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Cur aliquid vidi?
Wir haben immer Hunger,
Wir haben immer Durst,
Was andre Leute essen,
Das ist uns wirklich wurst.
Knorr-Erbswurst in den Kessel,
Die schmeckt und die gibt Kraft,
Der Aufstieg auf den Gipfel,
Der ist dann gleich geschafft.
(Reklameverse, angebracht in einem Eisenbahnabteil der Strecke München-Seeshaupt.)
Es gibt heute wenige Denker, zu deren Werk man auf Jahre hinaus in einem Verhältnis steht, das zwischen spontaner Zustimmung und entschiedener Ablehnung ununterbrochen wechselt. Liest man ihre Bücher, so ist das nicht nur ein geistiger Vorgang, der die Aufnahme eines bestimmten Maßes an Wissen bewirkt: die Lektüre verläuft als ein Erlebnis, das den Leser zum Einsatz seines Allerpersönlichsten zwingt. Sein Dasein wird angegriffen, wie er es heute von Gedrucktem kaum mehr gewohnt ist. Denn trotz des weiter gewordenen Umfangs unserer geistigen Beschäftigungen hat sich der Zusammenhang des Denkens mit dem blutigen Leben eher gelöst als verfestigt. Das Buch ist zum Gegenstand geworden, mit dem man sich abgibt, interesse-erfüllt, doch ohne seinen Inhalt für Tag und Stunde noch irgend verbindlich zu finden. Bücher bilden uns allgemach eine Welt, die abseits und nur für sich besteht als eine gewaltige Aufbewahrungsstätte von Möglichkeiten des Geistes, deren Kenntnis uns für die Anforderungen eines seltsam neu und anders empfundenen Lebensbereiches nur wenig Hilfe zu bringen scheint.
Was uns nottut, sind Bücher, deren Gehalt sich den unmittelbaren Einbezug in das Leben des Lesenden wieder unaufhaltsam verschafft. Wir brauchen Ernst Jünger. Wir sind dahin gelangt, daß ein Irrtum, wenn er begreiflich ist und ehrlich dem Leben abgewonnen, uns eher zu helfen vermag als die Feststellung einer Wahrheit, der die Überzeugungskraft fehlt. Wahrheit, wird man freilich entgegnen, bleibt Wahrheit, ob sie nun wirksam ist oder nicht, während der Irrtum sich selbst erledigt, sobald er seine Wirkung verliert. Wie aber, wenn nun lebendiger Irrtum und tote Wahrheit sich heute begegnen?
Zweifelsohne führt dies zu einer Verwirrung der Begriffe. Doch bereits ist die geistige Lage, soweit man sie verallgemeinern kann, in einen Stand der Verschärfung getreten, in dem die Begriffsverwirrung denen, die noch Zeit haben, sich dabei aufzuhalten, bereitwillig eingeräumt wird. Es geht für den denkenden Menschen, der am Rand der Verzweiflung steht, nicht mehr um die Objektivität der Begriffe, sondern nur noch blindlings um das, was ihm hilft. Das Akzidentielle gewinnt eine Wichtigkeit, hinter der das Substantielle in seiner Bedeutung bis zum Verschwinden zurücktritt. Man greift bedenkenlos zu einem Gift, wenn es die Erhaltung des Lebens erfordert. Der Streit um Irrtum und Wahrheit kann nur in einem Lebensbezirk vonstatten gehen, in dem der denkende Mensch nicht zugleich um Sein oder Nichtsein kämpft. Ist dies der Fall, das heißt, erfolgt für den Menschen schon aus der bloßen Tatsache, daß er denkt, die unmittelbare Entscheidung über sein Dasein, dann wird ihm jedes Mittel recht und billig sein, um dieser Entscheidung bejahenden Sinn zu verleihen. Das Denken ist der gefährlichste Feind des Lebens. Zugleich aber sucht und gibt es die Mittel, durch die das als unmöglich eingesehene menschliche Dasein ertragen, bewältigt und sinnbegabt wird.
Diese auf das Unmittelbarste und Innigste hergestellte Beziehung, die, wenn sie gelöst würde, augenblicklich den Verzicht des einen zugunsten des anderen bewirkte, macht die Bücher Ernst Jüngers so ungemein anfordernd. Jeder in ihnen geäußerte Gedanke ist das Ergebnis einer Erfahrung, die zustande kam aus der Berührung eines Geistes mit Welt. Die Erfahrung ist die einzige, jedoch unbedingte Voraussetzung des Gedankens. Die Methode von Jüngers Denken ist in dieser Hinsicht zwar höchst primitiv, jedoch, indem hier das Wort im genauen Sinn von ursprünglich gilt, besitzt sie eine Überzeugungskraft und Wahrhaftigkeit, die sie unangreifbar machen für die Einwände einer abgeleiteten, abstrakten Vernunft. Denken ist hier ein notgedrungenes Verhalten, mit dem der Mensch auf den Einfall der Wirklichkeit in das Gebiet des Bewußtseins reagiert: der Mensch empfindet sich von der Wirklichkeit angegriffen in seiner Existenz; wenn er zu denken beginnt, so ist das zunächst ein Erleiden, ein Denken, das er wider Willen vollzieht. Der Schmerz, der ihm daraus entsteht, erweckt in ihm die Kraft und den Entschluß zur Verteidigung. Schließlich unternimmt er den Gegenangriff und weist nun der Wirklichkeit eine Ordnung zu, deren Artung den Eigentümlichkeiten entspricht, die der Denkende während ihres Angriffs erfahren hat.
Unter solchen Umständen ist das Denken, das bei gewissen systemhaften Ausbildungen bis zur Unstimmigkeit mit dem Leben geführt hat, seiner Selbstherrlichkeit verlustig gegangen. An Stelle des Erkennens, bei dem der Denkende sich zur Wirklichkeit von Anfang an in einem Verhältnis der Aktivität befindet, tritt nun das Erfahren als ein Zustand der Passivität. Damit sind auch die Mittel der Beweisführung und des Erhärtens vertauscht. Die Vernunft, als die Begleiterin der Erkenntnis, verliert ihre Glaubwürdigkeit zugunsten der Empfindung und des Gefühls. Dieses kann nicht mehr plausibel gemacht werden. Doch wohnt ihm eine Überzeugungskraft inne, die aus der Gewalt der Erfahrung stammt und vor der jeder Einwand der Vernunft wirkungslos abprallt.
Es ist nicht ohne Bedeutung, welches der Bücher von Ernst Jünger Von Ernst Jünger ist erschienen: In Stahlgewittern, Das Wäldchen 125, Der Kampf als inneres Erlebnis bei Mittler & Sohn, Berlin; Der Arbeiter, Das abenteuerliche Herz, Blätter und Steine bei der Hanseatischen Verlagsanstalt, Hamburg. das erste ist, das man liest. Wenn auch die Werke, in denen er sein Weltkriegserlebnis gestaltet, »In Stahlgewittern« und »Das Wäldchen 125«, durchaus für sich bestehen können, so verlangt doch das andere Werk, »Der Arbeiter«, in dem sein Denken zum Gegenangriff auf die erfahrene Wirklichkeit ausholt, um völlig verstanden zu werden, ein Wissen um die Erfahrungsvoraussetzungen, die die eingenommene Stellung bestimmten.
Ich entsinne mich noch deutlich des durchaus vermischten Eindrucks, den eine erste Lektüre hervorrief. Es war während einiger Spätsommerwochen, der »Arbeiter« war eben erschienen, von Jünger war mir bis dahin nicht mehr als der Name bekannt. Die stickige Zeit, die das Leben damals bedrückte, und schlimme persönliche Mißgeschicke waren vor dem inständigen Dasein, in das mich die Wirklichkeit eines Bodenseesommers einbezogen hatte, für einige Wochen auf wunderbare Weise belanglos geworden. Da mengte sich dieses Buch unter die Gegenwart von Ufer, Wasser und Licht, die ihren unaufheblichen Wert und ihre Beständigkeit eben aufs neue und eindringlichste wieder bewiesen. Zu Segeln, Schwimmen und Nichtstun kam eine leidenschaftlich betriebene Lektüre. Die Aufrichtigkeit des Erlebens, aus dem die Gedanken hervorgegangen waren, wirkte in ihnen mit einer Gewalt, vor der die Kritik verstummte, auch wenn ein Widerspruch offen zutage lag. Denn ein Widerspruch war hier nichts als die Widersprüchlichkeit des erscheinenden Lebens, und es war hier auf ein Denken, das diese Spannung der Ordnung zuliebe in Irrtum und Wahrheit zerspaltet, von vornherein verzichtet. Meine Täglichkeit, die damals dahinschwand über Beschäftigungen, die so ganz und gar anders waren, als sie Jünger verhieß, sah sich von diesem Buch in ihrem Sinn aufs unmittelbarste bedroht. Trotzdem mußte es mir widerstehen, mich vor seinem Anspruch mit Mitteln zu wehren, die seiner Voraussetzung nicht entsprachen. Widerlegung wäre hier zwecklos gewesen. Sie hätte dieses oder jenes getroffen, ohne dabei das Wesen auch nur zu berühren: übriggeblieben wäre Jüngers tiefste Erfahrung, die den ausgeführten Gedanken, die leicht widerlegt werden konnten, unangreifbar zugrunde lag. Nicht die Dialektik, sondern nur die andersartige Erfahrung, die mit eben der Unbedingtheit hier dieser landschaftlichen Wirklichkeit abgewonnen war und die dem Einzelnen sein Recht auf individuelles Dasein stündlich und vollauf bewies, vermochte diesem Anspruch entgegenzutreten.
Jünger kann nicht widerlegt, sondern nur überwunden werden. Es wäre müßig, sich kritisch mit seinen Gedanken auseinanderzusetzen. Man fände keine Beweisstücke, die, wenn sie vorgebracht würden, sich unbedingt stichhaltig zeigten. Jüngers Gedankenwelt ist der Raum einer subjektiven Erfahrung, in deren glühender Denkatmosphäre sich jeder objektive Einwurf sogleich verzehrte, während die Einwände, die eine entgegengesetzte, ebenso feste Überzeugung vorbringen könnte, in den üblen Geruch des Eiferns gerieten. Es wird sich als unmöglich zeigen, eine Unsachlichkeit wie die von Jünger, die, indem er sie zugibt, auf eine seltsame Art wieder sachlich wird, durch eine entgegengesetzte Unsachlichkeit widerlegen zu wollen. Für einen unbeteiligten Zuschauer wäre bei diesem Streit der Angreifer sofort im Nachteil, denn er würde notwendigerweise der unannehmbaren Unsachlichkeit des Ressentiments verfallen. Es bleibt nur eins: eine glatte Ablehnung mit der schlichten Unbedingtheit eines anderen Lebensgefühls. Denn wer noch in der undurchbrochenen Sphäre eines solchen gesichert ist, dem wird Jüngers Gedankenwelt von Anfang an unbegreiflich erscheinen. Im Andersgläubigen, als dem absoluten Fremdling, stellt sich für Jünger auch der einzige ernsthafte Gegner dar. Nichtverstehen ist gefährlicher als Kritik. Zwischen der Verschiedenheit zweier Erfahrungen kann es kein Streitgespräch geben. Ein Überpersönliches, das als die Macht des Lebens erkannt werden mag, ist die Instanz, die über die Gültigkeit der Anschauungsweisen entscheidet. Es geht nicht um Irrtum und Wahrheit, es geht um Leben und Tod. Jeder Gedanke, der hier ins Feld geführt wird, muß durch den rückhaltlosen Einsatz der persönlichen Existenz vertreten werden – durch Überzeugte, die auch ein persönlicher Untergang nicht eines andern belehrt. »Die Art der Beweisführung ist schärfer und durchgehender geworden, man beginnt einzusehen, daß Druckerschwärze und Schießpulver adäquate Mittel sind.«
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Jüngers »Arbeiter« ist das Bekenntnis eines Geistes, der durch Erfahrungen hindurchging, die einer ganzen Generation in gleichem Maße angehörten, und dessen Natur zweifelsohne eine größere Allgemeinheit repräsentiert. »Das abenteuerliche Herz«, in welchem Jünger seine »Aufzeichnungen bei Tag und Nacht« zusammenstellte, gibt zu seiner Morphologie einen erleuchtenden Beitrag.
Hervorstechendes Merkmal dieses Geistes ist die Fähigkeit, Distanz zu sich selbst zu gewinnen. Jünger ist begabt mit einem anderen, zweiten Ich, das, passiv und rationalen Charakters, dem einen, emotional bestimmten, dem das Handeln und Fühlen überlassen bleibt, unbewegt zusieht und dessen Empfindungen registriert, um aus ihnen die Folgerungen und gedanklichen Schlüsse zu ziehen. Diese Eigentümlichkeit, mit der man sonst das Geschwächtsein der Dekadenz in Zusammenhang bringt, wirkt sich bei Jünger positiv aus. Mag sie gleichwohl Anzeichen einer gebrochenen Natur sein, sie ist, anstatt deren Vitalität zu vermindern, ein Mittel zu ihrer Steigerung. Man kann dies heute weithin beobachten. Der moderne Vitalismus, wie er in allen Ländern in den verschiedensten Färbungen auftritt, erhebt sich allgemein vor dem Hintergrunde des Intellekts. Wille und Vorstellung, die, wie die christliche Sicht des Menschen und schließlich noch Schopenhauer es definierten, als Extreme in unversöhnlicher Feindschaft leben, schließen sich nun zu einem seltsamen Bündnis zusammen. Die Vorstellung wird zum bejahenden Bewußtsein des Willens. Ihre Verselbständigung, deren Verlauf zu einer fortschreitenden feinsten Differenzierung des Denkens auf Kosten des unterdrückten Instinktes geführt hat, erreicht einen Grad, der unwillkürlich die Krisis herbeiführt. Entweder – heißt es nun – muß das Denken dieses Leben verneinen, oder es unterwirft sich dem hemmungslos wiederaufquellenden Trieb. Die Vorherrschaft wechselt. Der Mensch ist nicht nur ein denkendes Wesen, sondern auch ein animalisches Geschöpf, und es offenbart sich, wie er letzten Endes seine subtilsten Kräfte und Fähigkeiten in den Dienst eines nackten Selbsterhaltungstriebes stellt.
Die Zwieschlächtigkeit der menschlichen Natur bleibt dabei ohne weiteres anerkannt. Es könnte von Vitalität ja gar nicht gesprochen werden, gäbe es nicht eine Vorstellung, die diesen Begriff umgrenzte und ihn abhöbe von einem anderen, der Nichtvitales umschließt. Ein Mensch, der im förmlichen Sinne vital ist, wird des Bewußtseins seiner Natur nicht teilhaftig werden. Es ist das Kennzeichen der echten Vitalität, daß das Bewußtsein ihr mangelt. Nur ein ursprünglich nichtvitaler Mensch kann das Vitale bestimmen. Die Kampfansage an den Geist, die man allerorts hört, setzt bereits eine gebrochene: teils geistige, teils animalische Natur voraus, wobei es noch jeweils dahingestellt bleibt, ob hier wirklich ein Kampf zwischen dem Geistigen und dem Animalischen als zwei gleichwertigen Gegnern zur Ausführung kommt, oder ob es sich nicht doch etwa nur darum handelt, daß der Geist durch ein Wunschbild des Geistes bekämpft werden soll.
Jünger gibt die Spiegelung seines Vitalismus im Geiste mit aller Offenheit zu. Seine Natur ist gebrochen. Doch liegt es ihm fern, diesen Zustand verändern zu wollen. Er weiß, dies führte nur zur romantischen Pose. Die Unschuld, einmal verloren, ist nicht mehr zurückzugewinnen. Angestrebt wird daher keineswegs eine Veränderung des Wesens zur Einfachheit hin, sondern innerhalb der in ihrer Zwiefältigkeit belassenen Natur wird die Vorherrschaft, die bisher, seit der Mensch sich bewußt geworden ist, dem Geistigen zuerkannt wurde – wenn auch infolge der menschlichen Schwäche oft nur nominell, nicht immer de facto – dem Geistigen genommen und auf die Macht des Triebs übertragen. So entsteht eine Vitalität, die um sich weiß – eine bewußte Vitalität, die einer ursprünglichen gegenüber in Wesen und Wirkung unendlich gesteigert ist. Gesteigert infolge des gleichen Umstandes, der die Züchtung von Blumen oder Liebesspiele ermöglicht. Wenn die Bewußtheit des Geistes mit all ihren Fähigkeiten den Trieb unterstützt, mit ihrer Erfindungsgabe, ihrer Voraussicht, ihrer Erinnerung, mit ihrem Vermögen zu systematisieren, so pflegt der Trieb eine ungeahnte Intensität zu entwickeln. Und der Jüngersche Geist ist von einer seltenen Schärfe, hochgezüchtet in ungewöhnlichem Maße, vertraut mit dem Geist aller Geister, für die entlegensten Reize empfänglich und fähig, die subtilsten Unterschiede zu machen. Was Wunder, wenn er die Vitalität, die sich in seiner Bewußtheit bricht, in ihre geheimsten Motive zerlegt? Wenn er, nachdem er sich klar darüber geworden ist, sie zu den äußersten Anstrengungen treibt? Ihr durch seine Umsicht zu den letzten Möglichkeiten verhilft?
Selten ist über das Wesen des animalischen Menschen so viel Genaues und Scharfsinniges ausgesagt worden wie in den Schriften Ernst Jüngers. Man hat den animalischen Menschen meistens von außen betrachtet – von einem ihm überlegenen, weltanschaulichen Standpunkt aus. Oder: man beobachtete seine Verhaltungsweisen, ohne die Ursachen aufzudecken. Es gab Moralisten, die ihn beschrieben, Dichter, die ihn dargestellt haben. Selten aber wurde er analysiert.
Dostojewski vielleicht, bei dem unter ähnlicher Helligkeit des Bewußtseins der animalische und der geistige Mensch in einem niemals geklärten Verhältnis im Bereich seines Ich zusammengesperrt waren, tat es zum erstenmal. Noch aber war die Bewertung christlich-antik: auch bei offensichtlicher Überlegenheit galt das Animalische als von niedrigerer Natur. Demgegenüber räumt ihm Ernst Jünger bedenkenlos Vorrang und Wert vor dem Geistigen ein. Das ist für seine Analyse entscheidend. Jünger betrachtet das Animalische als animalischer Mensch. Ein äußerst gesteigerter Intellekt benutzt das psychologische Handwerkszeug, das ihm die Virtuosen der Selbstzergliederung, Stendhal, Dostojewski, Huysmans, bereitgelegt haben, um eine äußerst animalische Natur, die – man halte dies für die spätere Betrachtung fest – im Gegensatz zur Geistnatur des Menschen unpersönlichen Charakters ist, zu zergliedern.
Dieser Vorgang ist nicht mehr Selbstzweck, wie beim Dichter. Vielmehr wohnt ihm eine höchste Zweckmäßigkeit inne, die sich für den Autor wie für den Leser unmittelbar auf das zu bewältigende Leben bezieht. Betrachtung, selbst in der höchsten Ausbildung, ist hier nur noch ein Zwischenzustand des handelnden Triebes. Hervorgegangen aus ihm, löst sie sich nicht von ihm ab; sie erhebt sich, ohne den Wurzelzusammenhang mit ihm zu verlieren. Jüngers Betrachtung ist unaufhörlich von allen möglichen Affekten durchpulst. Und sie erhebt sich nur, damit der Betrachter geschärfteren Sinnes zum Trieb zurückgeführt wird. Geistige Äußerung, die eine jahrhundertealte Tradition spiritualistischen Denkens hinter sich hat, dient hier dem gesteigerten Leben des Blutes. Das Bewußte dem Unbewußten. In dieser Haltung ist eine weithin verbreitete Tendenz unserer Zeit zu erkennen. Auf dem Gebiet der Dichtung und des Denkens böten sich zahlreiche Vergleiche. Am sinnfälligsten aber stellt sie sich dar an einer Erscheinung der Musik. Deshalb vielleicht, weil es das ganz und gar Eigene der Musik ist, unmittelbarster und reinster, zugleich vollständigster Ausdruck menschlichen Empfindens zu sein. So dient bei den ernsthaften Ausformungen des Jazz das Aufgebot höchst verfeinerter musikalischer Mittel, um ein Erleben, das aus den Tiefen des Blutes hervorgehoben wird, mit hellstem Bewußtsein darzustellen, aber nicht, um es für die Vorstellung zu spiritualisieren, sondern um den Hörer aufs neue der Dämonie des Unbewußten anheimzugeben.
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Im Traum erbaut das Bewußtsein eine eigene Wirklichkeit. Es unterwirft sich im Traume sich selbst. Obwohl es die Gebilde, unter denen es sich träumend zurechtfinden muß, aus eigener Kraft erschuf, sieht es sich ihnen hilfloser ausgesetzt als wach den Gebilden der Realität. Es erfährt, es empfindet – es ist imstande zu denken; doch die logischen Schlüsse, die es zu ziehen gewohnt ist, sind machtlos vor der unbekannten Ursächlichkeit, nach der die Geschehnisse der Traumwelt verlaufen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig als ein bedingungsloses Sichfügen mit einem unheroischen Mut, der, dem Mut des Tieres gleich, aus dem Willen zur nackten Selbsterhaltung erwächst. Mut heißt hier nicht mehr Einsetzen eines als Wert erkannten Lebens. Die Freiwilligkeit des Entschlusses ist ihm genommen: Mut ist hier Auflehnung vor dem Untergang.
Es ist zu einem Verständnis bedeutend, daß Jünger den Traum, der für den Menschen des Logos ein leidiges Abirren ist, als eigentlichen und wesentlichen Zustand des Geistes betrachtet. Die »Aufzeichnungen bei Tag und Nacht« sind durchsetzt von Schilderungen von Träumen und von Bemerkungen über den Traum. Danach liegt in dem Verhältnis des Bewußtseins zur Umwelt, wie es im Traume besteht, der Sinn einer Analogie, an der das tatsächliche, durch die Selbstherrlichkeit und Eigenmacht des Geistes vertuschte Verhältnis offenbar wird. Ist die Wirklichkeit als prästabilierter Kosmos, mit aller Betörung des Scheines, nicht eine Utopie? Das Bewußtsein, das in ihr umgeht, das hat Jünger erfahren, erlebt, erlitten, hat mit einer durch und durch willkürlichen Veränderlichkeit zu rechnen. An Stelle der Beruhigung des Menschen, dem durch die Einsicht Gewißheit ward, trotz Unglück und Not aufgehoben zu sein in einer nach ewigen Gesetzen dauernden Ordnung, tritt, als Ergebnis einer anderen Erfahrung, das Gefühl einer unaufhörlichen Bedrohung. Und das Denken nimmt eine seltsame Listigkeit an. Um nicht in Verzweiflung zu stürzen, gibt es geschmeidig dem Vorstellungen zerbrechenden Andrang der Erscheinungen nach. Die Erscheinungen sind namenlos, undurchgesehen, sie werden erst hinterher nach ihrer Wirkung benannt. Nur der voreilige Idealist wird verzweifeln, jemand z. B., der den Menschen als gut konzipiert, wenn er nachträglich feststellen muß, welcher Bosheiten er sich fähig erweist. Der Träumende aber, seltsam genug, verzweifelt niemals, trotz aller Angst. Auf alles gefaßt, erwartet er nichts. Und im Zustand der schlimmsten Bedrohung bleibt ihm ein letztes Sichwappnen: er träumt, daß er träumt. »Im Traum sind Erwägungen selten, die sich nicht auf den Traum beziehen ...« Der Träumende – das ist der Mensch von heute, der wach ist. In seinem Leben werden Erwägungen immer seltener, die sich nicht auf das Leben beziehen; »... immerhin finden solche statt. Die Hoffnung des Erwachens aus seinen eigentlich ganz unmöglichen Erlebnissen ist es, deren Licht zuweilen wie ein Schimmer durch seine Maschen bricht.«
Und die Ahnung, daß »alles dies« eigentlich unmöglich ist, hat doch wohl jeder von uns schon zuweilen gehabt? Die Ahnung, daß dieses Treiben durch eine kräftigere, durch eine heroischere Bestimmung beherrscht und gerichtet werden muß?
»Erwachen und Tapferkeit, das könnte auf unseren Fahnen stehen.« Das ist Auflehnung gegen den Traum! Oder Auflehnung gegen das Leben! Doch an anderer Stelle die tiefere Einsicht: »Dies ist eins der verborgenen Blendwerke und magischen Fangnetze, über welche die Traumwelt verfügt: das Gefühl des Erwachens innerhalb des Traumes in eine scheinbar hellere und bewußtere, in Wahrheit jedoch dunklere Schicht.«
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Daß die Systeme unzulänglich, ja ungültig seien, in die ein langes rationalistisches Denken die Wirklichkeit einzuordnen versuchte, wird im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ausnahmen, zum grundlegenden Erlebnis entscheidender Geister. Das Gelehrte widersprach dem Erfühlten. Das Ineinander von Begriffen, die das Leben bestimmen sollten, war zwar höchst präzis und in sich gesichert; in Wirklichkeit aber war ihm das Leben entronnen.
Jünger gehörte zu der Jugend, die mit sechzehn Jahren auf und davon lief. »Der vielen jungen Herzen wohlbekannte Zustand der Heimatlosigkeit inmitten einer engen, durch Erziehung und bürgerliche Gewohnheiten mit mancherlei Stoffblenden künstlich verspannten Welt« war es, der ihn nach Afrika forttrieb. Sicher hat er Rimbaud, den er heute als Bruder im Geist verehrt, damals noch nicht gekannt. Rimbaud ist der erste dieser fanatischen Durchbrenner gewesen. Gide schrieb ihre Legende: In »Le Retour de l'Enfant prodigue« wird der biblische Sinn zu einer tollkühnen Deutung verrückt. Da ist der Sohn, der verloren geglaubte, zurückgekehrt in das Haus seines Vaters, nicht aus Sehnsucht, sondern aus Schwäche, aus Mutlosigkeit. Draußen brandet noch immer das gefährliche, prachtvolle Leben. Und nun ist's der jüngere Bruder, der aufbricht, müde der häuslichen Sicherheit, um sich der Flut des Lebens entgegenzustürzen. »Möge es dir gelingen, nicht wiederzukommen!« ruft der Zurückgekehrte ihm nach.
Denken und die aus ihm entstehende Einsicht in eine angebliche Ordnung der Welt, das Feststellen von Gesetzen – es ist vielleicht doch nur ein Mittel des Menschen, durch das er sein Dasein gegen die Bedrohung des Lebens feit. Er denkt, um Sicherung zu erhalten. Der Religiöse erlangt sie, indem er das Leben metaphysisch bezieht. Ihn kann es niemals bestürzen. Auch das Gräßlichste, das ihm geschieht, ist für ihn in eine Ordnung eingebunden; bestärkt ihn in seinem Glauben, demzufolge er sich noch im Untergang jenseits gesichert weiß.
Anders der Bürger. Der Bürger als Rationalist par excellence, der seine Sicherheiten im Diesseits sich schafft. Es fällt ihm nicht leicht. Da er sein Leben als einen nützlichen Vorgang betrachtet, das Leben aber an sich sowohl dienlich als auch äußerst gefährlich sein kann, darf er es nur mit Vorsicht gebrauchen. Die rationalistische Sicherung wird zum Verzicht auf die Ganzheit des Daseins. Je größer die Sicherheit, desto geringer die Anteilnahme, die der bürgerliche Mensch, im Unterschied zum religiösen, am Leben besitzt.
Ihm aber, dem unverfälschten, dem vollen und ganzen galt die Sehnsucht einer Jugend, die im Schutzpark der Utilitätsprinzipien heranwuchs. In der Wirklichkeit, die eine norddeutsche Kleinstadt umfing – in einer Turmsilhouette, unwahrscheinlich abgeschnitten durch die Mauerhöhe eines Gartens, im Nestgeruch eines alten Gebäudes, in der afrikanischen Hitze des elterlichen Gewächshauses, das der Knabe, unersättlich und früh geübt in den Sensationen der Seele, sommers zur Mittagszeit aufsucht, erschien das Leben versprechlicher als in den Grundsätzen der Erziehung und den Lehren der Schule. Die Logik der Dinge – es gibt eine solche – war stärker als die Vernunft. Die Wirklichkeit wurde erfaßt durchs Gefühl; sie reichte bis in den Traum. Das den Turmhelm umwitternde Mittelalter – es war. Und wo lag schließlich die Grenze zwischen dem Afrika des Treibhauses und dem der Fremdenlegion? Vgl. »Das abenteuerliche Herz«, Seite 25.
Dieser Mensch Ernst Jünger erlebt den Krieg. Ohne ihn hätte er vermutlich geendet als einer der unsteten Weltfahrer, die abseits der Zivilisation dem Leben nachstellten wie einem edlen, gefährlichen Wild. Denn hier tritt die Romantik entschieden aus sich heraus. Die Sehnsucht gilt nicht mehr der Abwesenheit eines Ideals, sondern erstrebt nun höchst wirkliche, kartographisch bestimmbare Ziele, und wenn sie erreicht sind, Harrar oder Biskra, überfällt den kompliziert veranlagten Abenteurer der Seele keineswegs mehr die Enttäuschung, die Lenau in Kanada fand; vielmehr packt ihn der ursprüngliche Rausch der Nähe, das Greifen, das Ansichreißen, das Niegenug, die Lust der Gefahr.
Das Erlebnis des ungesicherten Lebens, nach dem der einzelne willentlich auszog, um wieder am Zeichen des Fürchtens das blutige Leben kennenzulernen, widerfuhr durch den Weltkrieg einem Großteil der abendländischen Menschen als ein sie von außen überkommendes Schicksal, mit dem sie sich abzufinden hatten, ob sie nun zustimmten oder ihm widerstrebten. Und da der Krieg in seinen Folgen sich nur verbarg, widerfährt es uns allen noch heute. Mit unüberwindlicher Eigenmacht bricht das Leben ein in den gesicherten Bezirk des bürgerlichen Daseins, Kämpfe in ihn hineintragend, durch die seine Wirklichkeit anders wird wie nur eine Gartenlandschaft in der Champagne während des Krieges. Die Sicherungen, auch die geglaubtesten: Geld und Besitz, sind zertrümmert, Werte zeigen sich nichtig. Vor diesem unabhängig von Sinn oder Unsinn vonstatten gehenden Geschehen wird das Menschliche, auch das Verehrungswürdigste, gestehen wir es uns ein, unwichtig wie die Kornähre, die durch einen Zufall rührend und schön in der Wüste eines Granattrichters wächst. Das gewohnte Verhältnis von Erde und Ähre findet sich seltsam gestört. Was der Landschaft geschah: die Veränderung, ist wichtiger als ihr Vermögen. Die Wirklichkeit der Materialschlacht hat für den Einzelnen, der in ihr lebt, mit der heimtückischen Wirklichkeit des Traumes eine schreckhafte Ähnlichkeit. Vor ihrer Übermacht ist er ein Nichts. Er wurzelt nicht mehr sicher und fraglos in ihr. Wenn er noch da ist, so hat er es jeden Augenblick dem Zufall zu danken, der ihn in dieser Fremde beließ. Diese Wirklichkeit verbirgt vor ihm alles an Sinn und Zusammenhang, ja, sie bedrängt, überstürzt ihn mit einer Gewalt, daß ihm jeder Gedanke zu einer Besinnung abhanden kommt. Im Zustand der höchsten Daseinsbedrohung, in dem sich heute der Mensch schon, der ums tägliche Brot ringt, befindet, muß für ihn jeder Gedanke, der sich nicht unmittelbar auf Schutz und Hilfe bezieht, seine innere Realität verlieren.
Wiederum könnte es allein der Gläubige sein, der auch die unerklärlichsten Konstellationen dieser Welt gelassenen Mutes ertrüge, indem er ihr den jenseits gewußten Sinn unterlegt. Der »Träumende« aber vermag nicht zu glauben. Diese Fähigkeit mangelt seinem psychischen Zustand. Wie nun, wenn der Mensch, unentrinnbar einbezogen in die magisch bewegte Welt der Materialschlacht, sich fühlt, als würde ihm träumen? Wenn dieses Lebensgefühl ihn auch nicht später verläßt? Wenn seine Wirklichkeit, die des Kurfürstendamms wie die Dalmatiens oder Siziliens, von wo aus er den »Brief an den Mann im Mond« schreibt, ihm weiter als ein magisch bewegter, unerklärbarer Andrang erscheint, gegen den er sich blindlings zu wehren hat? Da ihm eher geschieht, als daß er noch willentlich handelt?
In diesem überäußerten Zustand des Lebens ist auch der Grund zu sehen, warum das Erleben des Weltkrieges nicht, wie es eigentlich zu erwarten stand, den christlichen Glauben aufs neue erweckte. Solchem Geschehen konnte nicht mehr die Bezogenheit auf die Person eines höheren Wesens (das die Summe der Liebe sein sollte) zugedacht werden. Dazu kam es über den Einzelnen allzu unmittelbar. Es versetzte sein Bewußtsein in den Zustand des Traumes. Die Besinnung, falls es dazu kam: das Träumen des Träumens, führte eher zu einer dumpf fatalistischen Auffassung, wie sie in dem überwuchernden Sektierertum der Nachkriegszeit vielfältigen Ausdruck fand, als zu der bewußten, »wachen« Zuversicht des christlichen Glaubens. Der Mensch stand der Wirklichkeit dieses Krieges ohne Gewißheit gegenüber. Sie zerstörte sie, falls er sie hatte. Sie ließ sich nicht einfangen in einen ihr angetragenen Sinn. Der Mensch erlebte sie sinn-los. Erst nach dem Erleben erhob sich ein neues, vielleicht nicht mehr beantwortbares Wozu. Besaß es irgend noch Sinn, so war er im Dunkeln verborgen. Die zu Anfang des Krieges noch glaubten, zum Nutzen des Vaterlandes zu kämpfen, erlebten, wie der Kampf in der Endlosigkeit der Schützengräben und Tage zu einer neuen Lebensform wurde, vor der dieser letzte Glaube einer materialistischen Zeit eine leere Worthülse ward. Vaterland, Ehre, Pflicht: »Wenn jetzt«, schreibt Jünger, »gerade jetzt, wo uns die Granateinschläge wie ein Wald von feurigen Palmen umgeben, jemand uns die Worte zurufen wollte, so würde er nur einen wilden Fluch zur Antwort bekommen. Hier ist kein Raum für Begeisterung, und, ja, das muß wohl gesagt werden, hier findet eine Arbeit statt, die fast bewußtlos geleistet wird ...«
*
Als Stoßtruppführer an der Westfront, ausgezeichnet mit dem Pour le mérite, hat Jünger die Wirklichkeit des Krieges in ihrer äußersten Traumstärke erlebt. Er vollbrachte in ihr die schwierigsten und kühnsten Taten. Eine seltsame Witterung für Stunden und Dinge unterstützte einen Mut, der sagenhaft war. Die Tat: eine Patrouille durch das Niemandsland hinter die feindlichen Linien, der Handstreich auf ein Maschinengewehrnest, erfolgte aus dem sorgfältigen Abwarten der Intuition. Der Befehl, berichtet mündlich ein Frontkamerad, war gegeben. Jünger saß in sich versunken im Unterstand, wartete, schrieb; blätterte in einem Buch; plötzlich konnte er aufstehen, rief seine Leute zusammen, die ihm blindlings ergeben waren, und führte den Auftrag durch. Wurde die Unternehmung auf Befehl von oben vorzeitig durchgesetzt, ging sie gewöhnlich schief.
In zwei Erinnerungsbüchern gab Jünger Bericht über seine Erlebnisse. Das erste, »In Stahlgewittern«, das in einzelnen Kapiteln den Verlauf von vier ununterbrochen erfüllten Jahren schildert, ist noch eher eine Chronik des kriegerischen Geschehens als schon eine Darstellung der spezifischen Kriegswirklichkeit. Die Gestaltung dieser, in höherem, ja künstlerischem Sinn gibt erst das andere Kriegsbuch, »Das Wäldchen 125«. Jünger beschrieb da in Form von Tagebuchaufzeichnungen das Leben, das er und seine Truppe während einiger Monate an einem winzigen, für das Gesamtgeschehen ganz unbedeutenden Frontabschnitt führten. Der Ort »besaß nicht einmal strategischen Wert, und doch war es damals ein Ort von europäischer Bedeutung, ein örtliches Symbol der Macht, in dem sich viele Linien des Schicksals schnitten, und gegen das Kräfte von Menschen und Maschinen in Bewegung gesetzt wurden, mit denen man eine ganze Provinz hätte urbar machen können«.
Dieser Ort und diese paar Monate werden zum Angelpunkt einer Betrachtung, die über den Einzelfall ins Allgemeine hinausführt. Sie zeigt die neue Wirklichkeit, die um den Menschen herum sich erhebt, und versucht sie zu deuten; sie zeigt die Veränderung, die in der menschlichen Natur unter ihrem Eindruck entsteht. Denn was hier Jünger erlebt: die absolute Bedrohung des Daseins, ist nicht mehr das Außerordentliche, wie es sich sonst unter den gesteigerten Umständen des ausgenommenen Augenblicks einmal oder ein paarmal im Verlauf eines Menschenlebens vollzieht: es ist nun ein Zustand, in dem man sich einrichten muß.
Von ihm aus sucht Jünger das neue Weltbild zu fassen. Die Wirklichkeit, die in ihren Grundlagen (anscheinend?) veränderte, ist es, die es selbst im Erlebenden bildet. Er braucht es sich nur ins Bewußtsein zu heben. Die Festigkeit der Begriffe wird dabei notwendigerweise zerfließen. Indem das Bewußtsein sich Rechenschaft gibt, indem es begreift, indem es Erfahrenes festlegt, geraten die Begriffe, ebenso wie ihre Stellungen zueinander, in die Veränderlichkeit des Gefühls und werden der Vieldeutigkeit des Erlebnisses entsprechend oder je ihrer Anwendung nach, mit verschieden empfundenen Gehalten erfüllt. Jünger gebraucht in seinen Schriften zuweilen die gleichen Begriffe in einem geradezu ausschließenden Nebeneinander. Je nach dem einzelnen Erlebnis, das unmittelbar oder auf dem Umweg über die Erinnerung ein und demselben Begriff zugrunde liegt, ist er Idealist, Nihilist oder Mystiker. Krieg, zum Beispiel, ist erstens ein Vorgang, der sich im Dienst einer bestimmten Idee vollzieht. Als Jünger 1914 an die Front kam, im Herzen und auf der Lippe den begeisterungsträchtigen Feldruf Vaterland, war der Krieg in einem noch »wachen« Bewußtsein als etwas Gerechtes sinnvoll bezogen. Noch im »Wäldchen 125« heißt es: »Die Gliederung aller Deutschen in das große Hundertmillionenreich der Zukunft, das ist ein Ziel, für das es sich wohl zu sterben und jeden Widerstand niederzuschlagen lohnt.« – Zweitens dann ist Krieg der nackte Kampf des einen gegen den anderen; er wird betrachtet als eine Äußerung des Lebens an sich, als ein Naturgesetz, dem das Wort Vaterland nur als ein Vorwand dient, um die Gegner, die sich bekämpfen, zu größeren Einheiten zu ballen. »Weil wir Menschen sind, wird immer wieder der Augenblick kommen, wo wir übereinander herfallen müssen. Anlässe (!) und Mittel des Kampfes werden sich ändern, der Kampf selbst aber ist eine von vornherein gegebene Lebensform, er wird immer derselbe bleiben.« (»Der Kampf als inneres Erlebnis.«) – Drittens endlich wird Krieg zu einem rein »träumerischen« Begriff. Danach wirkt in ihm eine dämonische Macht, die, der Einsicht entzogen und nur erfühlbar, bald höhere Vernunft, bald Wille zur Macht, bald Gottheit, bald Weltgeist, bald ewige Bewegung genannt wird.
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Die Deutung zerfällt in Widersprüche, die Feststellungen aber sind richtig. Jünger hat die grundlegenden Veränderungen, die sich in der Wirklichkeit des heutigen Menschen vollzogen, mit ungewöhnlicher Schärfe gezeigt. Zunächst die Totalität des Krieges. Es lag auf der Hand, daß noch niemals in der Geschichte ein Volk in einem Krieg bis in seine letzten Kräfte so vollständig und systematisch mobil gemacht worden war wie das deutsche von 14 bis 18. Wesentlich aber ist die Feststellung Jüngers, daß es diesem Vorgang nicht mehr als oberste Absicht voranstehen konnte, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern daß er als ein Vorsichgehen an sich, als ein bisher ungeahntes Sichumsetzen von Leben in Energie zu betrachten ist. Daß ferner die Tatsachen Sieg oder Verlust von durchaus sekundärer Bedeutung blieben, daß der Weltkrieg nicht eine »Summe von Nationalkriegen« war, sondern ein »umfassender Werkvorgang, bei dem die Nation in der Rolle der Arbeitsgröße erschien«. Daß vor allem diese Mobilisation in allen Ländern ununterbrochen fortdauert, daß auch der Zustand des Friedens heute »Rüstungscharakter« gewonnen hat und zu dem Zustand des Krieges nicht mehr in Gegensatz steht, sondern nur den schwächeren Ausdruck eines Vorgangs darstellt, den Jünger als Arbeitsvorgang bezeichnet, und der im Krieg zur äußersten Steigerung kommt. Zwei Faktoren spielen dabei eine ausschlaggebende Rolle: erstens die Technik, die die Aktionsmittel des Menschen ins Ungeahnte vermehrt und deren Aufkommen und Entwicklung diesen totalen Arbeitsvorgang überhaupt erst ermöglicht; zweitens die durch die Technik aufgezüchtete Masse, die wiederum durch die Technik selbst, wenn sich deren Herrschaftsanspruch erst vollends erfüllt hat, aus dem amorphen Gebilde, das sie ursprünglich ist, in eine durchdisziplinierte Gesamtheit verwandelt wird. Die Technik ist das Instrument, die organisierte Masse der Träger dieses Arbeitsvorganges.
Wo aber in diesem Getriebe steht nun der Mensch? Adam, dessen Seele dem Teufel lange Zeit wichtig genug war, so daß er die ganze Welt in Bewegung setzte, um sie für sich zu gewinnen? Wo steht hier der traurige Windmühlenritter, oder Hans und Grete – wo der von Jünger gepriesene Volksschullehrer, »der alte Scherben und römische Denare sammelt, ... der kleine Kaufmann, der plötzlich sein Geschäft im Stiche läßt und Griechisch lernt, um besser über den Syllogismus grübeln zu können«? Wo steht der Erzmensch, dessen höchst persönliches Schicksal einst den Gang einer Welt bestimmte und der sie um Haaresschärfe vor ihrem Verhängnis bewahrt hätte: Alkibiades? Wo endlich steht in diesem Getriebe Ernst Jünger, der an der Front, während eines Artillerieeinsatzes, das Buch zu lesen beginnt, das eigentlich nur für einen einzigen Menschen, für den jeweiligen Leser nämlich geschrieben ist, den Tristram Shandy – und damit fortfährt, als er mit einer Verwundung fiebernd im Lazarett liegt?
Nicht nur hat der Weltkrieg den Einzelnen auf unglaubliche Weise neutralisiert und gezeigt, daß er selbst bei höchstem persönlichen Wert ein durchaus ersetzbarer Gegenstand ist, sondern im tiefsten Grunde war der Weltkrieg, wie Jünger meint, ein Krieg des Krieges gegen den Einzelnen selbst. Der Einzelne war sein gefährlichster Feind, und er ist unterlegen. Im »Arbeiter« weist Jünger die Unhaltbarkeit der Stellung, in der er sich angesichts dieses überpersönlichen Vorgangs befindet, mit nicht zu widerlegender Sicherheit nach. Er selbst nimmt sich davon nicht aus. Mit dem »Arbeiter« fällt er das Todesurteil über seine eigene individuelle Existenz. Schöner, milder gesagt: der Einzelmensch Jünger mit seiner äußerst aparten und sehr geräumigen Eigenart unterwirft sich mit der Haltung des Opferns einem Geschehen, dessen Notwendigkeit er nicht nur nicht leugnet, sondern billigt, ja geradezu preist.
Jünger glaubt nicht an die Unveränderlichkeit einer Wesenssubstanz, die im Menschen naturaliter angelegt sei und in der sein Eigentlichstes beruhe. Der Einzelne ist für Jünger eine Erscheinung des Liberalismus, die heute, nach einem Zeitraum der Vorherrschaft, in einer veränderten Welt in der Endphase ihres Untergangs steht. Seine Auffassungen sind extrem dynamistisch: ein unaufhörliches Fließen des Lebens bemächtige sich der Welt und des Menschen und verändere sie in ihrem Wesen, ohne einem mindestens statischen Widerstand zu begegnen, vor dem es etwa abprallen müßte. Soweit das Statische gleichwohl in dem allgemeinen Aufruhr unserer Zeit sporadisch noch zu beobachten ist, bezeichnet es Jünger als ruinöse Relikte abgestorbener Formen. Wenn auch jene eigenartige Einsicht, die der Historismus des 19. Jahrhunderts gewann, die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur durch den Hinweis auf das veränderlich Wesensmäßige der historischen Entwicklungsformen erheblich eingeschränkt hat, so blieb dabei immerhin die Annahme von einer gleichbleibenden Grundanlage des Menschen gewahrt. Jünger aber stellt fest, daß Bewegung und Veränderung sehr wohl auch diese Grundanlage ergriffen; die Erscheinung des Menschen werde ausschließlich von den Einflüssen seines Lebensraumes und seiner Zeit bestimmt. Entscheidend ist nun, daß der Mensch sich dessen durchaus bewußt ist. Man halte sich das in seinem Bedeutungsumfang vor Augen: eine merkwürdige Bewußtseinsspaltung findet hier statt, die vielleicht tatsächlich eine Veränderung des menschlichen Geistes bewirkt, ähnlich der, die einmal eingetreten ist, als der Mensch den Übergang vom unbewußten Dasein ins bewußte vollzog. Die Naivität des Menschseins wird aufgehoben. Der »antike Mensch« oder der »gotische Mensch«, dessen Wesen wir heute historisch erfassen, hat sich gewiß nicht antik oder gotisch gefühlt. Er lebte naiv in dem Glauben, in seinem Hier und Jetzt der unveränderliche, ewig gleiche Mensch zu sein. Wir aber sind bereits imstande, unsere Gegenwart in ihrer historischen Bedingtheit zu spiegeln.
Das dem Historismus innewohnende Prinzip der menschlichen Entwicklung erhält bei Jünger als Dynamismus Selbständigkeit. Wenn er auch die Entwicklung des Menschen nicht im Sinne der Fortschrittsideologie als eine ständig weiterschreitende Vervollkommnung sieht, so gibt er doch dem Entwicklungsstadium, in dem sich heute der Mensch befindet, gegenüber dem Entwicklungsstadium des Bürgers entschieden den Vorrang. Er beschreibt mit allen Mitteln der historischen Analyse sowohl dieses als jenes. Solange er betrachtet, zieht er sich gleichsam aus dem Erleben der Zeit auf einen zeit- und raumlosen Ort zurück. Er ist nicht nur ein zeitgenössischer Historiograph, der Tatsachen schildert, nach denen ein später Historiker Formulierungen faßt, sondern er selbst versucht die Gegenwart, die er wahrnimmt, zu deuten.
Im »Arbeiter – Herrschaft und Gestalt« wird der Mensch unserer Zeit in seiner Typik umschrieben. Jünger nennt ihn den Arbeiter. In Wirklichkeit freilich ist dieser Arbeiter ebensowenig greifbar realisiert wie der antike Mensch in der Antike. Er ist ein Begriff, insofern als er an einer Summe von einzelnen Erscheinungen das ihnen Gemeinsame umgreift; eine Idee, die als ein vollkommenes Bild sich mit keiner Erscheinung der Wirklichkeit vollkommen deckt. Jünger nennt den Arbeiter eine Gestalt und versteht darunter »ein Ganzes, das mehr als die Summe seiner Teile umfaßt«.
Wirksam wird diese Gestalt durch die alles beherrschende Macht der Technik. Die Technik »ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert«. Sie ist »keineswegs eine neutrale Macht, kein Reservoir von wirksamen oder bequemen Mitteln, aus denen Jeder beliebige der überkommenen Kräfte nach Gutdünken zu schöpfen vermag«, die Anwendung der technischen Mittel zieht »einen ganz bestimmten Lebensstil nach sich, der sich sowohl auf die großen wie auf die kleinen Dinge des Lebens erstreckt«. Der Mensch in seinem Verhältnis zur Technik ist weder der »Schöpfer eines ununterbrochenen Fortschrittes, der künstlichen Paradiesen entgegeneilt«, noch erscheint er als der unbedachte »Zauberlehrling, der Kräfte beschwört, deren Wirkungen er nicht gewachsen ist«, sondern er stellt das Medium dar, durch das eine Technik an sich ihren Herrschaftsanspruch verwirklicht.
Die Technik entwickelt sich nicht ins Unendliche fort. Ihre Entwicklung naht einem sehr bestimmten Ziel. Sie ist abgeschlossen, sobald die Technik ihren Herrschaftsanspruch im gesamten Lebensbereich restlos erfüllt hat. »Die Perfektion der Technik ist nichts anderes als eines der Kennzeichen für den Abschluß der totalen Mobilmachung, in der wir begriffen sind. Sie vermag wohl das Leben auf eine höhere Stufe der Organisation zu erheben, nicht aber, wie der Fortschritt glaubte, auf eine höhere Stufe des Wertes. In ihr deutet sich an die Ablösung eines dynamischen und revolutionären Raumes durch einen statischen und höchst geordneten Raum.« Nachdem aber Jünger die ganze Entwicklung des Menschen durch die Geschichte hindurch als ein unumstößliches Lebensgesetz betrachtet, begeht er, indem er dieser neuen Ordnung nun die Stetigkeit zuspricht, eine bemerkenswerte Inkonsequenz. Bewegung als oberstes Gesetz bleibt immer noch anerkannt. Aber ihr ursprünglich organisch gefaßter Charakter wird plötzlich mechanisch gesehen. Es ist, vergleichsweise, als sei das Gewinde, auf dem das Leben sich bisher vorangeschraubt hat, plötzlich an eine tote Stelle geraten, da seine Bewegung, ohne noch vorwärts zu kommen, sich unablässig im Kreise vollzieht. Es ist, als kehre der Mensch nach einer jahrtausendelangen Entwicklung an einem anderen Ende wieder ins geschichtslose Dasein zurück – als erhalte gerade in diesem Ende sein geschichtliches Leben den Sinn und das Ziel. Zwischen der ausschließlichen Existenzkampfbedingtheit des Neandertalers und dem totalen Arbeitscharakter des technischen Menschen ließen sich leicht Parallelen ziehen. Unterschieden ist nur die Form der Erscheinung. An Stelle einer den Menschen unterwerfenden Natur tritt nun die präziser unterwerfende Herrschaft der Technik. Dem tierischen Gattungsbewußtsein entspricht nun bei gleicher Personlosigkeit das Bewußtsein des Typs. Hat der Einzelne dort nur Bedeutung, indem er die Gattung vertritt und erhält, so besitzt er sie hier bloß in dem Maße, in dem die Gestalt des Arbeiters in ihm zur Verkörperung kommt.
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Dies kann nur Andeutung sein. Die eigentliche Analyse von Jüngers Denkergebnissen, wie sie im Plan dieses Aufsatzes vorgesehen war, mit der Absicht, dabei der nächtlichen, gleichmütig kühlen, nur von einer unwillkürlichen Traurigkeit durchzogenen Betrachtungsweise des Mannes im Mond, bevor sein goldener Wohnort wieder einmal der Abnahme zugeht, zu folgen, stünde nunmehr bevor. Doch je tiefer wir uns mit einer solchen befassen, desto unmöglicher will sie erscheinen. Es hieße, eine in unablässiger Bewegung befindliche Welt in einem bestimmten Augenblick zu photographieren und aus dem Zueinander der Elemente, das eine solche Aufnahme herzeigt, auf die Endgültigkeit ihrer Lage schließen zu wollen. Auseinandergesetzt werden kann nur das Unbewegliche. Wie beweglich aber die Elemente der Jüngerschen Begriffswelt sind, beweglich nicht nur in ihren Stellungen zueinander im geistigen Raum, sondern auch am Körper ihrer Bedeutung, haben wir anläßlich der verschiedenen Sinngehalte von »Krieg« gezeigt. Den Gedanken in Jüngers Schriften kommt nicht die Endgültigkeit geistiger Verfestigung zu. Das Denken geht als ein unaufhörlicher Vorgang durch sie hindurch. Eine Analyse, die einen seiner veränderlichen Aufenthaltspunkte festlegen wollte, würde fälschende Vereinfachung sein, der eine zweite, anderswo eingesetzte als ein genauer Widerspruch entgegenstünde. Ein Analysierender mag sich mit der Aufnahme eines einzelnen Tatbestandes begnügen: dem Nihilismus Ernst Jüngers. Er findet dafür genügend Belege. Wenn er dann feststellt, daß Jünger an anderer Stelle sich als heroischen Realisten bezeichnet und damit in gewisser Hinsicht recht hat; wenn er ferner auf hintergründige Seiten stößt, die die Anschauung einer ekstatischen Seele diktierte, so mag er sich von diesem Gegenstand, ungemut über seine Vieldeutigkeit, abkehren und ihn entrüstet der Sinnlosigkeit zeihen. Tatsächlich aber liegt die Schwierigkeit nicht nur in der Sache, sondern im Wesen der Analyse selbst. Sie könnte nur beginnen unter der Annahme eines unverrückbaren Verhaltes, auf welchen Jünger entschlossen verzichtet hat. Der Widerspruch tötet den Widerspruch, und gar der Widerspruch des Widerspruches würde den Aufbau einer Gliederung vollends zersprengen.
Gleichwohl aber erweist sich, daß zwischen dem Widersprüchlichen ein Immernoch an Erscheinungen übrigbleibt. Zwar vermögen Begriffsbestimmungen nicht mehr, es in sich zu fassen. Umfang und Form aber können von den Rändern der Widersprüche aus wie ein unbekanntes Gelände aufs Ungefähr wenigstens abgeschätzt werden. So, als ein Ungefähr, tritt Jüngers Menschenbild auf.
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Der Arbeiter, der Einzelne, durch den die »Gestalt« erscheint, erfüllt deren Anspruch, ob er ihr zustimmt oder sich sträubt. Seine Freiheit beruht in der Anerkennung des Zwanges. Er dient mit dem uneingeschränkten Einsatz seiner Person. Er herrscht durch die Vollständigkeit, mit der er sich unterwirft. Jeder Vorbehalt würde sein Maß an Herrschaft vermindern. In dem, der bis zum Letzten sich opfert, findet die Herrschaft ihr stärkstes Bewußtsein. Das Ganze regiert. Aber das Ganze an sich, die »Gestalt« kann nicht darum wissen. Es ist nicht ein Jemand, der herrscht; es wird geherrscht, am stärksten, am mächtigsten, wenn alle aufs äußerste dienen. Der Mensch ist ein Arbeiter, auch wenn er Vergnügen sucht, wenn er sich ausruht, wenn er Nahrung aufnimmt, wenn er zeugt, wenn er schläft, wenn er stirbt. Als Einzelner ist er ein Nichts, als Teil des Gesamten alles. In seinem Lebensbereich ist er weniger als ein Tier, in seinem Denkbereich verfällt er der Hybris.
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Jünger beschreibt das Bild einer Wirklichkeit – eines Raumes, wie er sagt, dessen Ordnung aus den noch chaotisch zerstreuten Elementen des unsrigen erschlossen wird, indem sie der Betrachter auf die Möglichkeiten ihrer Zukunftsbedeutung hin prüft. Der »Arbeiter« ist kein System, das etwa eine Stellungsnahme nebst anschließender Widerlegung erwartet, sondern eine Prophezeiung, die zunächst überraschend wahrscheinlich klingt und deren Richtigkeit man vorerst nur abwarten kann. Jünger umreißt das Bild einer künftigen Welt nach ihrer Ordnung und ihrem Gesetz. Ihren Sinn bleibt er schuldig. Dadurch erhält sein Denken einen unerträglichen Zug von Verzweiflung. Es ist ein Denken, dem die Herkunft aus der Sicherheit fehlt, ein frei schwebendes Denken, abgelöst vom Muttergestein der Voraussetzung. Zugleich mit dem Sinngehalt, den die rationalistischen Ideologien in das Dasein des Menschen hineinpraktizierten, und der durch das Erleben des Wirklichen als schöne Lüge enthüllt wird, ist auch die Glaubwürdigkeit der Axiome prinzipiell in Frage gestellt.
Der Mensch sei gut von Natur. Nach dieser Annahme, die eine Übereinkunft der Geister gemeinsam gebilligt hat, konnte Rousseau bequem den Sinn seiner Weltordnung künden. Heute wird sich niemand mehr finden, der auf irgendeinen Ableger des vernünftelnden Paradieses noch eine ernstliche Hoffnung setzt. Der Contrat social lohnt kaum noch die Mühe eines Angriffs. Die Gegner mögen sich streiten, die Idealisten mit den Materialisten. Es sind die Axiome, für die man von vornherein nicht mehr Partei ergreift. Der Sinn, der angepriesene, der leidenschaftlich verfochtene, der verzweifelt gesuchte, ist das Ergebnis eines mehr oder weniger schwierigen Denkprozesses, der aus dem Entscheid einer uranfänglichen Annahme hervorgeht. Dieser Entscheid, in dem der Sinn schon eingeschlossen liegt, wie das Quod erat demonstrandum im Angenommen – das des mathematischen Beweises, wird nicht mehr gewagt, weil die Übermacht des Erlebens den Mut des Bewußtseins lähmt. Die Zeit ist vorüber, da der Mensch das Leben nach einem vorgefaßten Gedanken noch einzurichten vermochte. Das Leben ist stärker. Es zerschlägt die Eigenmächtigkeit des Denkens. Es erlaubt keine Annahmen mehr; es erlaubt nur noch Feststellungen über ein nacktes, widersprüchliches An-sich.
Dieses aber ist sinnlos. Der Geist, der das Leben oder irgendein anderes Ding betrachtet als das, was es ist, vermag keinen Sinn in ihm zu entdecken. Der Sinn liegt außerhalb. Um ihn zu finden, muß die Betrachtung ihren Gegenstand irgendwohin in Bezug setzen. Der Mensch, der um sein Tun sich fragt, erfährt dessen Sinn im fertigen Werk; den Sinn des Werkes in seinem Zweck; den Sinn des Zweckes im Stand einer Ordnung. Dann aber wird die Physik überschritten: der Sinn der Ordnung kann nur noch auf ein unerklärlich Geglaubtes bezogen sein. Und allein die Annahme eines sich offenbarenden Gottes ermöglicht ein Denken, das in seinen letzten und abgetriebensten Auszweigungen und Enden der Einigkeit eines Sinnes begegnet. Ist dieser Uranfang aber verloren, so kann der Sinn, an welche Stelle er nun auch verlegt wird, als unbegründet sogleich dahingestellt werden. Der Zweifel, einmal entstanden, führt von Stufe zu Stufe hinab, bis es fragwürdig scheint, ob das Werk noch der Sinn der Arbeit sei; bis der Sinn im Sinnlosen selbst liegt.
Wenn aber erst die einzige Möglichkeit aufgegeben ist, durch die ein unangreifbarer Sinn erkannt werden kann, so hat dieses letzte Stadium des Denkens vor allen anderen zumindest den Vorzug der ehrlichen, unerbittlichen Konsequenz. Es bleibt da nicht aus, daß das Denken aufsteht gegen sich selbst. Der Atheist ist gerettet, denn er glaubt, daß er nicht glaubt. Er hat bei irgendeiner Idee den Sinn seiner Welt aufs Trockene gebracht. Und gar glücklich zu schätzen ist der russische Gottesleugner, der jedesmal, wenn ihm ein Mißgeschick zustieß, mit der Pistole auf ein Muttergottesbild schoß, das er heimlich an der Innenwand eines Schrankes angebracht hatte. Es gibt aber bereits eine Ohnmacht des Denkens, vor der ein Mensch, der polternd den Atheismus verteidigt, in einem höchst lächerlichen Lichte erscheint, während das Sprechen eines wahrhaft Gläubigen Neid und Sehnsucht erweckt. Die Einwände, mit denen die Vernunft der Aufklärung das Irrationale der Lächerlichkeit preiszugeben glaubte, haben sich längst als Albernheiten erwiesen. Ein ehrlicher Nihilist ist sich der Zweischneidigkeit des Zweifels bewußt. Er bezweifelt schließlich den Zweifel. Im Zustand dieser Verzweiflung aber unterliegt das Denken dem Leben.
Es wäre nicht unbegründet, der geistigen Haltung Ernst Jüngers den Vorwurf der Schwäche zu machen. Das Denken ist schließlich ein Mittel, um dem Leben einen Sinn zu verleihen. Ohne ihn kann der Mensch, der unablässig vom Stachel der Frage gequält ist, nicht existieren. Das Denken ist seine Gefahr. Es ist imstande, alles, zuletzt ihn selbst, in seiner Bedeutsamkeit aufzuheben. Es ist aber auch seine sicherste Hilfe, indem es das Auffinden eines Sinnes erlaubt. Immer wieder gab es den Glauben, der, um den Sinn zu erhalten, die Berge des Wirklichen angriff und sie nach seinen Maßen versetzte. Im Denken ruht die Kraft, die Wirklichkeit umzuformen und zu gestalten. Wie der Mensch sie sieht, ist wichtiger als wie sie ist. Ihr Gesetz ist unmenschlich. Um sie zu ertragen, muß ihr der Mensch sein eigenes auferlegen. Das ptolemäische Weltsystem, das aus einer anthropozentrischen Einsicht des Geistes hervorging, war darum sinnvoller als das des Kopernikus, das durch ein voraussetzungsloses Beobachten »entdeckt« worden ist. Der Domherr aus Thorn hat dem Menschen das Wirkliche in seiner Unbegreiflichkeit geoffenbart. Der Boden, auf dem der Mensch sich plötzlich stehen sah, lag ortlos in einem unmenschlichen, unausdenkbaren Raum. Der Streit, den die kopernikanische Lehre heraufbeschwor, ging nicht um Wahrheit und Irrtum, sondern um Sinn oder Sinnlosigkeit, um Beruhigung oder Unruhe, um Zuversicht oder Verzweiflung. Die Kirche wußte nach ihrer gründlichen Kenntnis der menschlichen Natur, wieviel die Kraft des menschlichen Geistes vermochte. Der Geist, der das Bild des Wirklichen unverhüllt ansieht, büßt es mit seinem Untergang; es schaut ihn an mit basiliskischem Blick.
Jüngers Betrachtungsweise ist in gewisser Hinsicht kopernikanisch. Er beobachtet Erscheinungen und schließt auf ihren Zusammenhang, ohne Rücksicht auf den Menschen, der denkt und um dessentwillen gedacht werden sollte. Jünger gelangt zu der Einsicht einer Ordnung, in der das Geschehen sich unbekümmert um den Menschen vollzieht. (Ist diese Ordnung die absolut wirkliche? Ist ihre Objektivität nicht doch nur eine Spiegelung des Subjekts? – Nein, diese Ordnung ist das Wirkliche an sich. – Wo aber sind die Wirklichkeiten von Freiheit, von Unrecht und Recht, von Güte und Liebe? – Jünger erlebt sie nicht; er findet, sie seien nicht tatsächlich wirksam. – Also ist nur wirklich, was wirksam ist? Wie vieles kann dann wirklich sein, von dem man nie etwas erfährt! Gibt es eine Erkenntnis, die nicht menschlich, die nicht subjektiv ist?)
Die Möglichkeit einer entscheidenden Einflußnahme des Menschen wird um so eher verneint, als Jünger, was nicht zu bestreiten ist, dartut, daß ein Gegner diese Ordnung, die er feststellt, zwar ablehnen kann, aber nicht imstande ist, an ihrer Stelle das Wirken einer anderen nachzuweisen. Das Augenscheinliche spricht für sie, und das Denken, das einst der Wirklichkeit gebot, zu sein, wie der Mensch sie ertrug, scheint seine Macht verloren zu haben.
Dennoch kann der Mensch, der einmal des Selbstbewußtseins teilhaftig geworden ist, nicht umhin, nach dem Sinn seines Daseins zu fragen. So sehr auch Jünger einerseits die heroische Haltung hervorkehrt, die das Leben besteht, obwohl es als sinnlos erkannt worden ist; anderseits wieder ist dieses Leben zu grausam, als daß es selbst ein äußerster Heroismus auf die Dauer ertragen könnte. Der Mensch sitzt gefangen im Käfig seiner Natur. Wohl kommt er zuweilen in einem ekstatischen Augenblick »über sich hinaus«, doch auf die Dauer kann er nicht sich selber verlassen. Das Rechtfertigen ist ihm Natur. Während die Lust, je stärker sie ist, eine desto größere Abwesenheit des Bewußtseins zur Folge hat, entspricht es dem Schmerz, daß er, sobald er eintritt, das Bewußtsein in seinen fernsten Schlupfwinkeln findet und es unverzüglich zu einer gepeinigten Gegenwart herzwingt. Der Mensch, der fraglos die Lust genießt und geneigt ist, in ihr den Selbstzweck zu sehen, kann daher den Schmerz nicht ertragen ohne die Frage nach seinem Warum und Wozu. Der Schmerz, als ein Mahner des Todes, beunruhigt ihn in seiner Existenz. Für was soll er sterben? Und da das Sterben die Folge des Lebens ist: für was soll er leben?
Auch Jünger wird von dem Schmerz, den die betrachtete Welt in seinem Bewußtsein erweckt, zu dieser Frage gezwungen. Stufe um Stufe steigt sie die schreckliche Ordnung empor. Diese Unendlichkeit an Arbeit, die der des Sisyphos gleicht, wozu? »Man begreift, warum man in einer so instrumentalen Zeit den Staat nicht als das umfassendste Instrument, sondern als eine kultische Größe erkennen möchte, und warum die Technik und das Ethos auf eine so wunderbare Weise gleichbedeutend geworden sind.« Schließlich am Ende, zu dem das fragende, Bezug suchende Denken gelangt, steht eine seltsame Annahme. Die Annahme, von der das Denken sonst ausgeht, ist hier das Ziel. Ein Wert, heißt es, auf den der ausgestandene Schmerz zu beziehen ist, muß auch dieser Ordnung zugrunde liegen. Nur ist er noch nicht sichtbar geworden. Man muß also glauben, wie Jünger sagt, ohne den Inhalt des Glaubens zu kennen. Man muß sich einer Disziplin unterwerfen, die ihre Legimitation noch nicht erwiesen hat. »Der Blick wird vergebens nach Anhöhen suchen, die dem reinen Ordnungs- und Rüstungsvorgange überlegen und jedem Zweifel entzogen sind.« Dennoch ahnt man, »daß das Spiel zu fein und zu folgerichtig ist, um von Menschen erdacht worden zu sein«.
Die Offenbarung des Sinnes steht noch bevor. Wie wird sie erfolgen? Wohl schwerlich wird Jünger annehmen können, daß sie von außen her kommt und seinem Menschen, dem Arbeiter, dargereicht wird als der persönliche Spruch eines übermenschlichen Wesens. Also kann sie nur durch den Menschen geschehen, durch sein Denken und durch die Möglichkeiten seiner Einbildung. Er wird eines Tages dahin kommen, einen bestimmten Inhalt zu setzen, auf den er alles bezieht, und wird an ihn glauben, unverbrüchlich und fest.
Damit ist der circulus vitiosus wieder geschlossen, den der Verlauf dieses Abschnittes unter notwendigem Unterbrechen und Abschweifen nachzeichnen wollte: am Ende des Denkens muß Jünger den Glauben verheißen. »Denken«, murmelt der Mann im Mond, der dieses in seinem nächtlichen, von einer unwillkürlichen Traurigkeit durchzogenen Herzen betrachtet, »Denken, – das ist ein Erfinden.« – Nachdem er von unserer Erde verbannt worden ist, weil er unmäßig war in der Arbeit (die achte Todsünde), hat er nun draußen auf seinem Gestirn genügend Gelegenheit, um sich Gedanken zu machen. »Wenn ich mich fragen wollte«, meint er, »warum ich hier bin, auf diesem ausgedorrten, bald eisigen, bald glühenden Gebirge, so müßte ich heillos verzweifeln. Hinsichtlich eines Sinnes ist mein Dasein so hoffnungslos wie keines sonst auf der Erde. Ich könnte nirgendwohin den Sinn verlegen. Zwar sagt man, ich sei zur Strafe hier. Aber ist diese Strafe so schlimm, wie man glaubt? Seit ich es aufgegeben habe, über den Sinn meines Daseins zu grübeln, befinde ich mich ganz leidlich. Glücklicherweise benötige ich weder Nahrung, noch Kleider, noch Obdach, noch Schlaf.
»Ich sehe alles. Bloßen Auges kann ich das Weltgebäude in seinem schrecklichen Umfang und in der fürchterlichen Genauigkeit seines Getriebes erkennen. Ich finde darin eine Ordnung, die wunderbar hergestellt ist. Und ich sehe mich einbezogen in sie, klein, ganz klein, auf einem winzigen Wohnort – doch der Sinn davon bleibt mir verschlossen.
»So denke ich nur um des Denkens willen. Da ich es seit langem nicht anders mehr halte, hat sich die Fähigkeit, die die Geschichten hervorbringt, bei mir aufs höchste entwickelt. Ich denke mir aus, was in der Möglichkeit meiner Gedanken liegt, zum Spaß – aus purer Langeweile. Es braucht ja nicht so zu sein und braucht ja auch nicht so zu kommen. So stelle ich mir z. B. vor, wie da drüben auf der Erde, die gerade ihre Nachtseite herzeigt, die Technik zu immer größerer Vollmacht gelangt, und wie dabei das Tun des Menschen immer unwichtiger wird, bis es schließlich dahin kommt, daß die wenigen Funktionen, die ihm innerhalb des Ganzen noch auferlegt sind, ebensogut von einem künstlichen Menschen getan werden können. Das erst wäre die völlige Unterwerfung. Gut, sagt der Mensch, ich gebe mich auf, ich verzichte darauf, noch länger ich zu sein. Was ich in jedem Augenblick tun muß und was ich bei der Widerspenstigkeit meiner Natur doch nur unvollkommen tun kann, das tue ich jetzt ein für allemal vollkommen. Ich übertrage mein Dasein an diesen Automaten, den die Technik so herrlich erschaffen hat, und dem jener Arbeiter, der in ihrem Getriebe an führender Stelle steht, alle Befehle mit Leichtigkeit durch Strahlen oder Wellen übermitteln kann ...
»Seit ich auf dem Monde lebe, haben sich meine Ansichten gründlich geändert. Ich bin jetzt z. B. von der eingeborenen Trägheit des Menschen überzeugt. Die großen Beweger sind nur die Ausnahmen. Seit Jahrhunderten habe ich beobachten können, wie eine in Bewegung befindliche Menge von Menschen immer bewegt wird, und niemals sich selber bewegt. Und ich sehe, wie bisher noch keine Macht stark genug war, um sie dauernd in ihrer Bewegung zu halten; jedesmal fiel sie nach kurzer Zeit auf ihr Beharren wieder zurück ...
»Aber ich werde mir untreu. Ich gerate da in eine Art zu philosophieren, die den Anschein erweckt, als wolle ich recht bekommen. Recht oder unrecht: was ist das schon? – Einige, die ich nicht höre, da meine Einsamkeit mich längst des Hörens entwöhnt hat, werden mir Beifall klatschen; andere, die ich ebensowenig zu hören vermag, werden mich ausschreien. Und doch bleibt alles, wie es ist.«