, das sich bei Nacht etwas holen wollte, um während der seligen Tage des Jahres sich auch eine Freude machen zu können. Zitternd trat er vor mich, als ich ihn nach seinen Absichten fragte, und nie habe ich jemand erleichterter entfliehen sehen als diesen Dieb, als ich ihm unter strengen Bedrohungen einige Nahrungsmittel und einen Zehrpfennig auf die Reise in seine Heimat mitgab. Er schwor nie wieder zu kommen und hat seinen Eid gehalten.
Gefährlicher sind die Diebe, die nicht heimlich, sondern offen stehlen. Da, wo die kiefernbewachsenen Höhen des Laoschan sich ins Meer stürzen, steht inmitten von Bambushainen das durch seine Päonien und Kamelienbäume berühmte taoistische Kloster T'ai Ts'ing Kung. Die Mönche zeichnen sich durch Ernst der Lebensführung und fromme Übungen aus. Der Abt war ein guter Freund von mir, der oft an Sommerabenden in tiefen Gesprächen, oder die alte geheimnisvolle Zither spielend lange mit mir zusammensaß. Die Mönche waren auch den Europäern gegenüber sehr freundlich. Ein besonderer Führer und Empfänger für Gäste war vom Abt eingesetzt worden, der den Verkehr mit den fremden Besuchern regelte. Er war oft in Tsingtau bei mir, die Grüße des Abtes überbringend oder einen wunderbaren Stein, einen geheimnisvollen Priesterstab, dessen oberes Ende in einen aus Wurzeln gewachsenen seltsamen Tierkopf ausging, einen Zauberwedel zur Abwehr von bösen Geistern als Geschenk dalassend. So kam er auch eines Tages, er war etwas aufgeregt. Sein Gesicht zeigte etwas Unsicheres, Fuchsähnliches. Doch ich war frei von Argwohn, da er ja wie gewöhnlich die Besuchskarte des Klosters mir mit den Grüßen des Abtes überreichte. Er war gekommen, um eine Mauserpistole mit Patronen zu kaufen, da in der letzten Zeit wiederholt Räuber das Kloster heimgesucht hatten. Gerne besorgte ich die Waffe für ihn und gab sie ihm als Geschenk für das Kloster mit. Ich ermahnte ihn noch, sie nicht wirklich zu benutzen, sondern nur zum Abgeben von Schreckschüssen, was er auch versprach. Wir schossen dann noch probeweise nach einer Scheibe. Er zeigte sich sehr gelehrig, denn schon beim ersten Schuß traf er ins Zentrum. Da er im Auftrag des Klosters eine längere Reise vorhatte, bat er mich noch um ein Darlehen von 100 Dollar, die ich ihm bereitwillig übergab. Er verabschiedete sich in großer Freundlichkeit und versprach, die Rückzahlung des Geldes sofort zu veranlassen. Dann ging er fort.
Ich wartete nun Wochen und Monate. Aber nichts erfolgte. Da kam mir doch sein Fuchsgesicht ins Gedächtnis, und nach längerer Überlegung sandte ich einen Boten nach dem Kloster, um ganz zart nachzufragen, wie die Pistole sich bewähre. Nun kam die ganze Sache zutage. Der Gästeempfänger war rückfällig geworden und unter die Räuber gegangen. Zu diesem Zweck hatte er sich bei mir ausgerüstet. Geld hatte er auch bei anderen Gönnern des Klosters geliehen, aber um eine brauchbare Waffe zu bekommen, brauchte er doch schon einen europäischen Bekannten. Das Kloster T'ai Ts'ing Kung bewies sich bei diesem Anlaß übrigens wirklich großzügig und anständig. Die »geborgten« 100 Dollar wurden trotz aller meiner Einwendungen restlos zurückbezahlt, da der Mann eine Besuchskarte des Klosters bei sich gehabt und daraufhin das Geld bekommen hatte.
Diese Methode freundschaftlicher Darlehen wird von geschickten Dieben in China häufig angewandt. Es war noch zur Kaiserzeit, als bei einem Generalgouverneurwechsel in einer Provinzialhauptstadt sich folgendes ereignete. Der alte Gouverneur wartete auf seinen Nachfolger, um ihm die Siegel zu übergeben. Da meldete sich beim Provinzialschatzmeister ein älterer Herr als Vater des neuen Gouverneurs. Er teilte mit, daß sein Sohn ihm auf dem Fuße folge, daß er aber vorausgeeilt sei, um einen Vorschuß von ein paar Tausend Taels zu erheben zur Bestreitung der Kosten des Amtswechsels. Der Schatzmeister bot ihm Tee an und unterhielt sich mit ihm, und er war über alle Fragen vollkommen unterrichtet. Unterdessen wurde der neue Gouverneur gemeldet. Er trat ein und begrüßte den Schatzmeister und seinen Vater aufs höflichste. Nach ein paar Worten stand der alte Herr auf und sagte: »Ihr werdet wohl Amtsgeschäfte zu erledigen haben, da will ich nicht weiter stören. Ich bitte nur noch erst um die erwähnte Anweisung.« Der Schatzmeister stellte die gewünschte Anweisung auf die Provinzialkasse aus. Der alte Herr ging weg, von den beiden anderen aufs höflichste geleitet. Als sie wieder Platz genommen und die üblichen Höflichkeitsformeln gewechselt hatten, fing der Schatzmeister an: »Ihr Herr Vater ist noch recht frisch bei seinem Alter.« Der Gouverneur seufzte und sprach: »Ja, er war bis zu seinem Ende bei vollen Geisteskräften.« »Wieso? Was meinen Sie mit dem Ende? Hat er sich von den Geschäften zurückgezogen?« »Ach ja, er ist vor drei Jahren gestorben.« Der Schatzmeister begann an der Zurechnungsfähigkeit des Gouverneurs zu zweifeln. »Er war doch eben hier!« Nun wurde es dem Gouverneur unheimlich. »Wann?« fragte er, »Wie sah er aus?« »Nun, doch der Herr, der eben weggegangen ist!« »Den kenne ich nicht«, erwiderte der Gouverneur. »Sie waren aber doch so ehrerbietig zu ihm und ließen ihn auf dem Ehrenplatz sitzen«, sprach der Schatzmeister. »Das tat ich, weil ich sah, mit welcher Ehrfurcht Sie ihn behandelten.« Der Schatzmeister fing nach einer Pause zaghaft wieder an: »Dann hat er wohl auch den Vorschuß nicht in Ihrem Auftrag erhoben?« »Ich dachte nie an einen Vorschuß«, sagte der Gouverneur bestürzt. »Nun, dann war es ein Schwindler.« Der Schatzmeister ließ aufs eiligste Kassenbeamte und Wachen kommen. Aber es half nichts, der alte Herr hatte den Betrag bereits erhoben und war spurlos verschwunden. –
Leider beschränken sich ähnliche Erlebnisse nicht auf chinesische Provinzialschatzmeister. –
Es war nach der Eroberung Tsingtaus durch die Japaner. Ich hatte während der Belagerung Tsingtaus die Leitung des chinesischen Roten Kreuzes geführt und war infolge davon nach der Einnahme auf freiem Fuß belassen worden. Die chinesischen Verwundeten wurden weiterhin gepflegt, und von befreundeter chinesischer Seite wurden mir von Zeit zu Zeit Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Das muß irgendwie bekannt geworden sein. Denn als ich eines Abends in meiner Wohnung saß und las – die Diener waren kurz vorher zur Ruhe gegangen – kam plötzlich zur Tür über die Veranda ein merkwürdig aussehender Chinese ins Zimmer herein, der sich interessiert überall umsah. Noch ehe ich recht wußte, was er wollte, kamen ein paar weitere nach. Ich fragte nun auf chinesisch, was sie eigentlich wollten. Statt der Antwort traten zwei von ihnen, ziemlich finstere Gesellen, hinter mich und hatten mir im Augenblick die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Der dritte trat hinter den Tisch mir gegenüber, zog eine Mauserpistole, zielte nach mir und sagte: »Was wir wollen? Totschießen wollen wir dich.« Ich hatte plötzlich das absurde Gefühl, mich mitten in einem Räuberroman zu befinden. Die Geschichte kam mir weniger gefährlich als komisch vor. So fragte ich denn, warum sie mich eigentlich totschießen wollten. »Sie haben heute 2000 Dollar bekommen, und die wollen wir haben«, war die Antwort. Ich bemerkte darauf, daß sie wohl nicht nötig hätten, mich zu töten, wenn das ihre einzige Absicht sei. Das sahen sie denn nach kurzer Verhandlung, in deren Verlauf der eine dafür sprach, die Sache auf gelinde Weise zu behandeln, auch ein. Ich sagte ihnen, daß ich zwar keine 2000 Dollar habe, daß ich mich aber außerstande sehe, ihnen das vorhandene Geld vorzuenthalten. Sie fragten nun nach dem Schlüssel zum Kassenschrank und auf welche Buchstaben das Schloß sich öffne. Dabei nahm der eine mir im Vorbeigehen meine goldene Uhrkette mit Uhr ab. Die Uhr war wenig wertvoll, da meine goldene Uhr stehen geblieben war und zu jener Zeit in Tsingtau nicht repariert werden konnte. (Sie wurde mir dann später, nachdem sie repariert war, in Berlin auf dem Generalkonsulat einer der durch den Versailler Frieden neugebildeten Mächte gestohlen), aber die Kette verlor ich ungern. Zum Glück interessierten sich die Räuber nicht für meine Brieftasche, in der eine größere Summe in Banknoten steckte. Unterdessen hatte ein anderer den Geldschrank geöffnet und die Geldkassette herausgeholt. Die Kassette war verschlossen. Nun begannen sie wieder zu verhandeln: Sie hätten ja jetzt das Geld und würden es gewißlich mitnehmen. Aber es sei doch eigentlich schade um die Kassette. Mir sei der Schlüssel allein nichts nütze, während er für sie sehr wertvoll wäre. Diesem Argument verschloß ich mich nicht und zeigte ihnen, wo der Schlüssel verborgen lag. Sie schlossen auf und waren ein wenig enttäuscht, nicht mehr Geld zu finden. Ich versuchte nun auch zu verhandeln und sagte: Das Geld im rechten Fach sei mein eigenes und stehe ihnen zur Verfügung. Das Geld links dagegen gehöre dem Roten Kreuz und sei zur Pflege chinesischer Verwundeter bestimmt, das möchten sie dalassen. Sie waren nicht dafür zu haben: »Wir sind Rotbärte Rotbärte, chinesisch Hung Hu Tse, ist der Name einer mandschurischen Räuberart, die auf ihren Zügen sich rote Barte umzubinden pflegten. Später wurde der Name allgemein für Straßenräuber gebraucht. und kümmern uns nicht ums Rote Kreuz.« Da war also nichts zu machen. Ich fragte, ob sie nicht eine Tasse Tee wollten. Aber sie hatten es eilig. Sie wollten mir nun einen Knebel in den Mund stecken und mir auch noch die Beine zusammenschnüren. Der Knebel, der aus einem ziemlich schmutzigen blauen Tuch genäht und offenbar mit Sand gefüllt war, machte einen widerlichen Eindruck. Wer mochte ihn schon vor mir im Mund gehabt haben! So wurde ich denn ernst und sagte ihnen, daß ich das unter keinen Umständen wünsche. Sie pflegten wieder einen kurzen Kriegsrat, und dann sprach der Mildeste unter ihnen, ich hätte mich eigentlich sehr höflich betragen, und sie wollten auch keine Unmenschen sein. Sie wollten von der Knebelung absehen, aber ich dürfe mindestens eine halbe Stunde lang nichts gegen sie unternehmen. Der Freche schnürte mir doch noch, wenn auch unvollkommen, die Beine zusammen und sagte, wenn ich mich rühre, würde ich von draußen her erschossen, dort ständen ihre Genossen. Man hörte auch wirklich einen dumpfen Lärm vor der Tür. Damit verließen sie das Haus. Ihr Besuch hatte offenbar etwas länger gedauert, als sie in Aussicht genommen hatten. Zum Schluß konnte ich mir nicht versagen, ihnen nachzurufen, daß ich doch 2000 Dollar habe. Sofort kamen sie wieder herbeigestürzt: wo sie seien. »Auf der Bank«, erwiderte ich freundlich. Das dämpfte ihr Interesse merklich; denn die Bank war unter japanischer Bewachung und vor Dieben geschützt. Sie hielten sich nun nicht länger auf, sondern verschwanden im Dunkeln.
In diesem Moment kam von allen Seiten Hilfe. Mein Hund, der sich die ganze Zeit über mäuschenstill hinter dem Ofen gehalten hatte, kam laut bellend hervor, als die Räuber sich entfernt hatten (es war natürlich ein Dachshund). Mein Diener band mir geschäftig die Fesseln auf, als ich ihn in seinem Zimmer aufgesucht. Es waren wundervoll feste, seidene Schnüre in den japanischen Landesfarben, weiß und rot, solide zusammengezwirnt. Ein Bekannter, der mich abends zu besuchen pflegte, kam herbei. Er hatte sich zufällig diesen Abend um eine halbe Stunde verspätet. Ich mußte ihm die ganze Geschichte erzählen. Unterdessen sandte ich einen Diener nach der japanischen Polizei, um Anzeige zu erstatten. Die Polizei kam in starkem Aufgebot herbei und nahm gewissenhaft ein Protokoll auf: wie ich heiße, wann ich geboren sei, Name, Rufname, Geburtstag und Geburtsort, sowie Sterbetag der Eltern, ferner die Namen und die übrigen Daten von meiner Frau und meinen vier Kindern. Dann sollte ich die Gründe angeben, weshalb meine Familie nicht in Tsingtau anwesend sei (ich hatte sie vor der Belagerung, die doch immerhin lebensgefährlich war, in Sicherheit gebracht). Ferner mußte ich angeben, was gestohlen war. Ich mußte genaue Rechenschaft darüber ablegen, weshalb ich eine weniger wertvolle Uhr an einer wertvolleren Kette getragen. Die Fesseln mußten beigeschafft werden und wurden trotz meiner inständigen Bitten, sie als Andenken behalten zu dürfen, als Corpus delicti rigoros mit fortgenommen. Darauf entfernte sich die Polizei wieder.
Am anderen Morgen sollten meine sämtlichen Diener verhaftet und mit Petroleum vollgepumpt werden, um den Diebstahl zu gestehen. Mit vieler Mühe bekam ich sie wieder frei, da ich überzeugt war, daß sie nicht beteiligt waren.
Ein chinesischer Geheimpolizist, der aus der Mandschurei mit den Japanern nach Tsingtau gekommen war, verpflichtete sich, der Sache auf die Spur zu kommen, wurde aber entlassen, als seine Nachforschungen auf Spuren wiesen, die sich nicht auf chinesische Räuber beschränkten. Es lebten nämlich damals in Tsingtau zweifelhafte Elemente, die im Anschluß an die japanische Armee aus der Mandschurei, der Heimat der Hunghutsen, herbeigekommen waren, und eine Aktiengesellschaft zur Beraubung der wohlhabenden Chinesen der Umgebung bildeten. In Tsingtau selbst durften sie später nicht mehr rauben, aber in der Umgebung haben sie die ganze Zeit über ihr Handwerk ausgeübt, wobei es leider nicht immer so glimpflich zuging wie bei mir. Gar manche Mordtaten bezeichnen die Spuren dieser grauenvollen Aktiengesellschaft.
Unterdessen erfuhr auch die japanische Regierung von der Sache. Man bestellte mich auf die Militärverwaltung. Ich wurde sehr entgegenkommend behandelt, und der Gouverneur verfügte, daß ich eine militärische Wache vor das Grundstück erhalten solle. Chinesische Freunde haben ferner ein paar handfeste Wächter für mich gemietet, die die ganzen Nächte das Haus umkreisten und dabei mit derben Prügeln auf den Boden schlugen, um üble Elemente abzuschrecken. Als ich aber eines Abends ausgegangen war und bei meiner Rückkehr mein Grundstück wieder betreten wollte, da stürmte mit lautem Schrei die Wache aus ihrem Schilderhaus hervor und setzte mir das Bajonett auf die Brust. Nur mit Mühe gelang es mir, den Mann zu überzeugen, daß ich der Bewohner des Hauses sei und kein Räuber. Er schien mir endlich Vertrauen zu schenken und ließ mich passieren. Aber nun sprangen die beiden Wächter vom Lande mit ihren Prügeln auf mich zu und hätten mich beinahe zu Boden geschlagen, wenn es mir nicht eben noch gelungen wäre, auch sie von ihrem Irrtum zu überzeugen.
So war denn dieses Abenteuer überstanden. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an die gute und menschliche Behandlung, die die japanische Verwaltung den Deutschen in Tsingtau zuteil werden ließ. Ich erhielt in Tsingtau keinen Räuberbesuch mehr.
In China wurde die Räuberplage besonders schlimm infolge des Weltkriegs. Die vielen Arbeiter und Hilfssoldaten, die nach Frankreich und Belgien befördert worden waren zur Bekämpfung der Deutschen, haben dort recht viel gelernt, und so ist es denn zu verstehen, daß sie nach ihrer Rückkunft keine Lust hatten, ohne weiteres ins Privatleben zurückzukehren. Soweit sie sich daher nicht in die Truppenverbände der verschiedenen Marschälle einreihen ließen, wurden sie Räuber auf eigene Faust. Besonders grausam haben die Banden des Lao Yang Jen gewütet, der schon durch seinen Namen, der »Alter Ausländer« bedeutet, bewies, wo er sein Handwerk gelernt hatte. Er hat ganze Dörfer niedergebrannt, nachdem er sie vorher ausgeraubt hatte; die Männer wurden meist getötet, Frauen und Mädchen mitgeführt als Sklavinnen. Zeitweise beherrschte er weite Gebiete und wußte bei der glänzenden Bewaffnung und militärischen Schulung seiner Leute auch den regulären Truppen erfolgreiche Gefechte zu liefern. Schließlich wurde er aus Eifersucht von einem Mitglied seiner Bande ermordet, worauf es gelang, die Gesellschaft aufzulösen.
Während diese Räuber in ihrem Stil noch der alten Zeit nahestanden, tat sich eine andere Bande zusammen, die mehr in der Art der Räubergesellschaften m. b. H., wie sie Bernard Shaw gelegentlich darstellt, ihr Handwerk betrieben. In der gefährlichen Ecke, in der die Provinzen Schantung und Tschili aneinanderstoßen, hatten sie sich eine Festung eingerichtet. Dort liegt ein Berg, wie gemacht für derartige Unternehmungen. Er steigt beinahe senkrecht auf, nur ein ganz schmaler Fußweg führt an den Wänden hinauf. Oben ist er eben und als Ackerland zu benützen. Die Sage geht, daß man, um die Felder dort oben zu bestellen, kleine Kälber im Arm hinauftragen und sie dort oben aufziehen müsse, da ein erwachsenes Rind unmöglich den Berg ersteigen könne. Ein paar Häuser stehen oben, die mit leichter Mühe so in Verteidigungszustand gesetzt werden können, daß sie vollkommen uneinnehmbar sind. Hier war das Hauptquartier der Räuber, wo sie ein richtiges kleines Staatswesen eingerichtet hatten. Der junge Häuptling hatte in Europa gelernt, daß einfaches Sengen und Brennen zwar spaßhaft, aber im Grunde doch wenig einträglich ist, und daß der Elementargrundsatz einer gesunden Finanzwirtschaft die Vermögenserfassung ist, die so genau funktioniert, daß für die Besitzer jede Verschleierung und Verschiebung unmöglich wird. Diese Vermögenserfassung (auf chinesisch Pang P'iao genannt) verstanden sie meisterhaft. Sie setzen sich in den Besitz der reichen Leute der Umgebung oder ihrer teureren Angehörigen und hielten sie als Gäste auf ihrer Burg fest, solange bis eine Summe, die dem Vermögen der Betroffenen angepaßt war, ausbezahlt wurde. Sie waren im ganzen recht manierlich. Nur wenn das Geld nicht kam, verstanden sie keinen Spaß.
Schließlich wurde die Sache den Truppenführern der Nachbarschaft zu bunt, und es sollte ein regelrechter Feldzug gegen die Räuber erfolgen. Diese aber bereiteten in ihrer Verlegenheit einen Kapitalstreich vor. Sie machten einen Vorstoß auf den Expreßzug Peking-Hankou. In der Nähe von Lintschong rissen sie die Schienen auf. Der Zug, der nach Mitternacht die Strecke passierte, konnte zum Stehen gebracht werden. Nun folgte ein wildes Gewehrfeuer auf den Zug zur Einschüchterung, dann ein regelrechter Sturm. Das Zugpersonal wurde unschädlich gemacht, der Zug selbst leicht überplündert, wobei es dem einzigen Deutschen unter den Fahrgästen gelang, unter Verlust einiger Schmuckstücke, für die er inzwischen längst reichlichen Ersatz bekommen hat, zu entfliehen. Die übrigen Passagiere kamen nicht so leicht davon. Sie mußten, wie sie gingen und standen – die meisten also in notdürftig ergänzten Nachtkleidern –, eine längere Wanderung antreten, um mit den Räubern zusammen außer Verfolgungsweite zu kommen. Dabei kamen sehr rührende Szenen vor. Die Gattin eines amerikanischen Milliardärs hatte ihren wertvollen Brillantschmuck in ihre Schuhe getan. Als aber die Wanderung länger dauerte und tiefer ins Gebirge führte, mußte sie inne werden, daß selbst der schönste Schmuck eine Last ist, wenn man ihn unter den Fußsohlen trägt. So benützte sie denn eine Ruhepause und vergrub ihn unter einem Stein. Es hat später den ehrlichen Findern ziemlich viele Mühe gekostet, bis alle Steine, die in Betracht kamen, aufgedeckt waren und der Schmuck wieder an seine Besitzerin zurückgebracht werden konnte.
Die Betroffenen nahmen die Gefangenschaft, soweit sie nicht unter Krankheit und Unbilden zu leiden hatten, als eine Art von Sport auf, zumal die Räuber recht angenehm waren und zum größten Teil auch ein gutes Französisch sprachen, das sie während des Weltkriegs in Europa gelernt hatten. Dennoch ließen sie sich nicht dazu herbei, ihre früheren Alliierten auf freien Fuß zu setzen. Sie hatten in Frankreich auch gelernt, was man Europäern bieten kann. Die Gefangenen wurden in mehreren Tagemärschen in den Schlupfwinkel der Räuber gebracht, wo sie die nächsten Wochen zu bleiben hatten. Nur die Damen, vor denen die Räuber einen heiligen Respekt bekamen, wurden sehr bald freigelassen. Nun wurden Verhandlungen gepflogen. Erst wurde ein Waffenstillstand vereinbart, nach dem die regulären Truppen sich mehrere Dutzend Kilometer zurückziehen mußten. Dann wurden die Bedingungen stipuliert: entsprechende Lösegelder und Straflosigkeit der Räuber mit der Aussicht, in die chinesische Armee eingereiht zu werden, wobei sich die Führer höhere Offiziersposten ausbedangen. Ferner sollten Vertreter der fremden Mächte die Erfüllung der Bedingungen garantieren, da man der eigenen Regierung doch nicht unbedingt traute. Die chinesische Regierung hatte einen äußerst schweren Stand. Auf der einen Seite standen die Räuber und drohten die Fremden zu töten, wenn man ihnen nicht zu Willen war, auf der anderen Seite stand das diplomatische Korps – außer dem deutschen Gesandten, der den Fall des beteiligten Deutschen auf friedliche Weise geregelt hatte. Die fremden Vertreter machten die chinesische Regierung verantwortlich, die wirklich nichts dafür konnte, und drohten mit progressiv sich steigernden Schadenersatzforderungen für materielle und seelische Schäden, wobei namentlich die Seelenschäden sehr bedeutende Summen ausmachten. Während die chinesische Regierung auf der einen Seite aufs heftigste gedrängt wurde, band man ihr andererseits die Hände, indem man jedes gewaltsame Vorgehen gegen die Räuber inhibierte.
Es entspannen sich mit den Räubern unter dem Beisein von Europäern und Amerikanern regelrechte diplomatische Verhandlungen. Man traf sich an einem neutralen Ort. Man lud sich zu Tisch. Man richtete eine regelrechte Postverbindung mit eigenen »Räubermarken« ein, die für Sammler von großem Interesse waren. Man machte Aufnahmen von dem jungen hübschen Räuberhauptmann, der sich so sehr für die photographischen Apparate interessierte, daß plötzlich einer davon verschwunden war. Kurz, es ging alles sehr charmant zu, und schließlich erreichten die Räuber, was sie wollten: aus dem Brigantenführer wurde ein Brigadenführer, und auch von seinen Leuten wurden soviele, wie den Wunsch hatten, ins reguläre Militär eingereiht. Sie bildeten eine geschlossene Abteilung, die den Truppen von Schantung angegliedert wurde. Die solideren der Räuber zogen es freilich vor, teils mit ihrem Verdienst sich ins Privatleben zurückzuziehen, teils bei einer anderen Räuberbande in Stellung zu gehen.
Der Räuberhauptmann von Lintschong war nicht der erste, der vom Räuber zum General eine rasche Laufbahn gemacht. Aber er besaß nicht das Zeug dazu. Er und die Seinen mißverstanden offenbar die neue Stellung, die sie durch Vermittlung der fremden Vertreter bekommen hatten. Sie konnten es sich nicht versagen, gelegentlich doch noch ein bißchen zu rauben. So mußten die Vorgesetzten schließlich trotz allem eingreifen und eine summarische Hinrichtung vornehmen lassen.
Das Auftreten von Räubern ist in China immer das Symptom von Übergangszeiten. Wenn jeweils die alte Ordnung sich aufgelöst hat, wenn Mißwachs und Teuerung das Leben unerträglich macht, dann kommt es vor, daß wilde Elemente der Bevölkerung, die nicht gewillt sind, sich widerstandslos dem Schicksal zu ergeben, ihre Laufbahn verlassen und als Räuber die Plagen noch vermehren, die auf der Bevölkerung in solchen Zeiten ohnehin schon lasten. Es ist nicht gesagt, daß das immer die schlechtesten Elemente sind. Es sind nur die, die lieber Hammer sein wollen als Amboß. Oft kommt eine religiöse Bewegung hinzu, und aus der Räuberbande wird die Geheimsekte. Zuweilen schon haben um die Wendezeit zwischen zwei Dynastien solche Geheimsekten eine Rolle gespielt. Die Sekte vom weißen Lotos, die Bruderschaftsekte, die Vereinigung der Drei und andere haben in solchen Zeiten sich einen Namen gemacht, der aus Furcht vor den Untaten und einem geheimen Grauen vor ihrer Zaubermacht gemischt war.
P'u Sung Ling erzählt in einer seiner Novellen, die von einem alten Zauberer handelt, von den Zauberkunststücken der Sekte vom weißen Lotos. Der Zauberer hatte einen Lehrling, der mit seiner Lieblingssklavin verbotene Liebe pflegte. Der Zauberer merkte es wohl, behielt es aber bei sich und sagte gar nichts. Er hieß den Lehrling die Schweine füttern. Kaum hatte der den Schweinestall betreten, da verwandelte er sich alsbald in ein Schwein. Der Zauberer rief den Metzger, ihn zu schlachten und verkaufte sein Fleisch. Niemand erfuhr davon.
Endlich kam der Vater des Lehrlings, um nach ihm zu sehen, weil er schon lange nicht mehr heimgekommen war. Der Zauberer wies ihn ab, indem er sprach, er sei längst nicht mehr da. Der Vater ging nach Hause zurück und erkundigte sich allenthalben nach seinem Sohn, doch konnte er nicht das mindeste erfahren. Allein ein Mitschüler, der heimlich die Sache wußte, teilte sie dem Vater mit. Der Vater verklagte nun den Zauberer beim Amtmann. Der aber fürchtete, daß der Zauberer sich unsichtbar mache, und wagte nicht, ihn zu verhaften, sondern berichtete an seinen Vorgesetzten und bat um tausend gewappnete Krieger. Die umringten nun das Haus des Zauberers. Er ward mit seiner Frau und seinem Sohn zugleich ergriffen. Man sperrte sie in hölzerne Käfige, um sie nach der Hauptstadt abzuliefern.
Der Weg führte durch ein Gebirge. Mitten im Gebirge kam ein Riese, der war so groß, wie ein Baum, hatte Augen wie Tassen, ein Maul wie eine Schüssel und fußlange Zähne. Die Krieger standen zitternd da und wagten nicht, sich zu rühren.
Der Zauberer sprach: »Das ist der Berggeist. Meine Frau kann ihn in die Flucht schlagen.«
Man tat, wie er gesagt hatte, und befreite die Frau von ihren Banden. Die Frau nahm einen Speer und ging ihm entgegen. Aber der Riese wurde wild und verschlang sie mit Haut und Haar. Alle gerieten darob nur noch mehr in Furcht.
Der Zauberer sprach: »Hat er mir die Frau umgebracht, so muß mein Sohn daran.«
Nun ließ man auch den Sohn heraus. Aber auch er ward gleichermaßen verschlungen. Alle sahen ratlos zu.
Der Zauberer weinte vor Zorn und sprach: »Erst hat er mir die Frau umgebracht und nun den Sohn; würde es ihm doch heimgezahlt! Aber außer mir kann's keiner.«
Richtig nahmen sie auch ihn aus seinem Käfig heraus, gaben ihm ein Schwert und schickten ihn vor. Der Zauberer und der Riese kämpften eine Zeitlang miteinander. Schließlich packte der Riese den Zauberer, steckte ihn in den Rachen, reckte den Hals und schluckte ihn herunter. Dann ging er wohlgemut davon.
Die Soldaten aber merkten erst zu spät, welchen Streich ihnen der Zauberer gespielt hatte.
Auch der berühmte Roman: Die Geschichte der drei Reiche fängt mit der Schilderung eines Aufruhrs von solchen Räuberbanden mit geheimen Zauberkräften an. Der Unterschied im gegenwärtigen Zeitpunkt ist nur der, daß die Räuber in früheren Zeiten mit schwarzer Magie sich abgaben, gegenwärtig aber mit westlicher Kriegstechnik. Man sieht auch daran, wie die Zeit in China unaufhaltsam weiterschreitet.