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Mit einigen chinesischen Schülern hatte ich mich auf den Weg gemacht, um chinesische Vergangenheit zu erleben. Damals war die Schantungbahn, die Tsingtau mit der Hauptstadt Schantungs, Tsinanfu, verbindet, noch nicht fertig gebaut. Es war noch altes China in der Provinz. Die Einwohner hatten sich erst gegen den Bahnbau gestemmt. Sie fürchteten, daß die Geister des Telegraphen, die durch die Luft summten, das Schnauben und Rasseln des »Feuerwagens« die Ruhe der Ahnengräber stören könnten. Sie hatten richtig geahnt. Die Eisenbahn hat die Ahnen aus ihren Gräbern aufgeschreckt. Ganz buchstäblich. Die Erde hat ihren Mund aufgetan und speit empor, was in heiliger Verborgenheit Jahrtausende in ihr geruht. Aus den Gräbern kommen hervor geheimnisvolle Zauberspiegel mit einer Patina wie schwarzglänzender Lack. Es kommen hervor schwere, malachitgrüne Bronzen von strengen alten Formen mit Inschriften, die über Zeit und Ort ihrer Entstehung erzählen. Urälteste Orakelknochen werden emporgewälzt, die in geheimnisvolle Tiefen chinesischer Urzeit schauen lassen, alte Runen decken ihre glatten Flächen, und vieles, was wie alter Mythos klang, ist mit bildhaften Zeichen auf ihnen eingegraben. Jene ungezählten Grabbeigaben kommen hervor: Frauen und Diener, Pferde und Kamele und seltsam verschwiegene Totengötter, alle jene Begleiter ins rätselvolle Jenseits, die lange Jahrhunderte den Toten mitgegeben wurden und die der europäische Sammler unter dem Namen der Tangplastik zusammenfaßt. Die aufgestörten Ahnengeister haben noch vieles andere gebracht. Die Ruhe fester Gewohnheiten, die seit Jahrtausenden über China lag, wurde unterbrochen, und ein Chaos neuen Werdens breitete sich über das Land.
Aber damals in den ersten Jahren des Jahrhunderts wußte man auf dem Lande noch wenig von dieser Zukunft. Der Bahnbau hatte Schwierigkeiten gemacht – nicht größere übrigens als seinerzeit in Europa. Die Esel der Bauern waren weggelaufen, wenn das Dampfroß anschnaubte, und die Bauern waren feindlich gewesen. In kurzem aber kamen sie herbei und benützten die neue Beförderungsgelegenheit und wunderten sich schließlich nur darüber, daß es nicht noch viel schneller ging.
Wir benützten die Bahn bis Wehsiän. Diese Stadt liegt ungefähr in der Mitte der Schantunghalbinsel. Sie ist seit alter Zeit ein Sitz von Gelehrtenfamilien. Von hohen Mauern mit Zinnen umgeben, liegt sie unmittelbar an einem breiten Fluß, dessen sandiges Bett als Ort für die regelmäßigen Lebensmittelmärkte benutzt wird, da er meist bis auf eine schmale Rinne trocken ist. Wir nahmen in einer Herberge Wohnung. Der Beamte hatte von meiner Ankunft Ich hatte kurz vorher einen höheren chinesischen Beamtenrang erhalten, da ich einen Orden abgelehnt hatte. Die verschiedenen Rangstufen waren durch verschiedene Kugeln gekennzeichnet, die auf der chinesischen Mütze getragen wurden: Rang 9-7 trugen vergoldete Kugeln aus Bronze, 6 eine milchweiße, 5 eine bergkristallene, 4 eine aus Lapislazuli, 3 eine aus Saphir, 2 eine aus Koralle, 1 eine aus Rosenquarz. Die Inhaber der höheren Rangstufen hatten ein Anrecht auf Reiseerleichterung durch die Ortsbeamten. Wenn auch dies Recht im Fall von Fremden nicht gesetzlich festgelegt war, so taten die Ortsbeamten doch aus Höflichkeit alles, um die fremden Gäste zu befriedigen. gehört und hatte einige Diener mit Erfrischungen gesandt. Auch wurde der Herbergsraum festlich für mich hergerichtet. Der Jahrhunderte alte Staub des Lehmfußbodens wurde durch heftiges Kehren mit dem kurzen Handbesen durcheinandergewirbelt, die Stühle wurden mit roten Polstern versehen, und an den Türen wurden rote Seidenstreifen und Vorhänge befestigt.
Ich schickte meine chinesische Visitenkarte Die alten chinesischen Visitenkarten bestanden aus rotem Papier, auf dem meist in drei Zeichen die lautliche Umschreibung des Familiennamens, der voransteht, und des Rufnamens, der nachsteht, verzeichnet war. Mein chinesischer Name z. B. ist We Li Hsiän, wobei We als Familienname, Li Hsiän als Rufname gilt. Da jedoch jede Silbe im Chinesischen auch eine Bedeutung hat, ist es besonders wichtig, daß man bei der Wahl der chinesischen Zeichen gut beraten wird. Sonst können Dinge vorkommen wie die, daß eine Dame die Zeichen D Yu Ya mit der Bedeutung »Die Gans, die in Asien reist« oder ein Mann die Zeichen Pu tschi tao mit der Bedeutung »ich weiß nicht« auf die Karte bekommt, was natürlich immer etwas erheiternd wirkt. Manche Dolmetscher waren berühmt wegen der boshaften Wahl ihrer Namentranskriptionen. ins Yamen (Regierungsgebäude), um meinen Besuch beim Ortsbeamten anmelden zu lassen. Es war dunkel geworden, ehe ich mich auf den Weg machen konnte. Ich wurde in einer Sänfte durch die dämmerigen Straßen getragen. Voran gingen Amtsdiener mit Papierlaternen im Geschwindschritt, um den Weg frei zu machen. Ehrfurchtsvoll wich die Menge, die sich durch die engen Gassen schob, zur Seite. Es ging durch das hohe Tonnengewölbe des Stadttores, in dem die Schritte der Träger dröhnten. Die riesigen, eisenbeschlagenen Torflügel waren noch offen. Erst nach Einbruch der Nacht wird durch einen hellen Hornstoß und dumpfes Trommeln das Zeichen gegeben, worauf die Tore sich knarrend schließen. Diese Stadttore mit ihrem trotzigen Aussehen, oft überragt von kleinen Tempelchen, haben meist eine lange Geschichte von Krieg und Frieden erlebt, und unheimlich sind sie umwittert von den Ereignissen. In ihrer Tiefe hängt etwa ein vergittertes Kästchen, in dem ein Paar Schuhe stehen. Es sind die Schuhe eines gerechten und beliebten Beamten, die ihm beim Abschied von der dankbaren Bevölkerung als Andenken abgenommen wurden, während ihm ein Paar neue überreicht wurden, die ihm den Aufstieg ebnen helfen sollten. Aber man konnte auch andere Dinge sehen, etwa den Kopf eines berüchtigten Räubers, der in einem kleinen Käfig hier zur Abschreckung oft wochenlang aufgehängt wurde. In Wehsiän hing übrigens damals kein Kopf im Tor, und ruhig ging es durch die gepflasterten Straßen weiter, vorbei an matt erleuchteten Läden und Werkstätten, bis die Träger endlich durch das hohe Torgebäude ins Yamen einbogen. Der Beamte empfing mich in einem kleinen Privatraum und war sehr freundlich, ordnete auch alles für die Weiterreise, die für den nächsten Morgen geplant war, an.
Am nächsten Morgen in der grauen Frühe kam eine Reisesänfte mit zwei Abteilungen von Trägern für mich und ein Reisewagen für die Schüler und das Gepäck. Die chinesischen Reisewagen sind zweirädrige Vehikel ohne Federn mit einem tonnenförmigen Aufbau, der in der Regel mit blauem Tuch bespannt ist. Der Wagen ruht auf zwei Deichseln, die direkt dem Pferd angeschirrt werden. In der Ebene genügt ein Pferd. Bei schwierigen Wegen wird ein zweites davor gespannt. Die Wagen sind noch ganz wie sie vor Jahrtausenden waren, sehr stabil gebaut, so daß sie auch auf den schlechtesten Wegen, wo sie oft gefährlich schief stehen, sich doch immer wieder auf den beiden Rädern aufrichten und ein Umkippen zu den Seltenheiten gehört. Die Chinesen stopfen sich den Wagen mit Gepäck und Decken so voll, daß sie selbst zwischen den weichen Gegenständen eingeklemmt sind und so das Schütteln des federlosen Wagengestells mit Ruhe ertragen können. Ich habe später auch die Vorzüge eines chinesischen Reisewagens schätzen gelernt, aber ehe man sich daran gewöhnt hat, sieht man in ihm nur ein Marterinstrument. Die Reitpferde, die man unterwegs gestellt bekommt, sind meist alte abgemagerte Mähren, die nur auf dauerndes Schlagen mit ein paar Schritten Trab antworten, weil dann der zu Fuß mitgehende Pferdeknecht den Schwanz des Tieres um seine Hand wickelt und sich auch noch mitziehen läßt. Daher blieb als einziges bequemes Reisemittel die Sänfte. Das regelmäßige Schwanken ist man bald gewöhnt. Man hat einen Teetopf bei sich stehen, aus dem man nach Belieben in eine Tasse, die auf dem Querbrett vor der Sänfte steht, eingießen kann. Man kann dazu Melonenkerne knacken und die Gegend betrachten oder lesen. Ich las damals, solange wir durch ebene Gegenden kamen, den chinesischen Roman von der treuen Ehegefährtin, jene Geschichte von den beiden jungen Leuten, die so tugendhaft sind, daß sie schließlich vom Kaiser zusammengetan werden, nachdem sie alle Anfechtungen glänzend bestanden haben. Es ist das der Roman, den Goethe in seinen Gesprächen mehrfach erwähnte und den Schiller einmal bearbeiten wollte. In der chinesischen Literaturgeschichte spielt er kaum eine Rolle, da er im Stil trocken und in der Handlung marionettenhaft ist, aber im Europa des 18. Jahrhunderts wurde er viel übersetzt, da er so recht zu den Chinoiserien der damaligen Zeit paßte.
Die nächste größere Station nach Wehsiän war die Stadt Tsingtschoufu. In der Nähe der Stadt sind eine Reihe von Erdpyramiden, Gräber früherer Könige. Hier war die Hauptstadt der alten Fürsten von Ts'i, an deren Hof Konfuzius einst geweilt und die berühmte Schaomusik gehört hatte, die ihn so ergriff, daß er drei Monate lang den Geschmack des Fleisches vergaß. Hier war der Schneepalast, in dem Mongtse jenes denkwürdige Gespräch mit dem König von Ts'i hatte über die wahre Freude eines Fürsten, die darin bestehe, daß er alle Schönheit der Musik und der Gärten und Schlösser mit seinem Volk gemeinsam genieße. Noch wird die Stelle gezeigt, wo einst dieser marmorne Palast gestanden. Ein paar steinerne Löwen aus weit späterer Zeit stehen auf einer öden Fläche, auf der im Hintergrund irgendwo ein zerfallenes Gebäude ist, das als Unterkunft für die Bettler der Stadt dient. Die Reste eines uralten Stadttores ragen wie ein Hügel aus der Ebene hervor. Im Volksmund heißt dieser Hügel der Ameisenberg.
In Tsingtschoufu lag damals, getrennt von der chinesischen Stadt durch eine besondere Ummauerung, ein befestigtes Mandschulager unter einem Kommandanten, der mich halb aus Höflichkeit, halb aus Neugier auch empfing. Die Mandschubevölkerung, bei der sich hauptsächlich die Frauen durch ihre unverkrüppelten Füße mit den dicksohligen Stiefeln, durch ihre langen ungeteilten Gewänder und durch den seltsamen Aufbau des Kopfputzes von den chinesischen Frauen unterschieden, während die Männer für die Fremden nur schwer sich unterscheiden lassen, war schon damals in recht dürftigen Verhältnissen, da sie ganz von den Tributanteilen des Hofes lebte und selber sich von jeder Arbeit fernhielt.
Auch eine starke mohammedanische Bevölkerung lebt in der Stadt. Die chinesischen Mohammedaner sind zum ganz überwiegenden Teil Abkömmlinge von Turkvölkern, deren Vorfahren als Soldaten ins Land gekommen waren. Der häufigste Familienname unter ihnen ist Ma – eine Chinesifizierung des Namens Mohammed. Da und dort findet man noch einen arabischen Koran oder sonst ein arabisches Werk, das aber selbst die Mollahs nur auswendig wissen, nicht eigentlich lesen können. Im übrigen zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie kein Schweinefleisch, sondern hauptsächlich nur Hammelfleisch essen, das in ausdrücklich als Hui Hui, d. h. mohammedanisch bezeichneten Schlachtereien verkauft wird. Auch Wein trinken sie nicht – nur Beamte lassen sich von diesem Verbot dispensieren, um in der Erfüllung ihrer Amtspflichten, die auch einen gewissen gesellschaftlichen Verkehr einschließen, nicht gehemmt zu sein. Moscheen, die sich im Stil aber sehr eng an chinesische Gebäude anlehnen, finden sich auch an den meisten Orten mit mohammedanischer Bevölkerung.
Von Tsingtschoufu aus ging dann der Weg in mehreren Tagereisen vorbei an dem Eisenberg bei Kinlingtschen nach der Provinzialhauptstadt Tsinanfu. Tsinanfu war damals noch eine alte chinesische Stadt ohne die staubige und lärmende Fremdenniederlassung, die außerhalb der Mauern sich inzwischen angesiedelt hat. Die Stadt liegt am Fuß des Tausendbuddhaberges, der sich mit seinen Tempeln und Klöstern im Süden erhebt. Sie ist überaus quellenreich. Die Quellen sprudeln an einigen Orten in perlender Klarheit aus dem Boden. Tempelanlagen und Teehäuser umgeben den Ort. Ein Markt mit seinen Buden und Menschengewühlen belebt die Ufer. Von den Quellen aus durchziehen Wasseradern die ganzen Straßen, weshalb Tsinanfu zu den reinlichsten Städten Chinas gehört. Ein alter unscheinbarer Pavillon liegt an einer Biegung des Wasserlaufs. Dort ist Frühmarkt. Morgens, lange vor Tagesanbruch werden meist ganz im geheimen Altertümer und sonstige Wertgegenstände von Dienern verarmter vornehmer Familien, Händlern oder gelegentlich auch wohl Dieben dorthin gebracht und von Kaufleuten aufgekauft. Das Feilschen und Drängen in der Morgenkühle ist überaus romantisch. Man kann, wenn man sich auf den Handel versteht, gelegentlich ganz gute Stücke erwerben, man kann aber auch – und dies ist wohl die Regel für den harmlosen Europäer – gewaltig betrogen werden. Denn sowie ein Europäer auftaucht, kommen aus den umhegenden Geschäften die Leute mit ihren Schätzen hervor und zeigen sie in geheimnisvoller Weise verstohlen vor, um dadurch Neugier und Kauflust zu wecken. Und da in Wehsiän z. B. eine ausgedehnte Fabrikation von Bronzealtertümern ist, kann man sich vorstellen, daß da im ungewissen Flackern der nächtlichen Laternen manche Enttäuschung für den lichten Tag sich vorbereitet.
Die vielen Wasser der Stadt sammeln sich im Norden in einem Lotossee, dem Taming-Hu. Dieser See ist das Ziel der müßigen Jugend der vornehmen Häuser. Breite Boote mit glaswandigen Aufbauten, in denen an gedeckten Tischen Tee und Melonenkerne serviert werden, fahren durch die freien Wasserrinnen zwischen den großen Lotosblättern und den duftigen, großen, zartroten Blumen hin und verschwinden wieder im Grünen. Da und dort hört man fröhliches Lachen oder sieht die bunten Gewänder einer Sängerin durchs Gebüsch schimmern. Oder es klimpert jemand auf der Laute, zu der irgendeine Arie aus einem Theaterstück gesungen wird. Der See hat Stationen, die auf kleinen Inseln liegen. Da sind Pavillons unter hohen Weidenbäumen versteckt. Gedächtnishallen und Ahnentempel erheben sich, die für berühmte Männer der Vorzeit erbaut sind und Anlagen und Räume enthalten, in denen man plaudern kann und Tee trinken und in die Gegend träumen – ja selbst Theater hören, und die auf diese Weise ganz anders dazu beitragen, die Namen, zu deren Gedächtnis sie gegründet sind, im Volk lebendig zu halten, als europäische Denkmäler, die nach ein paar Jahren höchstens noch der durchreisende Fremde besieht. Im Norden reicht der Teich bis zur Stadtmauer, wo ein Tempel des Nordpols auf hoher Terrasse sich erhebt. Dort kann man alles übersehen, was auf dem Teich sich abspielt, vom Horizont her schaut durch den blauen Himmel der Tausendbuddhaberg aus zartem Duft herüber, und all die Häuser der Stadt, die sich zusammendrängen, sind umsponnen und beschattet vom zarten Grün der hohen Weidenbäume. –
Von Tsinanfu aus wendet sich der Weg dem Gebirge zu. Man merkt, daß man durch uraltes Kulturland kommt. Die Straßen sind im Lauf der Jahrhunderte in dem weichen Lößboden so ausgefahren worden, daß sie tief unterhalb der Ebene gehen. Oft wurde ein Straßenzug, wenn er allzu tief einschnitt, verlassen und liegt dann als tiefe Schlucht da, während daneben eine neue Straße begonnen wurde. An manchen Stellen liegen drei und vier Straßenrinnen nebeneinander. Die Form der Gebirge ist seltsam. Es ist, als ob sich auf den Gipfeln steile Mauern erheben würden, am Fuß der Felsen finden sich häufig Höhlen, und es macht einen ganz seltsamen Eindruck, wenn man ganz tief unterhalb der Spitze durch eine solche Höhle den Himmel durchschimmern sieht.
In Ningyang, einer Kreisstadt in der Nähe der Heimat des Konfuzius, machte ich noch einmal Rast. Der dortige Beamte war von früher her mit mir befreundet und freute sich sehr, mich in seinem Yamen beherbergen zu können. Die Landstraßen waren mit Akazien bepflanzt, die von Tsingtau aus ihren Weg ins Innere gefunden haben. Alles war gut im Stand und reinlich.
Als wir kamen, war der Beamte noch in der Gerichtshalle beschäftigt. Das ist ein großer, offener Raum, in dem die Zivil- und Strafprozesse entschieden werden. Die Büttel stehen mit Prügeln umher. Angeklagte, Kläger und Zeugen knien vor dem Tisch, auf dem das große Amtssiegel steht und hinter dem der Beamte sitzt. Er verbreitet Furcht und Schrecken um sich. Wenn einer etwas sagt, das ihm nicht zu stimmen scheint, so schlägt er mit einem Brett auf den Tisch, was allgemeines Zittern hervorruft, da es immer vorkommen kann, daß dieser Drohung eine Bastonade folgt, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Das Verfahren war im allgemeinen summarisch, weniger nach spitzfindigen juristischen Regeln, als nach dem gesunden Volksempfinden. Man kann wohl sagen, daß ein Prozeß immer für die Betroffenen etwas Schreckliches war wegen der Büttel und Schergen, die bei der Sache beteiligt waren, und die sich bei solchen Gelegenheiten schadlos zu halten wußten. Hat doch der Kaiser Kanghsi in seinem Heiligen Edikt selbst seine Untertanen vor den kaiserlichen Gerichten gewarnt! Aber trotzdem muß man anerkennen, daß ein tüchtiger Beamter im allgemeinen den Tatbestand sehr richtig feststellte und daß auch seine Urteile durchaus dem chinesischen Volksempfinden entsprachen. Gegenwärtig ist das alles anders. Moderne Gesetze und modernes Gerichtsverfahren sind in China eingeführt. Freilich ist die Durchführung noch gradweise verschieden. In den Städten mit fremder Bevölkerung kommt das chinesische Gerichtsverfahren dem europäischen sehr nahe, auf dem Lande ist es noch primitiver.
Die Gerichtsverhandlung meines Bekannten war bald beendet, und im gemütlich eingerichteten Privatgemach, wo wir die Beendigung der Gerichtsverhandlung abgewartet hatten, begrüßte er uns.
Wir wurden freundlich bewirtet und plauderten von früheren Zeiten. Es ist ganz unglaublich, was für ein Gedächtnis chinesische Beamte haben. Sie erinnern sich an jahrelang zurückliegende Gespräche mit allen Nebenumständen, wo wir Europäer höchstens noch verschwommene Allgemeinvorstellungen haben. Mein Freund fühlte sich an dem Ort nicht recht wohl. Er war etwas abgelegen, machte viel Arbeit und hatte wenig Einnahmen. Ich wußte schon, daß er nicht zufrieden war, denn beim Eintritt ins Yamen hatte ich an der Tür gegenüber der sogenannten Geistermauer, die sich vor dem Eingang als Schutzwand aufbaut, einen Spiegel hängen sehen. Das ist ein magischer Brauch, der bewirken soll, daß der Bewohner in seiner Laufbahn weiterkommt.
Für meine Weiterreise war er mir von großer Hilfe. Er war mit dem Herzog K'ung in K'üfou, dem 73. Nachkommen des Meisters Konfuzius, persönlich befreundet. Er erzählte mir, daß dort eben ein großes Hochzeitsfest gefeiert werde, und sandte Briefe voraus, die mir eine Einladung zu dieser Hochzeit sicherstellten.
Als am anderen Morgen vor Tagesanbruch die Hornrufe der Wächter durch die graue Luft tönten und ein dumpfer Trommelwirbel andeutete, daß die Stadttore sich öffneten, ging die Reise weiter durch die fruchtbaren Gefilde jenes alten Kulturlandes.
Bald kamen wir in K'üsou an. Die Stadt, die jetzt eine Bahnstation und ein Hotel in fremdem Stil hat, war damals noch ganz unberührt von allem Ausländischen. Sie ist fast ausschließlich bewohnt von den Nachkommen des Meisters K'ung, die sich jetzt zu einem großen Stamm vermehrt haben. Hier haben wir wohl den ältesten Adel auf der ganzen Welt. Nicht nur kann die Familie ihren Stammbaum einwandfrei zurückführen auf den Meister K'ung, der um die Wende des sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhunderts gelebt hat, sondern darüber hinaus mit großer Zuverlässigkeit bis über das Jahr 1000 v. Chr. und mit immerhin recht bedeutender Wahrscheinlichkeit bis zur Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends. Aber nur ein Glied der Familie trägt jeweils den Titel des »Herzogs, der den Heiligen fortsetzt«, der inzwischen in den Königstitel erhöht wurde. Die anderen Familienmitglieder sinken gradweise, wie das überhaupt bei chinesischen Adelsfamilien der Fall ist, wieder auf die Ebene des Volkes herab. Es muß übrigens erwähnt werden, daß die Familie im ganzen Verlauf ihrer Geschichte eine beträchtliche Anzahl von recht bedeutenden Männern aufzuweisen hatte.
Inmitten dieser Bevölkerung, die durch ihre Menge den Segen der Kindesehrfurcht sichtbar verkörpert, die Kungtse zur Grundlage seiner Lehre von der Organisation der Menschheit gemacht hat, steht der Ahnentempel, in dem der Meister verehrt wird. Konfuziustempel stehen im ganzen chinesischen Reich in jeder Kreisstadt. Aber jene Tempel und die Opfer, die dort an festgesetzten Tagen dargebracht werden, ehren ihn als den Repräsentanten der chinesischen Gesellschaftsidee. Hier wird er verehrt als Ahnvater des Geschlechtes, das sich um ihn versammelt hat. Während daher die übrigen Konfuziustempel korrekterweise am Ort der Verehrung kein Bildnis haben, sondern nur eine aufrechtstehende Holztafel, auf der seine Ehrentitel verzeichnet sind, und ringsumher die Tafeln seiner Getreuen stehen, thront hier im Tempel auf dem Herrschersitz, mit dem Blick nach Süden, eine sitzende Statue des Heiligen. Er ist naturalistisch dargestellt in den Formen, die man nach der Tradition als naturwahr ansieht: mit dunklem Gesicht, langem, weißem Bart, leicht geöffnetem Mund und gütigen Blicken. In der Hand hält er ein Zepter, und auf dem Kopf trägt er die Tiara, von der eine Reihe von Perlenschnüren über das Gesicht herabfallen. Auf dem Altar stehen kostbare Opfergefäße – die Spenden verschwundener Herrschergeschlechter. Nach chinesischer Sitte ist es üblich, daß ein Mann begraben wird nach dem Ritus, der seinem Rang entspricht. Geopfert wird ihm aber von seinen Nachkommen nach den Formen, die deren Rang entsprechen. Um also den Meister zu ehren mit immer prächtigeren Ahnenopfern, mußte seinen Nachkommen ein immer höherer Rang verliehen werden. Die verflossene Mandschudynastie wollte sich zuletzt noch an den großen Meister der Äonen gleichsam anklammern. Sie verlieh seinen Nachkommen den Titel eines königlichen Prinzen, weshalb denn seither dem Kungtse das Ahnenopfer in königlichen Nephritgefäßen dargebracht wird, womit er der Gottheit gleichgesetzt ist. Leider hat diese Ehrung wenig geholfen, und mit dem Herrscherhaus hat auch der göttlich verehrte Meister an Anbetung verloren.
Der Tempel mit seinen prächtigen von Drachen umschlungenen Marmorsäulen und seiner edel ernsten Stimmung steht inmitten von uralten Zypressen, die durch Jahrhunderte und Jahrtausende hier Wacht halten. Manche stehen noch als dürre Stämme, immer mehr zusammensinkend und niederbrechend, da. Bei anderen ist aus der Wurzel ein neuer Schoß hervorgekommen; seltsame Lebensbildungen finden sich in Form und Wachstum unter diesen heiligen Baumriesen. Hier ist heiliger Boden. Jede Stätte ist voll von Erinnerungen an das Leben des Meisters, und jeder heilige Ort trägt seinen Denkstein, auf dem aus alter Zeit Zeichen eingegraben sind, die seine Bedeutung verkünden.
Noch eindrucksvoller ist der heilige Hain, die Begräbnisstelle der Familie. Durch eine lange Zypressenstraße führt der Weg in immer geheimnisvollere Räume, bis wir schließlich vor dem Grab des Meisters stehen. Ganz schlicht ist es, ein einfacher Erdhügel, von Gras bewachsen, von Bäumen beschattet, die sich darüber breiten, von uralter Weisheit voll. In ihrem Geäst wohnen Vögel, alte dunkle Vögel mit seltsamen Stimmen. Es ist, als redeten sie in ihrer Sprache von dem, der hier unten ruht. Selbst die Kräuter, die auf seinem Grab wachsen, haben Wunderkräfte. Es sind die heiligen Schafgarben, die gepflückt werden und dann als Orakelstäbe dienen zur Erforschung des alten Weisheitsbuchs der Wandlungen. Ein einfacher Stein steht vor dem Grab und verkündet, wer hier ruht.
In dieser heiligen Stille, die noch tiefer wird durch den Zypressenschatten und die seltsamen Stimmen der dunklen Vögel, da wird das Herz von Ewigkeit berührt. Die Zeit und das kleine Getriebe der Menschen schrumpft zusammen, und ganz groß wie ferne Gipfelriesen tauchen die Gestalten der Menschenbildner auf, die formend und schaffend die Menschheit zu dem gemacht, was sie heute ist. Und unter ihnen nimmt der Mann, der dem größten Volk der Erde auf Jahrtausende hin den Weg gewiesen, der zu Ruhe und Frieden führt, eine ehrfurchtgebietende Stelle ein.
Unsere Zeit hat etwas Furchtbares. Alles Ehrwürdige, Festgefügte, das die Jahrtausende überdauert hat, beginnt zu weichen und zu stürzen. Neue Fragen und Probleme tauchen auf, die ihre Lösung verlangen, für die die Mittel der Vergangenheit unzulänglich sind. So hat vor dem Ansturm des Neuen auch die geistige Welt, die Kungtse aufgebaut hat, nachgeben müssen. Er hat sie aufgebaut auf einer großartigen Harmonie mit den Naturgegebenheiten seiner Zeit. Er sah den Menschen verwurzelt im gefühlsmäßigen Familienzusammenhang. Auf diesen Zusammenhang begründete er seine Ordnung der Welt. Die Anhänglichkeit, die in der Familie das Naturgegebene ist, die Liebe der Eltern zu den Kindern, die Ehrfurcht der Kinder vor den Eltern sind Gefühle, die von selbst, ohne erzwungen zu werden, beim natürlichen Menschen sich einstellen. Diese Gefühle waren das Material, das Kungtse für seine Schöpfung benützte. Auf der einen Seite war er bestrebt, die richtige Form, den richtigen Ausdruck für diese Gefühle zu finden. Denn die Gefühle verkümmern oder verkehren sich, wenn sie nicht den wahren, naturgemäßen Ausdruck finden. So war Kungtse bestrebt, den wahren Ausdruck der zentralen Harmonie der Gefühle zu finden. Das hat er durch feste Sitten des äußeren Betragens und musikalische Beeinflussung der innerlichen Gesinnung zu erreichen gesucht. Von der Familie dehnte er die Wirkungen aus. Was in der Familie Natur ist, das sollte im Staatszusammenhang, der eine Erweiterung der Familie darstellt, Kultur werden. Als Gipfel über allen nationalen Staaten hatte er die Vision der Menschheit: »Innerhalb der vier Meere sind alle Brüder« und als Vater der Menschen die Gottheit, die ewiger Weisheit voll ohne Laut und ohne Geruch das Rechte schafft für alles Leben, und die die einzige Quelle ist für alles, was an höchsten Gedanken und Schicksalen im Menschen lebt.
Diese Gedanken sind niedergelegt in Urkunden des Altertums, die er redigiert hat und die er erfüllt hat mit der Tiefe dieses Sinns. Er gab zu den schriftlichen Texten, die so konzis und lapidar wie möglich waren, die Erklärung ihrer Bedeutung in mündlicher Tradition. So hat er in einer wildbewegten Zeit, da der Bau der damaligen Kultur ins Wanken gekommen war, den Plan gerettet, nach dem unter veränderten Verhältnissen und dennoch in voller Übereinstimmung mit dem Geist seines Erbes die chinesische Kultur wieder aufgebaut wurde. Es ist wohl keinem der großen Menschheitsschöpfer gelungen, seine wesentlichen Gedanken so restlos in der großen Öffentlichkeit zu gestalten wie Kungtse.
Aber heute steht auch China vor neuen Problemen. Nicht nur der Feudalstaat ist zusammengebrochen. Diesen Zusammenbruch hat das konfuzianische System überwunden. Es ist ja gerade maßgebend geworden, als aus China ein zentralisierter Beamtenstaat geworden war. Aber heute wankt die Familie, die eigentliche Naturbasis seines Systems. Selbstverständlich nicht in den Millionen der chinesischen Landbevölkerung; hier werden seine Lehren noch jahrhundertelang ihre Bedeutung behalten. Wohl aber bei den Fortgeschrittensten unter den Menschen. Die Zellen der Individuen lösen sich immer mehr los aus ihren Zusammenhängen. Familie und Staat hören auf, die Gefäße zu sein, in denen sich das wesentliche Leben der Menschheit bewegt. Neue Bildungen und Bindungen müssen aus dem Chaos auftauchen, wenn die Menschheit sich nicht atomistisch zerfasern soll. Damit ist der Wortlaut des konfuzianischen Systems aufgehoben. Es ist kein Zufall, daß die heiligen Schriften des Konfuzianismus, die bisher die Muttermilch waren, mit der der Knabe Bildung, Wissen und Moral gleichzeitig in sich aufnahm, aus den Elementarschulen verbannt und Gegenstand des gelehrten Studiums an den Universitäten geworden sind.
Aber wenn auch das Sterbliche an Kungtse in dieser neuen Welt sich auflösen wird: das Ewige an ihm, die große Wahrheit von der Harmonie zwischen Natur und Kultur, wird bleiben und wird der neuen Weltanschauung und Menschengestaltung einen starken Antrieb geben. Hierin ist er ewig.
Man hat in den letzten Jahren manche Versuche gemacht, auch äußerlich die Wirkungen des großen Heiligen zu stützen. Man versuchte in K'üfou eine große Universität der chinesischen Klassiker zu begründen. Aber die Mittel fehlten. Selbst der Tempel beginnt da und dort schon die Spuren des Verfalls zu zeigen. Die Familie des Heiligen hat viel Unglück. Feuersbrünste haben hin und wieder viele wichtige Schätze zerstört, und der Geist des Heiligen weilt nicht mehr über seinem Vertreter auf Erden. In Peking hat sich eine konfuzianische Kirche gebildet, eine Mischung von archaistischen Riten, die von den meisten derer, die sie darstellen, selber nicht mehr ernst genommen werden, und von modernen Formen von der Art christlicher Jünglingsvereine amerikanischer Prägung. Der Begründer dieser Kirche, der auf ihren Bestand für seinen eigenen Lebensunterhalt angewiesen ist, hat Gelder gesammelt und auch ziemlich viel zusammenbekommen. Er wollte einen runden Turm nach Art der amerikanischen Wolkenkratzer in Peking errichten. Es sollten Vortragsräume, Kirchensäle, Bibliothekzimmer, Klubräume und Badezimmer darin untergebracht werden. Ein Dach von gelbglasierten Ziegeln sollte weithin die Gegend beherrschen. Leider ging das gute Geld, das gesammelt war, damit zu Ende, daß ein Eisenbetonfundament für diesen Turm in den Boden gebracht wurde. So hat der Begründer denn die Freude, einen sehr schönen und festen runden Betonplatz in seinem Garten zu haben, der allerdings während des Spätsommers überschwemmt ist und einen Teich bildet. Statt der Verkündung der Lehre ertönt das Quaken der Frösche im Teich, so daß auch hier der Humor nicht ganz fehlt.
Als ich vom Besuch der Grabstätte des Meisters zurückgekehrt war, fand ich in der Herberge einen Boten des Herzogs K'ung, der mich zur Teilnahme an seiner Hochzeit einlud. Er war damals im Begriff, sich zum zweiten Mal zu verheiraten. Obwohl noch ziemlich jung, war er nach kinderloser Ehe Witwer geworden.
Ein chinesisches Hochzeitsfest ist immer eine »hohe Zeit«. Ein günstiger Tag wird im Kalender ausgewählt, nachdem die monatelangen Vorbereitungen und Verlobungsbräuche alle vollzogen sind. Dann zieht der Bräutigam aus in prächtiger Sänfte, mit einer leeren Sänfte hinter sich, um die Braut in das Haus seiner Eltern abzuholen. Denn im Gegensatz zu der Sitte bei uns in Europa wird die Hochzeit nicht in der Familie der Braut, sondern in der des Bräutigams gefeiert, wie denn auch die Aussteuergeschenke vom Bräutigam an die Braut gemacht werden. Und wo Kauf üblich ist, kaufen die Eltern des Bräutigams ihm eine passende Frau – ebenfalls im Gegensatz zu europäischen Bräuchen.
In dem Hof des Herzogs war große Festfreude. Die Braut war schon angekommen und in die hinteren Gemächer geführt worden, wo sie nach Vollzug der Trauung ihren roten Schleier abgelegt hatte und von den Gästen besichtigt werden konnte. Denn das gehört auch zu einer chinesischen Hochzeit: wenn der Bräutigam die Braut abholt, trägt sie einen rotseidenen Kopfumhang, so daß sie für den Bräutigam vollkommen unerkennbar ist, sie wird von Dienerinnen in die Sänfte geleitet, und dann geht es fort ? der neuen, unbekannten Heimat entgegen. Die Trauung findet mit großem Zeremoniell statt in Anwesenheit von Vertretern der beiden Familien. Das Brautpaar trinkt aus zwei mit einem seidenen Faden verbundenen Tassen Wein, kniet nieder, um dem Gott des Himmels und der Erde seine Verehrung darzubringen, dann werden die Eltern des Bräutigams, denen die junge Frau nun untertan sein muß, verehrt. Der Schleier fällt, und nun erblickt der junge Mann zum erstenmal Wenigstens ist das die Fiktion. In Wirklichkeit hat auch noch unter den alten Bräuchen der Bräutigam wohl meist schon vorher einen Eindruck bekommen von der durch seine Eltern für ihn erwählten Gefährtin. seine Frau und kann seine Entschlüsse fassen über die Gestaltung des Zusammenlebens. Die junge Frau muß nun aber den ganzen Rest des Tages zur Schau sitzen, und während sie in der Folgezeit vom Anblick der Außenwelt streng abgeschlossen wird, muß sie am Hochzeitstag sich von allen Gästen begutachten lassen ? was nicht immer eine leichte Aufgabe ist. Natürlich ging bei der Gattin des Herzogs die Sache sehr viel dezenter zu. Außer den näheren Anverwandten hat sie niemand gesehen.
Als ich ankam, erschien der Herzog, um mich zu begrüßen und meine Glückwünsche entgegenzunehmen. Er sagte mir einige freundliche Worte wegen des Interesses, das ich an seinen Vorfahren nehme, und lud mich dann ein, an einer der Tafeln Platz zu nehmen. Auf zahllosen Tischen waren alle Arten von chinesischen Leckerbissen aufgebaut. Die Wände der Räume und der durch Strohmattenverschläge zu Hallen umgebauten Höfe waren mit rotseidenen Ehrenvorhängen und Glückwunschsprüchen ganz voll behängt. Von überall her waren Geschenke und Glückwünsche eingegangen.
Während der Mahlzeit wurde auf einer eigens aufgeschlagenen Bühne von den berühmtesten Schauspielern Theater gespielt. Bei solchen Gelegenheiten werden selten ganze Stücke gegeben, sondern nur ausgewählte Akte, da ja der Inhalt der Stücke jedem der chinesischen Zuschauer ohne weiteres geläufig ist, so daß er sich mit Leichtigkeit in den Gang der Handlung auch eines abgebrochenen Stückes versetzen kann. Das Theaterspiel war besonders dadurch ausgezeichnet, daß die Kostüme der historischen Stücke lauter echte, alte seidene Gewänder aus den Truhen der Familie K'ung waren, wie sie sonst nur noch am Kaiserhof in Peking zu sehen waren.
Kurz nachdem ich mich gesetzt hatte, trat einer der Schauspieler auf mich zu mit einer Elfenbeintafel, auf der die Stücke verzeichnet waren, die sie in ihrem Repertoire hatten. Die Gelehrten der Gäste durften nämlich ihr Lieblingsstück auswählen, das dann gegeben wurde. Da galt es mit raschem Blick etwas Passendes zu finden. Denn naturgemäß wenden sich alle Augen auf einen, und jedermann ist gespannt, welches Stück der Fremde wählt. Nach dem Stück gab man den Schauspielern ein Trinkgeld, einige Stränge der durchlochten Käschmünzen, wie sie damals noch üblich waren. Zum Glück hatte ich aus einem instinktiven Gefühl heraus das Trinkgeld nicht zu knapp bemessen, denn wer beschreibt mein Erstaunen, als nach dem Stück der T'iän Kuan (Himmelsbeamte) auftrat und einen pantomimischen Zaubertanz aufführte, der damit endete, daß mir auf einer seidenen Fahne der Beschluß des Himmelsgottes, mir Glück zu gewähren, vorgehalten wurde. Darauf kamen vier Träger mit einem Tischchen, auf dem die Käschstränge lagen, setzten es auf die Mitte der Bühne und verkündeten mit lauter Stimme: »Wir danken dem großen Manne We für seine Belohnung.« Natürlich wurde ich abermals der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, was keineswegs zu den Annehmlichkeiten gehört. Ich konnte aber von Glück sagen, denn kurz nach mir wurde ein anderer Gast abgeschlachtet. Es trat ebenfalls der T'iän Kuan hervor und machte seinen Tanz, sehr kurz und nicht ohne boshafte Grotesken. Dann kamen die Diener mit dem Tisch, vier Mann hoch, und auf dem Tischchen lagen ein paar kümmerliche Kupfermünzen. Aber unnachsichtig wurde es ausgerufen: »Wir danken dem großen Manne Wang für seine Belohnung.« Allgemeine Heiterkeit. Ich habe damals zum erstenmal einen Chinesen abrupt erröten sehen; dann hielt er sich den langen Ärmel vors Gesicht und verschwand sehr bald aus der Gesellschaft. Ob er kein Geld bei sich hatte, oder nur im stillen ein wenig sparen wollte, ist mir nie bekannt geworden.
Die Festlichkeiten dauerten bis tief in den Abend hinein, um an den nächsten Tagen fortgesetzt zu werden. Ich verabschiedete mich aber, dankend für das eindrucksvolle Erlebnis. Die Ehe des Herzogs ist übrigens leider trotz des schönen Festes keine glückliche gewesen. Er ist ohne Nachkommen vor einigen Jahren verstorben, und heute sitzt ein kleines Kind, sein Neffe, den er adoptiert hatte, auf dem Thron der Enkel des Meisters der zehntausend Geschlechter.
Auf der Heimreise hatte ich noch ein merkwürdiges Erlebnis. Bis nach Tsinanfu machten wir – die chinesischen Schüler und ich – die Reise zusammen. Von dort aus wollte ich aber nach Rücksprache mit dem Kreisbeamten einen anderen Weg für mich einschlagen. Es geht nämlich von Tsinanfu aus ein Kanal, der sogenannte Hsiaotf'ing-Ho, parallel zum Gelben Fluß nach Norden, in den Golf von Tschili, in den er bei dem Ort »Widderhornravine« (Yang Küo Kou) mündet. Von da wollte ich über Land nach Wehsiän fahren, um dort wieder Anschluß an die Bahn zu finden.
Der Kanal geht zwischen hohen Dämmen durch die weite Ebene. Kleine, flache Segelboote befahren ihn mit großer Geschwindigkeit, wenn Wind und Wetter günstig sind. So war die Fahrt denn sehr erfreulich. An einigen Inlandzollstationen machte das Boot halt, man konnte auf den Deichen spazierengehen und die Gegend übersehen. Je näher man dem Meere kommt, desto häufiger bemerkt man seltsame, querstehende Windräder. Sie stehen in flachen Salzpfannen und sind Pumpvorrichtungen, um aus dem Meerwasser durch Verdunstung Salz zu gewinnen. Da es in China keine Salzbergwerke gibt, ist alles Salz entweder Seesalz oder aus den Salinen im Westen gewonnen.
Endlich kam das Boot im Hafen an. Wie mir in Tsinanfu mitgeteilt worden war, hatte der Bootsführer in amtlichem Dienst gestanden, und es handelte sich nur darum, ihm ein kleines Trinkgeld zu geben. Wie erstaunte ich aber, als ich an Land stieg und mein Geld – etwa noch 100 Stränge Käsch – mitnehmen wollte. Der Bootsführer erklärte rund heraus, daß das Geld an Bord bleiben müsse, weil so viel der Fahrpreis betrage. Ich machte ihm das Ungehörige seiner Forderung ruhig und sachlich klar, so daß er schließlich tatsächlich keine Gegengründe mehr hatte und bereit schien, wenigstens einen Teil des Geldes herauszugeben, damit ich die Weiterreise antreten konnte. Aber ich hatte nicht mit der chinesischen Frauenseele gerechnet. Man kann in China so ziemlich mit jedem Mann vernünftig zum Ziel kommen, da es als Schande für einen Mann gilt, wenn er Vernunft gründen unzugänglich ist. Allein für die Frau besteht in China merkwürdigerweise eine ähnliche Verpflichtung nicht. Sie handelt nicht logisch, sondern aus der Tiefe des Gemüts. Nun hatte der Schiffer eine Mutter, ein scheußliches altes Weib. Deren Gemüt war nicht dafür zu gewinnen, daß man Geld, das man – rechtmäßig oder unrechtmäßig – in Händen hatte, wieder herausgeben könnte. Nichts in der Welt besitzt eine größere Gewalt im Schimpfen als ein erbostes chinesisches altes Weib. Der Gedanke aber, daß sie von dem Geld etwas herausgeben sollte, erboste sie. So stellte sie sich denn vor mir auf und begann mit gellender Stimme, die nur manchmal von Wuttränen erstickt schien, aber sich immer zu neuer Frische erhob, zu schimpfen. Einfach zu schimpfen auf die Gewalttaten der fremden Teufel gegen arme, verlassene Frauen. Ich stand erstaunt und beobachtete das psychologische Wunder, daß sie scheinbar ohne Atempause – sie schimpfte offenbar während des Einatmens weiter – ununterbrochen schimpfen konnte, so daß nicht der kleinste Raum für eine Erwiderung blieb. Ihr Wortvorrat war zwar reich, aber doch lange nicht genügend für ihre Bedürfnisse, weshalb sie auch Wiederholungen nicht im mindesten scheute. Erregtes Reden wirkt immer ansteckend, und schon sammelte sich allerlei Volk, darunter recht bedenkliche Gestalten – solche Küstenorte sind die Heimat von Schmugglern und Dieben – in immer engerem Kreise. Schon wurde dumpfes Murren hörbar, und der eine und andere bückte sich nach einem passenden Stein ... da kam aus dem Boot hinter mir, das eine amtliche Flagge trug, ein Diener und fragte, was der Lärm bedeute. Ich gab ihm meine Visitenkarte und erklärte kurz die Umstände. Er sprach ein paar Worte ganz leise und bestimmt, und im Nu zerstreute sich der Kreis. Er rief den Schiffer und sagte etwas zu ihm. Die Alte verschwand, der Mann kam wieder und warf sich vor mir auf die Erde. Er brachte mein ganzes Geld und wollte nichts haben, da die Ehre, die ich seinem Schiff durch meine Anwesenheit erwiesen habe, genug sei. Ich gab ihm dann sein Trinkgeld und wandte mich ab. Der Inhaber des anderen Bootes ließ mich hereinbitten, und wie erstaunte ich, als ich in ihm einen guten Bekannten, den Taotai Fang Yän Niän traf, der mich auf diese Weise gerettet hatte. Wir verbrachten noch den Abend plaudernd. Unterdessen war ein Lastwagen gemietet worden, auf dem ich die Weiterreise antreten konnte. Ich mußte unterwegs noch einmal übernachten, in einer kleinen, unscheinbaren Herberge am Wege. Da es hier keine großen Landstraßen gab, auf denen Beamte reisten, gab es auch keine ordentlichen Herbergen. Der gemeinsame Raum war ein Viehstall. Ich durfte auf einer Leiter in einen Mattenverschlag nach oben klettern, der allerdings bedenklich schwankte. Die Tiere dampften unter mir. Die Leute saßen noch lange wach und erzählten alle möglichen Räubergeschichten, die kürzlich in der Gegend sich ereignet hatten. Auch eine gruselige Geschichte von einem toten Mädchen, die einen schlafenden Gast ermorden wollte, wurde erzählt. Allmählich schlief ich unter dem unruhigen Stampfen der Tiere und dem gleichförmigen Gespräch der Menschen ein. Es kamen weder Räuber noch Gespenster, und wohlbehalten kam ich nach Tsingtau zurück.