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»Es gibt nur eine einzige Herrlichkeit: am Leben zu sein.« Aus dieser Einsicht, die eigentlich nichts als ein trunkenes Gefühl ist, das der mit aller Inbrunst dem Irdischen Hingegebene durch seine wachen und unersättlichen Sinne empfängt, nährt der Dichter Jean Giono sein Werk.
Geboren als Sohn eines nach dem südöstlichen Frankreich eingewanderten italienischen Schusters, lebt er, Bücher schreibend und seinen Garten bebauend, noch heute zurückgezogen in jener seltsam unmetaphysischen Landschaft der Basses Alpes, von deren Natur und Bewohnern er dichtet, fern dem französischen Literaturbetriebe, in dem er mit seinem Werk allein und abseits steht, zu groß, zu original, zu allgemeingültig, als daß es möglich wäre, ihn in die beschränkende Kategorie der Heimatdichter einzureihen. Manosque, das Städtchen, das Giono bewohnt, liegt in der Landschaft seiner Kindheit, die, von den Lüften der Côte d'azur bestrichen, schon mittelmeerisch, um aber paradiesisch und weichlich zu sein, noch zu gebirgig herb ist und die mit ungewöhnlicher Stärke und Nachhaltigkeit die Seele des jungen Giono geformt hat. Giono ist aus dem von einer schuld- und sündelosen Sinnlichkeit erwärmten, von ungebrochenem, fast vegetativem Leben erfühlten Paradiese seiner Kindheit nie vertrieben worden. Es wurde die geistige Leistung des erwachsenen Mannes, dies unversehrbare Reich als Dichtung zu befestigen, doch nicht als ein Traumland, nach dem sich ein an seiner Problematik leidender Geist romantisch zurücksehnt, sondern als ein auf Erden liegendes Dasein, von Wirklichkeit strotzend.
Giono denkt und übt die Fähigkeit des Geistes nur, um sich dieses herrlichen Besitzes bewußt zu werden, als Dichter. Um ihn zu bestätigen und zu verteidigen. Geist als Möglichkeit des Menschen, sein Begrenztsein und seinen metaphysisch bestimmten Standort zu erkennen (anstatt sich aufzulösen im grenzensprengenden Gefühl eines panischen Eros), ein Ding zu unterscheiden (anstatt es zu verzehren), Distanzen und Ordnungen zu errichten (anstatt im Einssein des Irdischen aufzugehen): darin sieht Giono Gefahr; Geist als Oberherrschaft, das bedeutet für ihn den Austritt des Menschen aus dem magischen Kreis der Natur, der alles Seiende, vom ewigen Eros Durchströmte: Mensch, Tier, Pflanze, selbst Wind, Wasser und Feuer, selbst das tote Gestein als im Wesen nicht voneinander unterschieden, als Eines, als All, als Pan umfängt.
Der Intellekt ist für Giono das Negative, das Zerstörerische, das Absurde, der bei aller Anmaßung in der von einem animalischen Eros bewegten Welt belanglos zugrunde gehen muß. Giono kennt die Tragik nicht. Giono kennt nur das Gegenteil zur Freude, die Traurigkeit. Der Sturz des Ikarus wird ihm, wie auf dem durch seine Wortkunst magisch beschworenen Bilde Brueghels, in dessen Vordergrund riesenhaft, dumpf der Pflüger steht, zu einer unbedeutenden Episode. »Da oben, mitten am Himmel, hoch über all dem anderen, was unentwegt schaffte, nicht hinschaute, nichts wußte, über all dem andern, was in vollem Leben lebte, da oben, noch hoch über allem – stürzte Ikarus. Er war, schau – nicht größer als die Spitze meines Fingernagels. Schwarz, ein Arm hier, ein Bein da, verloren, wie ein kleiner toter Affe ...«
Was Giono selbst seit seiner Kindheit immer wieder erlebte: das unpersönliche Dasein der Hirten und Bauern, das sich in seiner animalischen Sinnlichkeit von dem ihrer Tiere kaum unterscheidet, einbezogen in eine ungeheuer lebendig gefühlte Natur, in die Gezeiten des Jahres, in den besonderen Bereich dieser bald üppigen, bald kargen Landschaft der Weiden und Weinberge, wird in seiner Dichtung zur unendlichen Allegorie der unbefragten, unmetaphysisch hingenommenen Macht des Lebens. Durch sie ist alles Irdische unter sich ranglos verschwistert. Und aus dem unablässigen Aufzeigen dieser Verwandtschaften, die alle individuellen Erscheinungen einander verbinden, ergibt sich Gionos ungemein dynamische Schilderung der Natur. Die gionosche Welt ist eigentlich namenlos. Wolke, Vogel, Frucht, Pferd, das sind für ihn keine mit dem Wesen der betreffenden Dinge unlösbar verbundene Bezeichnungen, sondern nur beliebig vertauschbare Vorstellungsinhalte, Bestandteile einer sich unaufhörlich selbst fortzeugenden barocken Sprache, die dazu dient, die namenlosen Anschauungen und Gefühle, die Giono vor der Natur gewinnt, zu umschreiben. Alles ist alles; der Wind wird zum Pferd, bekommt Schultern und Hände; da gibt es trockene schöne Wintertage, die hart und rund wie Granitkiesel glitzernd in der Sonne liegen; die Kelter schreit mit dem Schrei einer Kindbetterin; die Abendwolken halten Weinlese in den gehöhlten Kufen der Talgründe; » nur die Rinde und das Horn der Kralle trennen das Blut des Vogels und des Baumes von einander«. Selbst die Grenzen von Persönlichem und Unpersönlichem zerfließen in dieser Welt der Metamorphosen des Eros. Der Mensch wird beliebig entpersönlicht, zum entmündigten Gegenstande gemacht, ja, wenn es sein muß, ins Unbestimmbare, Formlose entlassen als dumpf wirkende Kraft der Natur. Und umgekehrt wieder geschieht es, daß ein Baum, ein Fluß, der Wind Persona wird, begabt mit deren Fähigkeiten, mit Fühlen, Wollen, Denken. Doch deshalb Gionos Art mit dem leicht sich einstellenden Worte antik zu bezeichnen, wie man es immer wieder liest, ist falsch. In Gionos Welt ist der Mensch nicht das Maß der Dinge. Anderseits kann auch das Sinnliche an sich nicht als spezifisch antik betrachtet werden. Jeder Wilde personifiziert die Kräfte der Natur, ohne dadurch dem Griechischen nahe zu kommen. Im selben Sinne ist auch Gionos Weltgefühl ein primitives; ein »uranfängliches«, möchte man sagen, um den negativen Akzent, den das Fremdwort hat, zu vermeiden. Nach dem »Berg der Stummen«, da Giono für die irdische Allmacht des Eros die großartigste seiner Fabeln erfindet, erscheint die Eigenart seines Wesens in der Kindheitshistorie des »Träumers« vielleicht am vollständigsten und ungetrübtesten. Die Natur und die Fülle der Geschicke, die diese wie eine auf Befruchtung harrende Blüte angespannt offene Kindheit berühren, ohne sie zu verletzen, die in ihr, wenn sie tiefer dringen, zu kostbarem Seelengut reifen, werden auf eine Weise bewältigt, in der sich Gionos Gestaltungskraft in ihrer Vollkommenheit ausweist. Sie begnügt sich, auf die Stoffmasse blitzartige Streiflichter zu werfen. Kleine, fast bedeutungslos scheinende Punkte werden beleuchtet, wie sie der Kinderblick sieht oder der Blick dessen, der, selbst mitten im Geschehnis stehend, davon erzählt, allzu stark von ihm betroffen, um noch zusammenhängend, zusammenfassend genau von ihm berichten zu können. Meist ist es nur das sinnlichst Wahrnehmbare, ein kleines Stück Erscheinung, das Gionos konzentriertes Wort beschwört und das nun bedeutungsträchtig aufleuchtet, duftet, spürbar und hörbar wird, um sich und hinter sich eine riesige, im Dunkeln bleibende Masse an Schicksal und Geschehen, deren Umfang der geistige Blick des Lesers nur erahnend ermessen kann. Noch dem Zufälligsten gewinnt das sinnlich befühlende und zugleich durchdringende Auge des Dichters die große wesensmäßige Bedeutsamkeit ab. Er sieht das Dinghafte dieser Welt auf jene beglückende Weise, die es wieder reinigt von der trüben Alltäglichkeit, die es für ermüdete Seelen gewonnen hat; es strahlt wieder frisch und unverbraucht, es wird wieder uranfänglich und neu. Die Großartigkeit seiner dichterischen Schau hebt Gionos Idee, die als solche gewiß nicht unanfechtbar ist, stets ins Bedenkenlose. Wenn aber das Gedankliche, wie in seinem letzten Buch, im »Lied der Welt« (wie die übrigen Bücher erschienen im S. Fischer Verlag, Berlin), auf einen durchgehenden Nenner gebracht wird, so verliert das Beste an Gionos Wesen, der »Zähler«, das Dichterische, an Wert. Es versteht sich, daß Giono es sich in seiner Eigenschaft als Dichter erlauben darf, das Menschliche rein sinnlich zu betrachten und zu gestalten; es wird dann eben eine Beschränktheit im Ideellen vorhanden sein, die den Leser, den die Fülle der dichterischen Kraft in Bann schlägt, nicht weiter beunruhigt. Es muß sich aber zeigen, daß aus dem abstrakt gefaßten Begriff des Triebes (wie überhaupt aus einer Abstraktion) kein wahrhaft lebendiges Menschenbild zu entwickeln ist.
Im »Lied der Welt« begnügt sich Giono nicht, wie wir es bisher an ihm kannten, absichtslosen Ausdruck zu finden für das, was er schaut und fühlt. Er interpretiert diesmal, von Absichten geleitet, die außerhalb des Dichterischen liegen. Die Menschen, die er hier schildert, beruhen deshalb nicht in dem reinen Dasein, das durch sich selbst überzeugt; sie wurden von Anfang an als Ideale konzipiert, als Gionos Idealmenschen, nicht von der Erscheinung her, nicht sinnlich von außen gesehen (was Gionos Stärke und Eigenart ist), sondern als gedankliche Abstraktionen.
Vielleicht darf gesagt werden, daß Gionos dichterische Gestaltungskraft, um ihre höchste Stärke zu erreichen, der Befruchtung durch die Wirklichkeit bedarf. Das ließe sich aus seiner Sinnlichkeit durchaus erklären. Denn entschieden am lebendigsten sind die Gestalten im »Träumer«, von denen Gionos eigene Kindheit begleitet war. Sie sind auch fähig, den Bannkreis des Buches zu verlassen, um selbständig in der Phantasie des Lesers weiterzuexistieren, damit auf ihre Art jenem erlauchten Olymp angehörend, der sich aus den Geschöpfen der großen Dichter zusammensetzt.
Vergleicht man nun die Figuren aus dem »Lied der Welt«, den Fischer Antonio, der sich in die Blinde verliebt, die er gebärend im Walde findet, den Matrosen, der sich mit dem Fischer auf die Suche begibt nach seinem Sohn, dem Zwilling, den Liebe und Mord an der Rückkehr hindern, mit Figuren aus Gionos früheren Büchern, so zeigt sich, wie künstlich und unglaubwürdig sie diesmal geblieben sind. Ihr Tun, ihr zuweilen oft schreckliches Tun, wie z. B. die Rache, die der Zwilling für den Tod seines Vaters nimmt, indem er den Hof des Stierzüchters in Brand steckt, hängt in luftleerem Raum, ist, weit entfernt davon, berechtigt oder unberechtigt zu wirken, einfach sinnlos, da das Individuum, aus dem es fließt, abstrakt triebhaft, wie es gefaßt ist, als eine Art Homunkulus nicht die Realität besitzt, derzufolge diese Tat begreiflich erschiene. Zuweilen wird die eine oder andere Person des Buches realer; durchgängige Realität aber, spezifisch gionosche Wirklichkeit besitzt keine von ihnen. Ihr mehr oder weniger dünnes dichterisches Sein wird häufig noch vollends aufgelöst durch die Knalleffekte einer präzis geführten abenteuerlichen Handlung, die Giono erfindet, um sie in Aktion zu setzen. Zwar versucht er auch diesmal wieder, das Geschehen unter den bestimmten Einfluß einer übermenschlichen, Schicksal ausübenden Macht zu stellen, wie es ihm vielleicht am eindrucksvollsten im »Hügel« gelungen ist, wo die geheimnisvoll wirksame Natur des Hügels über allen im Dorfe vorgehenden Ereignissen als etwas Zuständliches wirkt, unter dessen Druck (typisch für die Darstellungsart des besten Giono) das Wesen der beteiligten Figuren sich offenbart. Im »Lied der Welt« ist diese Macht ein Fluß, » der« Fluß, ein beinah personifiziertes Wesen, das auch in den Eingangskapiteln des Buches zur intensiven, alles beherrschenden Erscheinung wird. Dann aber tritt sie zurück hinter der immer selbständiger werdenden Handlung, die, ohne dichterischen Sinn zu erhalten, auf eine rein stoffliche Wirkung beschränkt bleibt, auf das Verblüffende und Spannende. Sie macht aus den uns von früher her bekannten und bewunderten Elementen der gionoschen Welt leider nicht mehr als ein tüchtiges Drehbuch für den Film. Selbst das happy end mit seiner berüchtigten Sentimentalität bleibt einem nicht erspart. Das betrübt um so mehr, als man Giono in dieser Hinsicht für unanfechtbar hielt, zumal seit er in der Kindheitsgeschichte des »Träumers« die sich aus dem Gegenstand ergebenden Gefahren und Versuchungen des Sentimentalen mit der männlich herben Süße seiner lyrischen Kraft so rein und souverän überwunden hatte. Im »Lied der Welt« jedoch schwächt das Sentimentale nicht nur die Personen, sondern dringt sogar in die gionosche Naturschau ein (z. B. im 3. Teil), was den Wert des Buches, da wir Giono gerade um der Reinheit seines Naturgefühles willen lieben lernten, sicherlich am ernsthaftesten gefährdet. Immerhin, Giono wäre kein Dichter, wenn ihm auch in diesem verunglückten Werk nicht großartige Stellen gelungen wären, z. B. die Schilderung der herbstlichen Landschaft am Anfang, oder die düstere Szene der regenschweren Herbstnacht, die Antonio und der Matrose in der von Reisenden überfüllten Scheuer verbringen, oder die winternächtige Beerdigung des Nebenbuhlers, den der Zwilling erschossen hat. Das Zuständliche, bei dessen Gestaltung Gionos Eigenart ihren reinsten Ausdruck findet, wie es das Buch vom »Träumer« bewies, das aus unheimlich dichten Zuständen den Zustand einer Kindheit bildet, wirkt auch hier, wo es auftritt, mit magischer Eindringlichkeit.
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Die Niederschrift vorstehender Zeilen liegt nun bereits ein Jahr zurück. Seitdem sind im S. Fischer Verlag zwei neue Bücher Gionos erschienen, durch die an dem Bild seines Werkes zwar der eine und andere Zug sich vertieft, die aber den Umriß seiner gesamten Gestalt weder zu erweitern noch zu verändern vermögen.
»Geburt der Odyssee« heißt das eine, mit dem uns das Erstlingswerk des Dichters bekannt wird; er schrieb es, indem er, aus dem Weltkrieg zurückgekehrt, im Umgang mit seiner Heimat, zum erstenmal in die eigene Fabelwelt findet. Homers Odyssee gab die Richtung. Daß Giono durch das naiv gelesene Epos, sich als Heimkehrer selbst odysseisch empfindend, zu einer ersten Gestaltung gelangt, ist kühn, begreiflich und aufschlußreich, wenn es auch letzten Endes als sachliches Ergebnis nicht ohne Bedenken bleibt. Giono nimmt die griechischen Figuren und versetzt sie in die Provence; er versucht die Heimkehr des Odysseus ein zweites Mal zu erzählen, und was so entsteht, klingt, als ob das homerische Epos, immer stärker vergröbert, im Volk durch zahllose Generationen hindurch von Mund zu Mund überliefert worden wäre. Homer ist darüber entschwunden. Man könnte beileibe nicht sagen, daß Giono antikischen Spuren folgte, indem er diese ausgelassene Bauerngeschichte schrieb, in der Penelope als ein munteres Weibchen und Odysseus als ein durchaus nicht immer sehr mannhaft sich zeigender Lügner und Aufschneider erscheint. Vor dem Vorwurf der Profanierung ist der Dichter nur jedesmal dort gefeit, wo er den uns seit Kindheit so teuer gewordenen Stoff bis zur Unvergleichbarkeit umformt.
Dieses aber, das Unvergleichliche, liegt in seiner Idylle, in der, wie schon gesagt wurde, der gegenständlich empfundene Mensch sich unter personal gewordenen Dingen befindet. Ein solches Prosastück kann auch des eigentlich Handlungsmäßigen völlig entbehren. Der Band »Lebendige Wasser« enthält vier Abschnitte, die – keine Geschichten mehr – sich aus Bildern und Szenen zusammensetzen, in denen die Schilderung einfachster menschlicher Verhältnisse zu unbezweifelbar dichterischen Gebilden wird.
Giono produziert seine Werke unbesonnen und triebhaft wie die Natur. Seine Bücher sind Ernten. Was er bisher an Leistung hervorgebracht hat, ist jedoch, innerhalb jenes eng und genau umgrenzten Gebietes, welches das seine ist, derart verläßlich und reich, daß auch die eine oder andere Mißernte uns den Glauben an diese außerordentliche dichterische Kraft nicht zu nehmen vermag.