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1.
Tat'ungfu (Schansi) 2. September.
Bei der Lampe der Herberge sitze ich an einem chinesischen Tisch. Mein Reisebett ist auf der gemauerten Lagerstätte an der Hinterwand des Zimmers, das übrigens ganz reinlich ist, schon aufgeschlagen. Draußen steht der klare Herbstmond am Himmel, der den Wanderern leuchtet auf ihren Wegen. Den Tag über ging die Reise zu Bahn etwa 400 Kilometer weit. Um sieben Uhr morgens war ich vom Südtor von Peking abgefahren. Zunächst ging es im Ringzug um die ganze Mandschustadt mit ihren Mauern und Toren herum bis zum nordwestlichen Stadttor, wo der Zug nach Tat'ungfu in Schansi, unserem heutigen Reiseziel, abfahren sollte.
Die Reise ging erst durch die Ebene nach Norden bis Nank'ou, wo die Gebirgslokomotive angekoppelt wird, die den Zug über die recht beträchtliche Paßhöhe zieht. Bei Ts'inglungk'iao, der Brücke des schwarzen Drachens, durchschneidet die Bahn den innersten Ring der großen Mauer, das gewöhnliche Ziel der Reisenden, die die chinesische Mauer sehen wollen. Von dort aus geht es durch Tunnel und Felsentäler, durch steinige Flächen an kahlen Bergen vorüber immer weiter der Karawanenstraße entlang nach Nordwesten. Um drei Uhr nachmittags erreichen wir Kalgan, die Grenzstadt nach der Mongolei zu. Die Stadt liegt in einem weiten Kessel zwischen Bergen und erinnert insofern irgendwie an die Lage der Orte am Südfuß der Alpen. Die Häuser sind alle aus Lehm, niedrig, mit flachen Dächern. Mit ihren vielen Herbergen gleicht die Stadt weit eher einer Karawanserei, als einer festen Siedlung. Hier tritt der äußere Ring der großen Mauer, die eigentliche Schutzwehr gegen die wilden Nordvölker, ganz nahe an die Bahnlinie heran. Von hier aus windet sich die Bahn ein Lößtal zwischen zwei Höhenzügen hinauf nach Südwesten. Das Flußtal ist sehr malerisch, besonders jetzt, da alles grün steht, und das breite Flußbett von braunen, schnellfließenden Wasserläufen durchzogen ist. Man sieht es der Gegend an, daß sie ein Gebiet der Grenzwacht war. Überall auf den Höhen Türme für Feuersignale und in den Tälern am Fluß ummauerte und mit Wachtürmen versehene Militärlager, die nun längst zerfallen sind. Auch die Dörfer und Städte sind ummauert. All diese Befestigungen sind längst überflüssig geworden, seit die Mongolei zu China gehört und keine Einfälle mehr stattfinden. Aber es ist ein erloschener Vulkan, der immer einmal wieder erwachen kann. Allerdings ist das in der nächsten Zeit nicht zu befürchten. Die Mongolei hat sich selbständig gemacht. Die chinesischen Truppen des Generals Hsü sind von den Truppen des Barons Ungern-Sternberg aufgerieben worden, und ihre Gebeine sollen noch jetzt in der Sonne bleichen. Aber auch das Glück jenes kühnen Söldnerführers blieb nicht treu. Er wurde von den russischen Bolschewisten aufgerieben und getötet. Die Mongolei hat sich unter bolschewistischer Leitung zu einer selbständigen Republik erklärt. Sie erließ aber eine Deklaration, daß sie darauf verzichte, die Unbilden, die sie von den Chinesen erlitten habe, zu rächen.
2.
Yünkang, 3. September.
»Schlaf nicht, schlafe nicht mehr!
Es wiehern die Rosse
Im Stall, die Knechte sind aufgewacht.«
Wir standen sehr früh, noch vor Tagesanbruch, auf und waren, als die Stadttore geöffnet wurden, schon unterwegs. Den Wagen mit dem Gepäck und die Diener ließen wir nachkommen. Man betritt die Stadt Tat'ungfu durch das Nordtor. Brücken und Wege für modernen Verkehr sind im Bau. Das äußere Nordtor führt zunächst in einen großen, leeren Raum. Hier war in alten Zeiten, als Tat'ungfu für die Grenzwacht ein Platz von großer Bedeutung war, die Nordvorstadt. Ein Tempelbau an der Nordseite ist der einzige Rest aus jener Zeit. Jetzt ist der ganze Raum mit Feldern bebaut. Im Herbst wird er als Truppenübungsplatz benützt. Die Provinz Schansi hat einen sehr tüchtigen Gouverneur, der sich unter allen politischen Wechselfällen der letzten Jahre gehalten hat, und dessen Wirkung sich bis nach Tat'ungfu, das von der Provinzialhauptstadt T'aiyüanfu durch weite Gebirge getrennt ist, erstreckt. Manches mißlingt dabei wohl auch in der äußeren Erscheinung. Das alte Nordtor war baufällig. Um die Bewohner vor Lebensgefahr zu schützen, wurde es vermauert und daneben ein neues gebaut. Dabei aber wollte man modern sein. So entstand denn als Wächterhaus über dem Tor ein mehrstöckiges Gebäude von ausgesuchter, europäisierender Häßlichkeit. Da es weithin zu sehen ist, verleiht es der Stadt sein Gepräge. Warum diese Zeit doch mit Notwendigkeit sich durch Geschmacklosigkeit dokumentiert! Das Tor wird erst schön sein, wenn es gänzlich in Trümmern liegt. Dabei ist es so solide gebaut, ganz von jener soliden Häßlichkeit eines Berliner Hauses aus den achtziger Jahren! Wenn man solche Ungetüme sieht, da empfindet man die Anwesenheit des deutschen Architekten in Peking entschieden als kulturelle Wohltat, denn er war es, der durch seine Energie verhindert hat, daß das Osttor von Peking, das eingestürzt war, nach dem Vorbild des Brandenburger Tores wieder aufgebaut wurde, wozu man ihn als Deutschen besonders berufen erachtete.
Am Tor standen freundliche Soldaten, die nach Namen und Herkunft fragten und uns mit guten Wünschen für die Reise passieren ließen. Nun kamen wir in die Stadt mit ihrem Leben, das noch ganz altchinesisch ist und wenig beeinflußt von der modernen Zeit. Die Drachenfiguren auf den Dächern haben merkwürdige Hahnenkämme, wie sie sonst nicht zu sehen sind. Auf den Schornsteinen sitzen kleine tönerne Löwen, die dem aufsteigenden Rauch nachdenklich nachsehen. Dazwischen treibt sich auf dem Dachfirst ein wirklicher Hund herum, der den Katzen das Klettern abgelernt hat. Die Fenster sind häufig mit Rundbogen überwölbt und mit feinen Ornamenten ausgestattet. Das Leben pulsiert in emsigem Betrieb. Die Schmiede stehen vor den Türen und hämmern ihr Eisen im Takt, daß es fast an die Schmiede der Nibelungen erinnert. Händler haben ihre Waren auf dem Boden ausgebreitet. Viel schönes Obst ist da, rote Äpfel, auch Pfirsiche und Melonen von allen Formen und Farben und langstielige Zwiebeln: alles Dinge, die auf der Hochebene von Tat'ungfu prächtig gedeihen, während das Korn, das in Wechselwirtschaft ohne viel Düngung gebaut wird, viel niedriger und spärlicher steht, als in den anderen Teilen Chinas. In der Gegend der großen Mauer wird meist Buchweizen gebaut, hier im Westen in einer Höhe von 1600 bis 1800 Meter Hafer.
Unter den friedlichen chinesischen Häusern, die einander alle freundlich Gesellschaft leisten, ragen da und dort Sonderlinge häßlicher, europäischer Bauart hervor. Hier wohnen Photographen, Zahntechniker, Verkäufer von europäischer und japanischer Schundware. Hart neben diesen Greueln mündet etwa eine Seitengasse, die in ein unberührtes altes Viertel führt. Da sieht man eine Drachenmauer aus der Mingzeit von wunderbaren, farbig glasierten Ziegeln, die Drachen frei und belebt empfunden, die Farben von einer harmonischen Pracht, die die Mauer zu einem Kunstwerk ersten Ranges macht. Davor ein paar steinerne Löwen, die in ihrer archaischen Strenge an romanische Skulpturen erinnern. Das alles gehört zu einem verfallenen Tempel der San Kuan. Die San Kuan sind die indische Trimurti Brahma-Vishnu-Shiva in taoistisch-chinesischem Gewand.
Die Hauptstraße führt nach Süden weiter. Dort stehen vier hölzerne Tordurchgänge, auf denen der Gouverneur Sprüche der Lebensweisheit für alles Volk hat anbringen lassen. Da steht z. B.:
»Ein rechter Bürger fürchte dreierlei:
Er fürchte Gott,
Er fürchte das Gesetz,
Er fürchte die Nachrede der Menschen!«
Hier biegt man nach Westen um und kommt dann an der nächsten Straßenkreuzung durch einen Tortempel, unter dem von Nord nach Süd und von Ost nach West die Menschen hindurchgehen. Die Hindurchgehenden sollen alle des Segens der Gottheit teilhaftig werden. Das Westtor der Stadt, durch das es hinausgeht nach Yünkang, ist in starkem Zerfall. Wahrscheinlich wird, wenn die Mittel reichen, auch etwas so Häßliches errichtet werden, wie über dem Nordtor. Hoffentlich kommen die Mittel recht lange nicht zusammen, bis erst wieder Geschmack eingekehrt sein wird in die chinesische Baukunst. Die Winkel zwischen dem Innen- und dem Außentor, sonst Ablagerung von Schutt und Gerümpel, sind mit Akazien bepflanzt; an der Straße steht eine Inschrift, die gegen Räuberunwesen und schlechten Lebenswandel gerichtet ist.
Tritt man vor das Westtor hinaus, so breitet sich eine weite Ebene aus bis an den Fuß der Hügel, die von blauem Dunst umschleiert sind. Der Blick über die weite fruchtbare Ebene ist sehr erfreulich. Bevölkert ist die Gegend nur spärlich. Während z. B. in Schantung die Dörfer so dicht liegen, daß der ganze Horizont von näheren oder ferneren menschlichen Niederlassungen umgeben ist, kann man hier stundenlang wandern, ehe man an die nächste Siedlung gelangt. Die Dörfer sind alle ummauert und haben Wachttürme, was ihnen ein festungsartiges Aussehen gibt. Die Straße, die zu Regenzeiten von einem Fluß ausgefüllt ist, hat sich durch den jahrhundertelangen Verkehr mehrere Meter tief in das Gelände eingesenkt. Ein Fußweg führt am Rande in der Höhe der Felder entlang. Durch starke Regenfälle bröckelt die Erde häufig ab und entschleiert ihre Geheimnisse. So war durch den letzten Regen auf unserem Weg auch ein menschliches Gerippe hervorgespült worden, das da verborgen gewesen. Ich mußte an Tschuangtse denken, der auch eine solche Begegnung hatte mit Totengebeinen und daran Betrachtungen über Leben und Tod anknüpfte. –
Die Ebene zieht sich sehr lange hin. Man muß das Blau von den Bergen laufen, die man immer vor sich hat. Wenig Abwechslung bietet der Weg: einen zerfallenen Tempel, der gegenüber einem ummauerten Dorf liegt, eine große, moderne Schulanlage in der Ferne, ein einsames, ummauertes Gehöft, sonst nichts als weite Felder, die zum Teil nur dürftigen Ertrag geben. Karawanen von Eseln und Maultieren kommen an uns vorüber. Ein Mann ruft uns an, unser Wagen sei vorausgefahren und warte im Gebirge auf uns. Endlich ist das Blau der Berge gewichen. Starre Felsen und dürftiges Gras, ein Feuersignalturm, zerfallen, steht am Eingang des Gebirges. Steil und steinig klettert der Weg das Bachtal hinauf. An den Hängen weiden Schafe und Ziegen. Endlich kommen wir an die Hütten des Gebirgsdörfleins. Eine kleine Herberge liegt am Ende des Dorfes. Da hält der Wagen, und die Diener haben ein kleines Erfrischungsmahl mit Tee und Obst bereitet. Es gibt hier eine kleine, ganz rote Apfelart und wunderschön erfrischende Wassermelonen. Ich war ziemlich müde und setzte mich daher eine Zeitlang auf den Wagen. Das kostete aber eine große Selbstüberwindung. Denn das eine Pferd ist am Rücken ganz wund und wird von Fliegen übel gepeinigt. Lautlos zieht es seine Last und duldet, ohne daß man etwas davon merkt. Diese Qual der Kreatur ist auch etwas, das sich sehnt nach Rettung und Ruhe.
Der Weg geht steil in die Höhe über einen Paß; dann kommt man an das Tal des Wutschou-Flusses, der breit und reißend dahinfließt. In der Nähe sind Kohlenminen, in denen die Kohle im Tagbau gewonnen wird. Die beiden Ufer des Flusses werden von niedrigen, aber steilen Hügeln gebildet, von deren spärlichem Graswuchs sich Schaf- und Ziegenherden nähren, die in der Ferne da und dort wie dicht gesäte, weiße Punkte die Abhänge bedecken. Der Weg ist auf der einen Seite in das Gestein der Abhänge eingehauen. Die starken Regengüsse der letzten Tage haben an vielen Stellen große Lücken in den Weg gerissen, so daß die Reisewagen alle es vorziehen, durch das steinige Flußbett zu holpern.
An einer Stelle, wo sich das Flußtal erweitert, ist unmittelbar am senkrechten Felshang, in den einige Höhlen eingewittert sind – das Gestein ist hier grobkörniges Konglomerat –, ein kleiner, malerischer Tempel des göttlichen Schützers Kuanti. Vor dem Tempeltor steht ein Bild des treuen Rosses des Gottes, der im Altertum ein Ritter ohne Furcht und Tadel gewesen war. Dieses Rößlein heilt alle Gebrechen. Man muß nur die Stelle an seinem Körper reiben, deren entsprechende am eigenen Leibe krank ist. Vor dem Tempel ist ein kleiner Platz mit hohen, raschelnden Schattenbäumen, unter denen Lastesel mit ihren Treibern ruhen. Am Flußufer steht eine Theaterbühne, auf der zu Ehren des Gottes, der von seinem Sitz aus gerade zusehen kann, und zum Vergnügen der umliegenden Dörfer von Zeit zu Zeit die heiligen Legenden der Vergangenheit und moderne Schwanke gespielt werden. Der ganze Platz ist übrigens fast einen Meter hoch mit Lößerde zugeschwemmt, so daß die Theaterbühne, die früher erhöht war, nun zu ebener Erde liegt. Es sind das wohl einige Felder, die der mutwillige Fluß weiter oben abgetragen und hier angespült hat – niemand zur Freude und dem früheren Besitzer zu Leide. Weiter aufwärts trifft man auf ein Dorf, das aus höhlenartig gewölbten Hütten mit flachen Dächern besteht, wo ebenfalls eine Theaterbühne ist, an deren Säulen gehörnte Drachenköpfe als Kapitale erscheinen – nach dem Vorbild des Tempels zu Yünkang. Eine weitere Station bildet ein kleiner Bergtempel der Göttin der Barmherzigkeit, Kuanyin, dessen einer Teil als Torbau sich über die Straße wölbt. Davor steht eine wundervolle Drachenmauer aus glasierten Ziegeln der Mingzeit. Auf dem Geländer vor der Wohnung des Knaben, der den Tempel verwaltet, stehen brennendrote Geranienstöcke.
3.
Allmählich sieht man vor einer Querwand, die das Tal nach hinten abzuschließen scheint, das Dorf und den Tempel von Yünkang auftauchen. Auf den Felsen, die darüber aufragen, liegen die Reste eines Kastells aus der Mingzeit. Am Rande des Weges sind erst einzeln, dann in immer dichterer Folge in vielen Höhlen die Wände in steinerne Figuren aufgelöst.
Zwei hohe Bäume wachsen in den Höfen des Tempels, dessen breite pfauengrüne Dächer aus glasierten Ziegeln an die Felswand geklebt erscheinen. Man tritt ein. Die Hunde weichen scheu zurück. Eine Tafel verkündet, daß es der Tempel des steinernen Buddhas ist, den man betritt. Rechts und links drohen zunächst zwei ungeheure göttliche Torwächter mit fürchterlichen Mienen. Erst kommt der Unterpriester, ein jüngerer Mann, der nicht immer ganz streng asketisch lebt, sondern sich zuweilen an einem Tropfen Branntwein labt. Der sorgt für das Gepäck. Aus dem hinteren Tor tritt der Abt hervor, ein ruhiger, milder Mann, der uns eine Wohnung anweist im innersten Hof in unmittelbarer Nähe der großen Buddhahalle.
Der Hof liegt im hellen Sonnenschein da, bunte Blumen wachsen zwischen den Ritzen der Ziegelpflasterung hervor und nicken in der Sonne. Zwei vierbeinige Greifen mit Schuppenkörpern und Hufen stehen als Wächter vor den Blumen und dem Tempel. Es sind prachtvolle Kerle, nur schade, daß dem einen der Schnabel und dem anderen der ganze Kopf einmal abgehauen war, was jetzt durch lehmerne Neuarbeit nach dem alten Muster ersetzt ist. Wir ruhten uns in dem kühlen Zimmer aus. Yünkang ist selbst im Sonnenschein gegenüber Peking merklich frischer. Das Kloster liegt wohl mindestens 1800 Meter über dem Meer. Da ist es kein Wunder, daß z. B. der Kaoliang, der sonst in China drei Meter hoch wird, höchstens so hoch steht, wie bei uns der Roggen. Der Abt erzählte von den Regengüssen der letzten Woche, durch die ihm mehrere Felder einfach weggespült worden seien.
Nachdem wir uns erholt und zu Mittag gegessen hatten, machten wir uns an eine Besichtigung des Tempels. Dieser Tempel hat eine Jahrtausende alte Geschichte. Als um das Jahr 386 n. Chr. das tungusische, den Mandschus verwandte Geschlecht der Toba im nördlichen Schanfi einfiel, gründete es eine Hauptstadt mit Namen Yüntschung, soviel wie »inmitten der Wolken«. Als chinesische Dynastie nannte sich das Geschlecht We und beherrschte unter diesem Namen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts einen Teil von China. Die ersten Herrscher, zielbewußte und energische Männer, verboten ihrem Stamme die heimische Tracht, die heimische Sprache und die heimische Religion. In allen Stücken sollten die Tungusen Chinesen werden. Es waren diese Herrscher die eifrigsten Förderer des Buddhismus, auch hierin den Mandschus nicht unähnlich. In Yünkang, dem »Wolkenfelsen«, wurden nun Hunderte und Tausende buddhistischer Figuren in Stein gehauen. Ganze Höhlen wurden in den Berg gegraben, deren Wände völlig aufgelöst wurden in große und kleine Buddhastatuen. Jahrzehntelang wurde an dem Werk gearbeitet, immer neue Grotten wurden angelegt. Man glaubt einen Fortschritt der Technik zu beobachten von Osten nach Westen zu. Die Gestalten werden feiner, geschmeidiger. Ein starker indo-griechischer Einfluß ist bei allen zu konstatieren. Inschriften aus der alten Zeit fehlen merkwürdiger Weise ganz. Das war auch der Grund, warum dieses Gebiet sehr wenig Aufmerksamkeit chinesischer Altertumskenner auf sich gezogen hat.
Die Figuren und Grotten sind gebildet aus einem grobkörnigen Sandstein, der auf einer Schicht von Tonschiefer ruht. Beides sind sehr leicht verwitternde Gesteine, daher haben die Figuren schon sehr stark Schaden genommen. Vor den Höhlen waren früher offenbar überall Tempel außen an die Bergwand angebaut, durch die die Höhlen, die z. T. hoch über dem Boden hegen, zugänglich waren. Noch sind Spuren von Löchern da zur Anbringung der Dachsparren im Gestein. Diese Tempel sind später zerfallen oder zerstört worden.
In der Mingzeit spielte die Gegend dann wieder eine große Rolle als Grenzgebiet gegen die Überfälle der Mongolen. Aus dieser Zeit stammt auch die Mauer, die über den Felsgrotten auf der Hochebene in ihren Resten noch erhalten ist und die in ihrer Art ganz an ein römisches Kastell erinnert. Es war wohl ein befestigtes Lager, das da oben lag. Im Dorf selbst sind auch noch zwei Tore, die in ihrer Form fast an ägyptische Pylonen erinnern. Das Innere des Lagers ist seit einigen Jahren mit üppig gedeihenden Kartoffeln angepflanzt. Zwischen den Feldern führen die alten gepflasterten Lagerwege. In der Erde findet man allenthalben Scherben von altem Porzellan.
Der Tempel, der aus zwei großen, mehrstöckigen Halbgebäuden besteht, die den inneren, ausgehöhlten Fels bedecken, stammt nach einer Inschrift aus der Zeit des Mingkaisers Wanli (1573-1619) und zeichnet sich besonders durch die wundervollen pfauenblauen Dächer aus. Er ist dann später noch verschiedene Male repariert worden, das letzte Mal von einem Mongolenfürsten, der auch einige mongolische Inschriften hat anbringen lassen. Da der Stein sehr weich ist, verwittert er fortwährend, selbst innerhalb der Höhlen, wo er dem Wind nicht ausgesetzt ist. Bei den Reparaturen wird verschieden verfahren. Wo es möglich ist, wird einfach die Bemalung erneuert und die schadhaften Stellen mit Lehm verstrichen. Weitergehende Schäden werden dadurch gebessert, daß die ganze Statue mit einer Lehm- und Papierschicht überzogen wird, auf der mehr oder weniger geschmackvoll die Vergoldung und sonstige Farben aufgetragen werden. Wenn die Verwitterung schon weiter geschritten ist, so werden Löcher in den Stein gebohrt, um darin Pflöcke zu befestigen, die die neue Lehmschicht halten. Fällt eine solche ergänzte Lehmschicht mit der Zeit doch ab, so greift natürlich von den Löchern aus die Verwitterung besonders schnell um sich. Wo endlich die Formen schon ganz verwischt sind, da wird einfach ein Lehmgrund hergestellt, auf den die Bilder in Farben gemalt werden. Diese Malereien, ebenso wie einige sonstigen, zeigen, trotz verhältnismäßig späten Ursprungs, eine recht gute Technik und auch der geistige Gehalt ist stärker, als es gemeinhin bei derartigen Tempelbildern der Fall zu sein pflegt.
Von den beiden Tempeln führen Galerien und Brücken, oft recht halsbrecherischer Art, nach einigen kleinen Grotten hoch oben im Felsen. Manche sind, wenn auch mit Vorsicht, noch zugänglich. Bei anderen ist die Baufälligkeit schon so weit vorgeschritten, daß sie nicht mehr betretbar sind.
Nach Osten und Westen schließt sich eine ganze Stadt von weiteren Grotten an, die aber in noch stärkerem Verfall begriffen sind als die Tempelgrotten. Die östlichen Grotten dienen großenteils zum Nachtaufenthalt für Tiere und Menschen, die des Wegs kommen. Die Wände sind verraucht, Spuren von Feuerstellen sind auf dem Boden zerstreut. Die westlichen Höhlen sind teilweise vorne zugemauert und als regelrechte Wohnungen für die Bauern des Dorfes eingerichtet. So werden die Leute geboren, wachsen auf und sterben angesichts der großen Reste der Vergangenheit, die still und heilig dem kleinen Treiben der Menschen mit derselben Gelassenheit zusehen, wie dem kleinen Treiben der Bergdohlen, die sich in anderen Höhlen angesiedelt haben. So kommt der Mensch und geht der Mensch, und die Felsen bleiben. Aber auch die Felsen haben keine Dauer. Leise rinnt Sandkorn um Sandkorn zur Erde. Was oben von den Gestalten herabbröckelt, begräbt die unteren Teile immer mehr im Schutt. Während so die Steine kommen und gehen, bleibt der Mensch. Nicht der einzelne, aber die großen Formen und Sitten, nach denen sich die einzelnen bilden. Vor uralter Zeit, als diese Felsentempel gebaut wurden, kamen die tungusischen Tobas ins Land. Sie hatten eine andere Tracht als die Chinesen. Sie umwickelten ihren Kopf mit einem Tuch und wichen auch sonst in ihrer Kleidung vom Volk der Mitte ab. Die Herrscher verboten die Tracht, sie wollten ihr Volk angleichen dem kultivierten Menschen der Mitte. Sie sind dahin mit all ihren Geboten und Verboten, und andere sind nach ihnen gekommen und gegangen im Lauf der Jahrtausende. Und wenn man heute in jene Gegend kommt, so trifft man Menschen, die in ihrer Tracht noch immer abweichen von dem Volk der Chinesen. Sie umwickeln den Kopf mit Tüchern und tragen eigenartige Oberkleider, die die Arme und den größten Teil der Brust frei lassen. Auch die Frauen tragen diese Kleidung, eine Sitte, die sonst in China unerhört ist. Woher kommt diese Tracht? Sind es Reste der alten Sitten der Tobas, die sich länger erhalten haben als die Monumente von Erz und Stein?
Solche Gedanken kamen über mich, als ich nach Sonnenuntergang an der Berghalde vor einer der Grotten saß. Da drunten im Dorf stieg der Rauch so friedlich aus den kleinen Hütten in die Höhe. Das ganze Leben ging seinen Gang mit der Regelmäßigkeit, mit der die Jahreszeiten unhörbaren Schrittes über die Erde ziehen. Der Himmel leuchtet in den letzten Farben des Abends, vor mir in der Steinnische saß eine Kuanyin nachdenklich da und hatte den Kopf in die Hand gestützt, und oben, hoch droben in den Wolken flogen zwei Vögel vorüber, die fernher über die Berge kamen ...
4.
Yünkang, 4. September.
Der Eindruck, den der Klostertempel auf mich machte, als uns der Priester zuerst hinführte, läßt sich nicht besser wiedergeben als mit den Worten Han Yüs, dessen Gedicht »Bergfelsen« den Stimmungsgehalt von Yünkang merkwürdig trifft:
»Der Mönch erzählt von all den Buddhabildern,
Die in die Wand gehaun, sie seien Meisterwerke.
Und eine Fackel holt er, sie ins Licht zu setzen,
Doch sieht man wenig bei dem ungewissen Flackern.«
Aber etwas Merkwürdiges erlebte ich, als ich allein in diesem Felsentempel blieb. Beim Hereintreten war es ganz finster gewesen, so daß man nichts unterscheiden konnte. Als ich ganz still eine Weile gewartet und mich innerlich gesammelt hatte, da schlug der Fels gleichsam die Augen auf. Ein Bild ums andere trat hervor aus der Nacht, wurde lebendig, begann zu reden. Die großen Bilder gaben tiefe, mächtige Akkorde, die kleinen und immer kleineren ertönten in zarter Melodie, und schließlich war der ganze Raum in der Tiefe des Berges erfüllt von einem himmlischen Lobgesang, der sich bis in die höchsten Höhen immer ferner und zarter fortpflanzte. Als ich dieses innere Erlebnis einer unhörbaren, himmlischen Musik gehabt, da ward mir klar, warum in den alten Sagen soviel von Höhlenhimmeln die Rede ist, Sagen, die noch im Pfirsichblütenquell von T'ao Yüan Ming ihre letzten Ausläufer zeigen. Ja, warum schon unter den Zeichen des Buchs der Wandlungen »Der Himmel inmitten des Bergs« als Bild vorkommt, wo es dann heißt: »So lernt der Edle viele Worte der Vorzeit und Taten der Vergangenheit, um sein Wesen zu fördern«. Ist das nicht gesprochen wie im Hinblick auf ein solches Heiligtum, in dem die Jahrtausende auf uns niederblicken und die Seele groß und weit machen? Merkwürdig: In dieser Grotte tauchten plötzlich die gotischen Dome vor mir auf. Auch dort das geheimnisvolle Dunkel, das die Seele auf sich selbst zurückweist, und auch dort die Melodie, die aus den Stimmen der Steine sich emporwölbt. Auch die Gotik überwindet die Schwere des Steins und verleiht ihm Leben, indem sie ihn zur Pflanze macht, die emporwächst, sich reckt und rankt, so daß alles in Bewegung kommt. Hier in Yünkang ist noch ein Schritt weiter getan: nicht nur Leben atmet der Stein, sondern Seele. Nicht Pflanzen sind es, in die die Schwere sich auflöst, sondern menschliche Gestalten und Gesichter zu Hunderten und Tausenden, und jede Gestalt ist beseelt und einstimmend in den tiefen Gesang der Ewigkeit.
5.
»Tief ruht und still die Nacht, die hundert Stimmen
Der Zirpen, die den Tag durchlärmten, schweigen,
Dort hinter Felsenzacken kommt der Mond hervor
Und füllt mit seinem Glanz des Fensters Gitterwerk.«
Ich schlief ein, da wurde mir im Traum das Geheimnis dieses Tempels kund. Ich sah die Welt in ihrem Wandel, sah das Wasser fließen in dem Fluß, ewig wechselnd und doch stets dasselbe. Oft lag etwas im Weg. Dann spritzte es auf, und in seinem Aufspritzen ward es von einem Sonnenstrahl getroffen, den es auffing und in bunten Farben wiederspiegelte. Als ich genauer zusah, da war aber das Wasser des Flusses Stein, grauer Sandstein, der so weich war wie Wasser und sich wandelte und floß. Nur waren die Zeiten etwas andere, in denen er sich umgestaltete. Aber ich stand ja am Ufer der Ewigkeit, was sind da Zeiten? Die bunten Regenbogenfarben, das waren die Bilder, die in den Stein gehauen waren, die glitzerten und leuchteten. Dann wurden sie wieder stumpf und verschwanden wie die Formen, die die Wellen des Wassers bildeten. Ich war nun wieder in der Grotte des Tempels. Aus finsterer Nacht leuchtete sie allmählich auf, Gestalten wuchsen aus dem Stein, bekamen Formen, und dann rieselten sie wieder auseinander und wurden Sand. Da fühlte ich mich plötzlich erschauern ...
Ich wachte auf. Ringsum war alles still, und nur der Mondschein lag als weißer Streifen auf dem Boden. Da fiel mir das Lied von Li T'ai Po ein:
»Vor meinem Lager ein weißer Streif,
Als wäre der Boden bedeckt mit Reif.
Ich blicke empor in das Mondlicht hinein.
Ich senke das Haupt, denk der Heimat mein ...«
Tief klang die Tempelglocke durch die Nacht, wie fragend und mahnend. Ich mußte über den Traum nachdenken, dann schlief ich wieder ein und wachte erst auf, als der Ruf der Hähne allmählich das Gewirr der Träume durchdrang.
6.
Tat'ungfu, 5. September.
Wir standen frühmorgens auf. Es war empfindlich kühl. Wir wollten noch die Eindrücke des gestrigen Tages vertiefen und namentlich im Osten noch einige Grotten ansehen und photographische Aufnahmen machen. Nach dem Mittagessen, das wir ziemlich früh einnahmen, machten wir uns auf den Rückweg nach Tat'ungfu. Diesmal beide im Wagen. Der Wagen holperte durch das Flußbett. Ich habe selten einen staubigeren Fluß gesehen. Kaum zwei Tage waren seit dem letzten Regen vergangen. Noch floß Wasser zwischen dem Geröll, das das Tal anfüllte, und schon deckte uns jeder Windwirbel, wie sie in dem allmählich sich erwärmenden Gelände da und dort aufstanden, mit Wolken von Staub und Sand zu. Der Wagen war ein Muster seiner Art. Unverwüstlich trotz alles Rüttelns und trotzdem das eine Rad, das gesprungen war, nur notdürftig mit Stricken zusammengebunden war. Die Diener kamen auf Eseln nach, denen zugleich ein Teil des Gepäcks aufgeladen war. Ein solcher chinesischer Reisewagen scheint unendlich langsam dahinzuschleichen, und doch kommt er so rasch voran wie ein rüstiger Fußgänger, wie ich beobachten konnte, als wir eine Zeitlang nebenhergingen, da uns das Schütteln zu bunt wurde. Die Rückfahrt brachte nichts Neues. Langsam wiederholten sich die Eindrücke des gestrigen Tages in umgekehrter Reihenfolge.
Der Abend brach herein, als wir in Tat'ungfu ankamen. Wir wuschen in der Herberge den Staub des Wagens ab und machten uns dann noch zu einer kleinen Erkundungsfahrt durch die Stadt auf. Wir fuhren bis zu dem Huayän-Tempel an der Westmauer. Das ist ein buddhistischer Tempel aus der Mingzeit von ganz gewaltigen Dimensionen. Es war schon dunkel, als wir bei dem Tempel ankamen. Durch mehrere Höfe führte der Weg in die Höhe. An einer Stelle waren zwei bissige Hunde an ehernen Ketten angebunden: Es war die Halle der Meditation, vor der sie lagen. Eine steile Treppe führte auf eine Terrasse hinauf, deren Abschluß die mächtige Tempelhalle bildete. Rechts und links standen kleine Türme, in dem einen hing eine große Pauke, im anderen die alte Glocke, die eben von einem Mönch zum Abendsegen angeschlagen wurde, und ihre tiefen Töne friedlich über die weit ausgebreitete Stadt hinsandte, über all die Dächer und Giebel hinweg, die nach Osten sich erstrecken.
Wir traten in die Halle ein. Auf dem tiefen Dunkel des Hintergrundes blickten geheimnisvoll und ruhig die ehernen Buddhastatuen hervor, während an den Seitenwänden Arhats und Bodhisatvas standen. Eine kleine Tafel am Eingang war mit einem schwermütigen Spruch beschrieben.
»Schon wieder ist ein Tag dahingeschwunden,
Und wieder ist um ihn dein Leben abgekürzt.
So geht es hin in ehernen Geleisen.
O Mensch, was soll's, daß du in Freuden dich noch stürzst?«
Draußen die Abendglocke mit ihren langsam abgemessenen Tönen, die roten Wolkenstreifen, die in kaltes Grau sich wandelten, und das Dunkel in der Tiefe der Halle begannen zu drücken, und dichte Weihrauchwolken wirbelten empor. Die Menschen lagen auf ihren Angesichtern vor dem Helden, dem Sieger, der still und kühl des Lebens Mühsal überwunden ...
Wir kehrten nach der Herberge zurück. Die Straßen waren nach des Tages Hitze alle belebt von wimmelnden Menschen. Auch die Frauen und Mädchen, die bei Tag nicht auf den Straßen zu sehen sind, kommen hier um diese Abendstunde hervor, schön geschmückt und gekleidet. Studenten und Schüler streichen vorüber und suchen einen Blick, ein Lächeln zu erhaschen.
Als wir in der Herberge ankamen, war es völlig Nacht geworden, und die Leute waren in aufgeregten Gesprächen begriffen, denn ein Mann war mit seiner Familie zugereist und suchte in der Herberge noch unterzukommen. Er erzählte, daß gerade an dem Tag, an dem wir in Yünkang gewesen waren, in einer benachbarten Stadt eine Meuterei unter den Truppen ausgebrochen war. Sie hatten Geld bekommen von Tschang Lin, dem Herrscher der Mandschurei, der auf diese Weise seinen Gegnern innere Schwierigkeiten bereitete.
7.
Nankou, 6. September.
Am Morgen vor Tagesanbruch, als die kühle Luft noch um die Dächer strich und die Sterne langsam verblichen, wurde zum Aufbruch gemahnt. Der Zug fährt in Tat'ungfu ziemlich früh ab. Wir fanden aber, trotzdem mehrere Soldaten und Gendarmen mitfuhren, ein bequemes Abteil für uns allein. Nun ging die Reise wieder zurück durch den Talstreifen, der, zwischen unfruchtbaren Bergen liegend, im Lauf der letzten Jahrzehnte von den chinesischen Bauern der Wüste abgerungen worden ist. Die Mongolen, die früher hier wohnten, haben sich vor der nachrückenden Kultur in ein Tal weiter nach Norden zurückgezogen. Die ganze Bahn bedeutet einen Vorstoß der Kultur gegen die Steppe der Gobi. Es ist unglaublich, welche kolonisatorische Kraft den Chinesen innewohnt. Unwiderstehlich drängt sich der Strom der Ackerbauern und Kaufleute nach der Wüste vor. Das chinesische Vordringen wird, wenn kein wesentlicher Rückschlag eintritt, noch weite Strecken der Steppe der Kultur erschließen. In solchen Dingen zeigt sich die große Kraft, die dem chinesischen Volk innewohnt. Denn nicht als Parasiten, die sich von anderer Reichtum mästen, kommen sie, sondern als Kolonisatoren, die aus der Wüste Ackerland machen und aus den Territorien von Räuberhäuptlingen geordnete, wohlregierte Gebiete menschlichen Wohnens.
Wir fuhren eine Zeitlang an einem Arm der großen Mauer entlang, der sich am Fuß der Berge nördlich der Bahn in der Ebene hinzieht, bis sie plötzlich wieder nach Norden zu über das Gebirge in weitem Bogen sich hinüberschlägt.
So kamen wir nach Kalgan. Dort gab es einen großen Auflauf am Bahnhof. Zwei gefangene Räuber waren in unserem Zug mitgefahren, die in Kalgan zur Verurteilung kommen sollten. Da sah man mitten hinein in diese Kämpfe des Grenzlandes. Die vordringenden Kolonisten sehen sich umschwärmt und dauernd beunruhigt von den Räuberbanden, die unter dem Namen Hunghutsen ja auch in Europa bekannt sind. Das ist ein Kampf auf Leben und Tod, in dem es keine Schonung gibt. Die beiden Räuber waren mit schweren Ketten beladen und an den Füßen mit hölzernem Block geschlossen, so daß sie nur langsam und mit kleinen Schritten sich vorwärts bewegen konnten. Unmittelbar vor dem Bahnhof standen Wagen, in die sie unter starker, militärischer Bedeckung verladen wurden, um jeden Fluchtversuch unmöglich zu machen. Ich konnte dem einen im Vorbeigehen ins Gesicht sehen. Er blickte wie ein gefangener Tiger. Man sah es ihm an, daß er schonungslos die Soldaten töten würde, wenn er könnte, ebenso wie er nun schonungslos der Verurteilung entgegen ging. –
Das war der letzte Eindruck aus jenen Grenzgebieten. Von Kalgan aus wendet sich die Bahn nach Süden und Osten, und bald kommt man dem Gebirge wieder näher, wo der innere Strang der großen Mauer die Bahn kreuzt. Wollte man den Eindruck beschreiben, den der Riesenbau der großen Mauer, der sich den Kamm des Gebirges entlangzieht und am Horizont in der Ferne verliert, macht, so würden sich am ehesten die Grenzwälle des alten Römerreiches gegen die nördlichen Barbarenländer als Gegenstück ergeben. Es sind dieselben systematisch angelegten und mit überlegener Kunst durchgeführten Sicherungen des »Erdkreises« gegen das Wilde, Ungestaltete, das in den Völkermassen von Jenseits droht; dabei ergibt sich dann freilich als weitere Parallele das Endresultat, daß alle diese künstlichen Vorkehrungen auf die Dauer nichts fruchteten gegen den Anprall der Naturgewalt, die in jenen Völkern tätig war. Ebenso wie die Germanen schließlich doch das Römerreich an sich rissen, sich als die herrschende Schicht haltend, aber als Sieger dennoch der vorgeschrittenen Kultur unterliegend, haben auch wiederholt die Mongolen und andere Stämme die große Mauer durchbrochen, auch sie aber wurden eingegliedert in das große chinesische Kultursystem, das mehr als irgendein anderes es verstanden hat, die heterogensten Völkerstämme zu dem einheitlichen Ganzen zusammenzuschmelzen, als welches das heutige China vor uns steht.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Rom und China bleibt aber dennoch bestehen. Der Keim des römischen Weltreichs war schließlich doch die Stadt; das war der Grund, warum trotz der Heranziehung immer weiterer Kreise mit dem Hervortreten der Überkultur das römische Reich an innerer Blutleere starb und nur die leere Form als Erbe auf die Zukunft kam. Der Kern der chinesischen Macht aber ist die homogene Masse der breiten, bäuerlichen Bevölkerung. Hier sind die starken Wurzeln ihrer Kraft, und aus diesem Nährboden heraus kommt immer neuer, gesunder Nachwuchs in die herrschenden Klassen, wenn je einmal dort oben Überzivilisation die Gesellschaft und mit ihr den Staat durchseucht. Darum blieb China durch die Jahrtausende hindurch so lebenskräftig und überdauerte auch den Wechsel der herrschenden Geschlechter.
8.
Peking, 7. September.
Ein Bild ganz anderer Art von vergangener Pracht und Herrlichkeit der letzten national-chinesischen Dynastie, die im Jahre 1644 gestürzt wurde, bot sich uns, als wir von Nankou aus, wo wir die Nacht geblieben, einen Ritt nach den Gräbern der alten Kaiser der Mingdynastie machten. Der Weg ist ziemlich weit, so ging es denn in aller Frühe schon hinaus. Um vier Uhr wurden wir geweckt. Draußen klirrten die Ketten der stampfenden Esel. Ungewisse Lichter gingen hin und her, und die Luft war kalt und scharf, als wir auf unseren Eseln in die Nacht hineinritten. Die Sterne glühten am Himmel, an dem schwarze Wolkenstreifen hingen. Sternschnuppen liefen hinter den dunkel aufsteigenden Bergmassen hin und her. Die Tiere suchten mit sicherem Tritt, weit besser als wir sie hätten leiten können, ihren Weg im Finstern. Sie kletterten auf gewundenen Pfaden durch das überall umhergestreute Steingeröll. Über Flüsse und steile Berghänge ging es hinan. Dann kamen wir auf die Hochebene über schwarze, schollige Äcker, durch schlafende Dörfer, durch den Tau der Nacht, der in den Bäumen hing. In der Ferne krähte ein Hahn. Abgebrochene Töne der Totenklage aus einem Trauerhaus drangen durch die Nacht. Die Sterne sanken in weitem Bogen allmählich im Westen hinunter, und ein scharfes Wehen verkündete den Morgen, der im Osten heraufdämmerte. Endlich bogen wir um den Berg, der sich immer näher herangeschoben hatte, da waren wir in dem weiten, rings von gleichmäßigen Bergen umgebenen runden Talkessel, der gleichsam am Ende der Welt die Gräber aufgenommen hat. Als wir an das große, siebenteilige Tor kamen, das am Eingang der Gräberstraße steht, da stieg eine rote Wolke aus dem Meer goldenen Lichtes empor, das plötzlich im Osten hervorbrach. Schon leuchteten die Gipfel der westlichen Berge in violettrotem Glanz. Das Licht stieg die Hänge hinunter auf die näheren Hügel, die in graugrüner Dämmerung harrten. Endlich ergoß sich der brennende Schein über das erste der roten Grabmausoleen, die in dichten, schwarzen Zypressenhainen rings an die Bergwände gelehnt sind. Dann ging das Licht weiter von einem Mausoleum zum andern, bis schließlich auch der letzte Talwinkel im Sonnenschein lag. Unterdessen waren wir wohl eine Stunde auf der langen Straße geritten, die durch manche Torgebäude und zwischen steinernen Tierfiguren hindurch, die an die Geisterstraßen ägyptischer Tempel erinnern, auf den Haupttempel zuführt. Diese größte Grabanlage ist die des Kaisers Yunglo (1403-1427), der seinerzeit die Residenz von Nanking, der »Südhauptstadt«, nach der »Nordhauptstadt« Peking verlegt hatte. Als wir von unseren Eseln stiegen, umstrahlte uns gerade das erste Sonnenlicht. Aus dem zunächst liegenden Weiler wurde ein Mann herbeigerufen, der uns die gewaltigen Türflügel öffnete und uns dann uns selbst überließ. Man war wie in einem Märchen zwischen den ungeheuren, zerfallenden Tempelanlagen. In den Höfen standen Jahrhunderte alte Kiefern und Zypressen, zwischen denen sich Eichengestrüpp emporwand. In den Zweigen huschten kleine Vögelchen umher, die fortwährend zirpten wie die abgeschiedenen Seelen, von denen Homer erzählt. Vor dem eigentlichen Grabhügel erhebt sich ein zweistöckiges Gebäude, in dem die marmorne Grabtafel steht. Doch führen keine Treppen hinauf, sondern ein steil ansteigendes, zweimal um die Ecke biegendes Gewölbe, das so gebaut ist, daß beim Herantreten ein seltsames Echo jeden Laut verdoppelt. Aber alles ist in Verfall. Die einst prächtigen Opfergeräte im Ahnentempel sind durch solche aus Pappe ersetzt worden, die, in voller Auflösung begriffen, ein grausiges Wort reden von der Vergänglichkeit irdischer Pracht.
Eines großartigen Eindrucks wird sich übrigens niemand erwehren können, der diese Grabanlage gesehen hat. Die Art, wie ein ganzes Gebirgstal umgestaltet ist zu einem ungeheuren Bauwerk, wie die Adern des Gesteins und die Bäche mit hereinbezogen sind in diesen Friedhof, hat etwas Imponierendes. Es ist eine andere Art als der ägyptische Pharaonenwille, der in den Pyramiden künstliche Berge der Ebene abtrotzte, aber es deutet auf eine nicht minder edle Kultur, in Harmonie mit Himmel und Erde die Ruhestätten für die verstorbenen Herrscher anzulegen, wie dies in China mit seltenem Geschick zustande gebracht worden ist.