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Paul Claudels Meisterwerk
Der Dichter, auch der größte, gehört, solange er lebt, zuerst seiner Zeit und ihren Umständen an und kann sich nicht davon ablösen, ohne daß sein Werk Einbuße erlitte an Wahrheit und Leben. Die Meinung von einem idealen Bezirk der Dichtung hat sich als Irrtum erwiesen. Wohl ist die Grundsubstanz des Menschlichen konstant; der Dichter aber, der sie deutet und sie in seinen Gestalten zur zeitlos gültigen Anschauung bringt, vermag sie nur durch das Medium der Zeit, die die seinige ist, zu erfassen. Jedes andere Verhalten erzeugt Literatur. Die Geschöpfe der Dichtung, mit denen wir umgehen können, als seien sie lebendige Wesen, die Helden Homers, die Helden der griechischen Tragödie, Simplicissimus oder Don Quijote sind nicht fähig, auf dem Umweg einer bildungsmäßigen Verdauung neue Gestalten aus sich zu entwickeln. Auch der Versuch, nach jenen Kenntnissen der menschlichen Natur, wie sie unser Wissenschaftsapparat übermittelt, neue Gestalten zu schaffen, endet im besten Falle mit interessanten Konstruktionen. Der Lehm der Wirklichkeit ist der einzige Stoff, aus dem ein Dichter leibhaftige Menschen gestaltet.
Mit dieser Feststellung soll nun keineswegs jenem Zeitgeschrei zugestimmt werden, das von der Dichtung verlangt, sie müsse sich gegenwartsnah betätigen, indem sie zeitgemäße Typen klischiere. Obwohl gebildet nach den Gegebenheiten der Zeit, erweisen sich auch solche Figuren nur allzu häufig als brüchige, tote Gebilde, und der Dichter ist selten, heute wie immer, der die Gnade besitzt, seine Figuren anzuhauchen mit dem Atem des Schöpfers, damit sie aufstehen und leben, um in ewiger Jugend durch die Jahrhunderte zu schreiten.
Indem ich das überlege, denke ich an Paul Claudel, Frankreichs größten katholischen Dichter. Verhaftet in seiner Zeit, bis zur Verpflichtung an sie gebunden – in ihr wirkend und sie beschenkend besitzt er den Blick, der sie durchschaut und deutet; gläubiger und schöpferischer Mensch, katholischer Christ und Dichter, weiß er um den großen Zusammenhang, um das Ewige, in dessen Sinn allein die blutige Unmittelbarkeit der Zeit erlebt und erfühlt werden muß.
Von dieser Haltung gibt sein größtes Werk, »Le Soulier de Satin«, in weit stärkerem Maße als seine früheren Schauspiele vorbildlich Zeugnis. Selten geschah es, daß im Tun eines Dichters Zeit und Ewigkeit in einer derart bedeutsamen Konstellation zueinander standen wie hier. Der Weltkrieg, dessen Geschehen in seiner Dämonie auch den klaren Geist Claudels für eine Weile nicht ungetrübt ließ, hatte sein verwirrendes Ende genommen. Es war, als bliebe dem abendländischen Menschen, dem Sieger wie dem Unterlegenen, im besten Falle noch übrig, der Sinnlosigkeit eines allgemein wirkenden Vernichtungswillens mit einem blinden und ebenso sinnlosen Tun zu begegnen; als gälte es, aus einer zusammenstürzenden Welt nur noch das Handgreiflichste an Besitz zu retten, dem Augenblick das Äußerste an Genuß zu entreißen. Untergangsstimmung! Was die Dichter verkündeten, hieß Verzweiflung; in einigen vollendeten Werken ist ihr das Denkmal gesetzt: Paul Valéry schrieb seinen Aufsatz über »die Krise des Geistes« 1919. 1922 erschien der »Ulysses« von Joyce, 1923 die »Duineser Elegien« von Rilke, 1925 die »Falschmünzer« von Gide. Die alten Götzen wurden verbrannt, der Geist der Vorfahren, der sie errichtet hatte, mit Hohn übergossen und angeklagt; doch was von diesem Feuerwerk der Geister und Seelen zurückblieb, war Asche und Trauer – nichts an Hoffnung. In diesen wirren Jahren, von 1919 bis 1924, schuf Paul Claudel den »Soulier de Satin« Le Soulier de Satin ou le pire n'est pas toujours sûr. Paris. Librairie Gallimard. Eine deutsche Übersetzung wurde leider noch nicht unternommen. und zog darin das Fazit seines Lebens. Unerschöpfliche Schätze waren vorhanden; er teilte sie aus. Erfahrungen eines fünfzigjährigen Lebens, in dessen Verlauf der Dichter in diplomatischem Amt die ganze Erde bereist hatte, Einblick gewinnend in das Getriebe der Menschen und Mächte und zugleich persönlich daran beteiligt – die Güter katholischen Glaubens, die sich in seinem Leben bewährt und vervielfacht hatten, Liebe des Geistes und Weisheit des Herzens, die Einsichten einer dreißigjährigen künstlerischen Arbeit, alles ging ein in dieses dramatische Werk, in dem der Genius des Dichters, begründet auf der Universalität scholastischer Philosophie, das Weltgebäude in seiner göttlichen Ordnung ein weiteres Mal erstehen ließ, die Ernsthaftigkeit, mit der er seine metaphysischen Zusammenhänge erklärte, mit Heiterkeit und sublimiertem Humor beschwingend. Der Aktionsraum des »Soulier de Satin« erstreckt sich buchstäblich über Erdteile und Meere. Europa, Afrika und Amerika stellen die Orte der Handlung. Darüber hinaus öffnet sich der irdische Raum nach allen Seiten ins Weltall und in die Unendlichkeit. Die Zeit, in der die Handlung des Stückes vor sich geht, ist historisch charakterisiert, doch widerstrebte es dem Dichter, sie genau zu fixieren. Man hat an das Ende des 16. und an den Anfang des 17. Jahrhunderts zu denken, zugleich aber, dem Geschehen entsprechend, das von zeitloser Gültigkeit ist, an ein gleichbleibendes Hic et nunc. »Der Autor erlaubte sich (laut einer Vorbemerkung), Länder und Zeiten zusammenzurücken, so wie die Linien mehrerer voneinander getrennten Berge von einem gewissen Abstand aus einen einzigen Horizont bilden.« Zeit- und Raumkategorien, wie Claudel sie gebraucht, sind denen des Märchens nahe verwandt. Das historische Milieu wird ihm keineswegs Anlaß, um eine versunkene Welt im Geiste nochmals auferstehen zu lassen. Fast scheint es, als ironisiere er durch die überlegene Art, mit der er historische Daten und Fakten verwendet, mit der er sie der höheren Forderung seines Spieles zuliebe bewußt verändert, jene Akribie, mit der gewöhnlich ein historisches Milieu rekonstruiert wird. Claudel versetzt sein Geschehen in eine Epoche der Vergangenheit, um der Verpflichtungen ledig zu werden, die die realen, kaum außer acht zu lassenden Umstände der Gegenwart den Absichten des Dichters auferlegen. Die unbestimmtere Atmosphäre der Vergangenheit gibt dem Möglichen einen freieren Spielraum, sie abstrahiert vom Akzidentiellen, das in der Gegenwart die Sicht des Wesentlichen behindert. Schon für die klassische französische Tragödie war es dieser Erwägung zufolge Gesetz, die Handlung in die Welt einer fiktiven Antike zu verlegen. Die Aktualität des dramatischen Geschehens wurde dadurch, wie man weiß, eher betont als beeinträchtigt. Mit derselben Absicht verlegt Claudel die Handlung seines Schauspieles in die Epoche des spanischen Barock. Daß es gerade jene Zeit ist, die er wählt, folgt aus seiner bewußt katholischen Haltung: war sie doch, genau wie das hohe Mittelalter, eine Epoche, in der der christlich-katholische Genius sich restlos in der spezifischen »Welt« realisierte. Welt und Geist, die heute auseinanderklaffen, hatten im Barock ihre letzte große Synthese gefunden.
Claudel gebraucht diese »Welt«, um das göttliche Gesetz, dem die Gestalten seines Schauspieles untertan sind, in möglichst konkreten, feststehenden und eindeutigen Formen künstlerisch anschaulich machen zu können. Gegenüber den Figuren in der »Verkündigung«, die er in eine im selben Sinne summarisch gegebene Welt, in die des Mittelalters, versetzte, sind die Figuren des »Soulier de Satin« in ihrer Individualität genauer umrissen und eigenartiger ausgeprägt. In der »Verkündigung« dient das Koordinatensystem, in dem das Weltgesetz seinen sichtbaren Ausdruck erhält, um die Gegensätzlichkeit der Figuren hervorzuheben, um ihre negativen und positiven Prinzipien gegeneinander auszuspielen. Ein klar gegebenes Vorzeichen bestimmt sie bis auf den Grund ihrer Natur. Sie sind symbolisch, das heißt Individualitäten nur so weit, als es nötig ist, um einen abstrakten Inhalt zur Anschauung zu bringen; Violaine und Mara »verkörpern«. Im »Soulier de Satin« dagegen sind die Koordinaten nur das Gerüst, mit dessen Hilfe die komplizierten Kurven individueller Seelen, die sich bald auf ein positives, bald auf ein negatives Gebiet erstrecken, mit möglichster Genauigkeit aufgezeichnet werden. Die Ergründung des Menschlichen steht hier im Vordergrund. Der Wertung, eines Hinweises auf gut und böse, schuldig oder unschuldig, hat sich der Dichter enthalten. Er begnügt sich damit aufzuzeigen, mit klarem, unbestechlichem Blick, wo eine Gestalt die Grenze des göttlichen Gebotes überschreitet. Kaum eine der Hauptfiguren entgeht der Versuchung dazu. Hoffnung und Mitleid aber, Nachsicht mit der Schwäche und Fehlbarkeit des Menschen mildern die Gegensätze von hell und dunkel mit einem versöhnlichen Gold.
So zahlreich die Figuren sind, die das Schauspiel aufeinander bezieht – und da ist keine, die nicht in ihrem Wesen charakterisiert, in ihrem metaphysischen Aspekt gedeutet wäre sie werden alle befördert vom Strom einer wunderbar ersonnenen Handlung. Freilich, mit dramatischer Handlung, wie sie gemeinhin verstanden wird, hat sie, die eine Reihe von Lebensgeschichten in ihrem ganzen Verlauf umschließt, nichts mehr zu tun. Trotzdem wäre es falsch, das Schauspiel infolge äußerer Merkmale zu den dramatisierten Biographien zu zählen, wie sie uns besonders aus der spanischen Barockliteratur bekannt sind. Es ist weit mehr. Was hier geschieht, was sich schließlich als das eigentliche Geschehen aus der unübersehbaren Folge von einzelnen Ereignissen herauslösen läßt, ist eine Hyperbel, die aufsteigt, ihren Wendepunkt erreicht und abfällt, so ununterbrochen, gesetzhaft und folgerichtig, wie sie sich als dramatische Bewegungsbahn auch bei einer racineschen Tragödie aufzeigen läßt. Nur ihre Erscheinungsform ist eine andere, und ihre Maße sind, der Größe des Geschehens entsprechend, von der klassischen Norm verschieden. Um sie zu erkennen, muß der Betrachter eine neue ästhetische Stellung beziehen. Denn wie die Erde, wenn wir unmittelbar auf ihr stehen, als eine Fläche erscheint, in Wirklichkeit aber, wie wir sehen, sobald wir die nötige Höhe erreichen, Kugelgestalt besitzt, so erscheint der »Soulier de Satin« zunächst nur als eine Folge mehr oder weniger zusammenhängender Szenen, als ein Konglomerat verschiedener, ineinander verbackener Dramen, und erst eine umfassendere Betrachtung läßt aus den zahllosen Ereignissen das große, durchgehende Geschehen erkennen. Es geht hier nicht um einen einzelnen Konflikt, der binnen vierundzwanzig Stunden, wie es die klassischen Regeln vorschrieben, zur Auswirkung gebracht werden kann, solchermaßen eine klare und leicht zu überblickende Handlung ergebend; auch geht es hier nicht um die Darstellung der Endphase eines menschlichen Untergangs im gelösteren Stil der Shakespeareschen Dramen. Was hier vielmehr geschieht, ist – leichter gesagt als erklärt – die durch einen Menschen veranlaßte Störung der göttlichen Ordnung der Welt. Daß ein Einzelner abweicht von göttlichem Gebot und Gesetz, gibt den Anlaß zu allen Ereignissen, die sich nun, kaum übersehbar, ineinander verwickeln, sich überschneiden und kreuzen, rückläufig werden oder parallel gehen. Die Handlung dauert notwendigerweise so lange an, durch Zeiten und Welten hin, bis die gestörte Ordnung, nicht ohne das unmittelbare Eingreifen der göttlichen Gnade, wiederhergestellt ist. Der Verlauf dieser Störung, dargestellt in all seinen Auswirkungen, ist die innere und eigentliche dramatische Handlung. Im Grunde also – und wahrhaft im Grunde, da die dichterische Freude am Anschaulichen diese durchlaufende Idee restlos in Bild und Geschehen bannt –, im Grunde besitzt dieses die ganze Welt in Bewegung setzende, schon äußerlich über nahezu 500 Druckseiten sich erstreckende Spiel eine ebenso absolute Notwendigkeit der Form wie nur irgendeine ihrer anderen Absicht und ihrem anderen Gehalt entsprechend knapp und straff gebaute Tragödie.
Der Titel des Werkes, »Le Soulier de Satin«, weist auf jenen besonderen Anlaß hin, der die Handlung des Schauspiels zur Auslösung bringt. Gemeint ist der Schuh der Doña Prouhèze, die unerfahrenen Herzens, noch halb ein Kind, die Gemahlin des greisen Don Pélage geworden war, obersten Richters Seiner Majestät des spanischen Königs, und die in unheilvoller Liebe zu dem jungen und heldischen Don Rodrigue entbrennt. Sie sieht ihre Liebe erwidert; die Leidenschaftlichkeit des Herzens wirkt stärker als das gesetzte Gebot; Prouhèze verläßt Don Pélage, um sich mit Rodrigue zu vereinigen. Aber im Augenblick, da sie das eheliche Haus verläßt, weiht sie ihren seidenen Schuh der Schutzpatronin des Hauses, der Gottesmutter, und spricht, sich ihrer Sünde bewußt: »Wohlan, solange es noch Zeit ist, in der einen Hand mein Herz, in der anderen meinen Schuh, dir stelle ich mich anheim! Jungfräuliche Mutter, dir gebe ich meinen Schuh! Jungfräuliche Mutter, halte in deiner Hand meinen unglückseligen kleinen Fuß. Du mußt wissen, daß ich dich jetzt gleich nicht mehr anschauen kann, daß ich gleich alles gegen dich ins Werk setzen werde. Doch wenn ich versuche, mich dem Bösen entgegenzustürzen, so sei es mit einem hinkenden Fuß! Die Schranke, die du gesetzt hast: wenn ich sie überspringen will, so nur mit einem beschnittenen Flügel!«
Damit beginnt das Geschehen. Doña Prouhèze erreicht das Schloß ihres Geliebten. Don Rodrigue ist in einem Kampf mit Straßenräubern verwundet worden und liegt im Fieber darnieder. Doña Honoria, die Mutter Don Rodrigues, hält die Liebenden streng voneinander getrennt. Als Prouhèzes Gemahl, Don Pélage, eintrifft, bleibt es ihm vorbehalten, die Verfehlung der jungen Frau zu bestrafen. In einem wunderbaren Gespräch trifft die Starrheit des Gesetzes, die Don Pélage verkörpert, mit der irdischen Unwägbarkeit von Prouhèzes gelebtem Leben zusammen. Ohne das geringste Nebengeräusch einer eifernden Moralität läßt der Dichter die Gegensätze erklingen. Don Pélage hat recht. »Nicht die Liebe bewirkt die Ehe ..., sondern die Einwilligung im Glauben angesichts Gottes.« Aber anderseits hat sich Don Pélage doch gröblich geirrt, als er glaubte, er, der Greis, dürfe das unmündige Mädchen ehelichen als Sonne und Freude seines Alters. Verstieß er damit nicht gegen die Ordnung der Natur, die ebenso göttlichen Ursprunges ist wie die sittliche Ordnung? Wenn er nun auftritt, nichts als den Buchstaben des Gesetzes für sich, gerät er angesichts Prouhèzes, die sündigte, doch um die Sünde weiß und bereit ist zu Reue und Buße, in ein nahezu pharisäisches Licht.
Die Strafe, die Prouhèze auf sich nimmt, ist schwer und entspricht den intellektuellen Praktiken, an die Don Pélage gewohnt ist. Er hätte das treulose Eheweib töten können. Aber leben ist härter als sterben, ein Leben in Buße ist härter als der Tod. Er straft Doña Prouhèze für die Versuchung, der sie im Herzen erlegen ist, indem er sie einer zweiten und größeren aussetzt. Die Festung Mogador an der westafrikanischen Küste, der äußerste Vorposten des spanischen Reiches gegen die Mohammedaner, wird von Don Camille befehligt, der Doña Prouhèze liebt (was Don Pélage bekannt ist) und der im Verdacht steht, ein Renegat zu sein und mit der Lehre des Islam zu sympathisieren. Spanien ist durch die Person des Befehlshabers selbst im Besitze der Festung beständig bedroht. Don Pélage veranlaßt den König, den Oberbefehl der Festung Doña Prouhèze zu übertragen. Doppelte Aufgabe, die sie erwartet: sie muß sich der Nachstellungen Don Camilles erwehren, der verzweifelt um ihre Liebe wirbt, und zugleich verhindern, daß er, um sich für ihre abweisende Haltung zu rächen, die Festung samt ihrer Person dem Feind überliefert.
Mit diesem Don Camille hat Claudel die vielleicht abgründigste Figur des »Soulier de Satin« geschaffen, die noch besondere Wichtigkeit gewinnt, da in ihr ein in unserer Zeit typisch gewordenes Schicksal in der historischen Spiegelung, wie Claudel sie gebraucht, sub specie aeternitatis erscheint. Daß Don Camille einsam in jener abgelegenen Festung lebt, zwischen Wüste und Meer, zwischen den Grenzen von Christentum und Islam, ist nur die seinem seelischen Zustand entsprechende äußere Daseinsform. Jede Realität, die hiesige wie die der Übernatur, ist in ihrem Wesen seiner Einsicht verschlossen. Seine Seele hat weder am Irdischen noch am Himmlischen teil; was sie einzig erlebt und fühlt, er selbst spricht es mit zynischen wie erschütternden Worten aus, ist das Nichts. Wille und Intellekt müssen vor diesem Erlebnis versagen. Denn daß das Nichts als ein Nichts nicht sein kann, ist ein Gedanke, ein Schluß der Vernunft, der auf die durchdringende Gewalt, mit der das Nichts von seiner Seele empfunden wird, keinen verändernden Einfluß besitzt. Schließlich ist alle christliche Spekulation über das Sein auf einen durch die Gnade gestärkten Glauben gegründet, der ihr das erste und fundamentale Kriterium zur Hand gibt. Don Camille entbehrt dieser Gnade, ist der Kraft des Glaubens entblößt. Aber wiederum maßt er sich keineswegs an zu leugnen, er weiß um die Gegenwart Gottes und verfällt im Augenblick der Verzweiflung in Blasphemie. Ist er gut, ist er böse? Auch hier steht er zwischen den Grenzen. Er sagt, was er ist, als was er sich fühlt: »ein Geldstück, verloren in einem vergessenen Schrank«. Nichts Irdisches mehr hat für ihn Reiz. Durchdrungen von dem Gefühl seiner Nichtigkeit nennt er als das »Kostbarste«, das er besitze, den Ort, wo »es absolut nichts gibt«: Mogador – Nada. Er bedürfte, entblößt und frei wie er ist von den irdischen Wünschen der Seele, die die Einsicht Gottes erschweren, um gerettet zu werden, einzig der Gnade. Er sehnt sich nach ihr, er glaubt, daß Prouhèze durch ihre Liebe fähig wäre, sie ihm zu vermitteln. Indem er Prouhèze liebt, sucht er den ihm unfaßbar gewordenen Gott durch sie zu begreifen. Der außernatürliche Sinn, der in die Bezogenheit der Geschlechter zueinander gelegt ist, tritt hier in seiner Großartigkeit zutage: die Frau, ihrer Natur nach der Wirklichkeit ungleich stärker verhaftet als der durch seine Geistnatur in Gegensätze zerbrochene Mann, erscheint dem Mann, dessen letzter Gedanke in eisiger Leere geendet, als die naturhafte Mittlerin zu der ihm abhanden gekommenen Realität und damit zu Gott.
Eine Zeitlang schreitet Don Camille als ergreifendes Bild des tragischen Menschen durch die von göttlicher Höhe aus betrachtete Welt des Claudelschen Spieles, auch er eingefügt in die Ordnung, ohne daß er sich dessen bewußt wird; doch als ihm Prouhèzes Liebe versagt bleiben muß, als er meint, sie mit Gewalt erringen zu können, und er dadurch selbst Lösung und Ausgleich verhindert, verfällt er dem Schicksal, das in jeder tragischen Natur als Möglichkeit angelegt ist: er wirft sich auf gegen Gott und endet in Hybris.
Getreu ihrem Auftrag lebt Doña Prouhèze an der Seite Don Camilles als Statthalterin in Mogador, als Don Rodrigue sich einschifft, um sie mit der Einwilligung des Königs wieder zurückzuholen. Bei aller Verzweiflung, die ihn zuweilen verheert, ist er zu Verzicht entschlossen und kommt nur, um Doña Prouhèze aus ihrer unmenschlichen Situation zu befreien. Eine gewaltige Aufgabe, die ihm der König aufgetragen hat, die Regierung der »Neuen Welt«, erwartet ihn, und er ist, ungleich Don Camille, in der Realität fest genug verwurzelt, um in dieser Aufgabe, bei allem persönlichen Schmerz, ein Leben erfüllendes Tun zu erblicken.
Angekommen in Mogador, erlangt er nur eine Unterredung mit seinem Rivalen, der, mokant und bitter, sich als der Überlegene zeigt; hat er doch nichts zu verlieren, sondern bestenfalls nur zu gewinnen. Prouhèze bleibt unsichtbar und läßt Don Rodrigue mit kurzen Worten wissen, daß sie auf ihrem Posten auszuharren gedenke. Unverrichteter Dinge kehrt Don Rodrigue um.
Zehn Jahre lang lebt er als Vizekönig in Amerika. Mit der Gelassenheit eines Mannes, der kein persönliches Glück mehr erwartet, regiert er Dinge und Menschen, schafft als wichtigstes Werk zwischen den Weltmeeren an der Landenge von Panama einen Verbindungsweg, über den die Schiffe auf Rollen gesetzt transportiert werden können; er wird ein Mensch, der »den Haß und die Verachtung der Leute leichter erträgt als ihre Bewunderung«.
Da erreicht ihn der »Brief« der Doña Prouhèze. Nach jahrelangen Umwegen von Hand zu Hand, nachdem die Menschen von dem Schriftstück schon lange sprichwörtlich reden, gelangt es endlich zu Händen Don Rodrigues – bewirkt, daß er augenblicklich sein Amt verläßt und zu Schiff nach Mogador eilt. Noch weiß er nicht, was vorgefallen ist, solange der Brief unterwegs war.
Der Gemahl der Doña Prouhèze, Don Pélage, ist mittlerweile gestorben. Prouhèze war frei. Aber sofort benützte Don Camille die Gelegenheit, sie zu einer Ehe mit ihm zu zwingen: die Besatzung von Mogador hatte sich gegen Prouhèze erhoben und stand auf Seiten Don Camilles. Um die Festung für den spanischen König zu retten, denn Don Camille war zum Abfall entschlossen, mußte Doña Prouhèze in die vorgeschlagene Ehe einwilligen. Der Form nach erreichte Don Camille sein Ziel. Prouhèze aber hörte nicht auf, Don Rodrigue zu lieben. Sein Bild steht in ihrer Seele, als sie von Don Camille ein Kind empfängt. Infolge der mystischen Verbindung der Seelen trägt es, als es heranwächst, die Züge Don Rodrigues.
Don Camille verzweifelt. Seine Liebe zu Prouhèze, der er verfallen ist, verkehrt sich zu Grausamkeit und zu Haß. Er scheut nicht vor Gewalttätigkeiten zurück und wagt, gegen Prouhèze die Hand zu erheben. Das erste Mal, als er sie schlug, schrieb sie den »Brief an Rodrigue«, in dem sie seine Hilfe herbeiruft. Doch ehe er auf diesen Anruf hin kommt, erlebt Doña Prouhèze durch das unmittelbare Wirken der Gnade die entscheidende Wandlung: ihre wenn auch geläuterte, so immer noch irdisch gewesene Liebe sublimiert sich in himmlisches Gefühl. Im Traume sieht sie den Erdball; die von den Wellen ihrer Liebe erreichten und beeinflußten Orte treten leuchtend hervor: der Isthmus von Panama; dann zukunftweisend, die japanische Insel, die »sich allmählich belebt und die Gestalt eines der dunkel geharnischten Wächter annimmt, wie sie in Nara stehen« (Regiebemerkung Claudels); Prouhèzes Schutzengel erscheint in dieser Verkleidung und hält mit ihr eine das Schmerzlichste und Höchste: Liebe, Tod und Gnade, ewiges Heil und ewige Seligkeit mit den Lichtern einer überirdischen Heiterkeit, ja Schalkhaftigkeit durchleuchtende Zwiesprache. Es erfüllt sich an Don Rodrigue, was Don Camille versagt bleibt. Prouhèze wird ihm zum »Angelhaken«, der sein Herz zu Gott emporzieht, denn, der Schutzengel spricht es mit den Worten eines Seelenfischers, »den einen genügt die Einsicht. Der Geist spricht rein zum Geist. Bei anderen aber muß mit der Zeit auch das Fleisch bekehrt und vom Evangelium durchdrungen werden. Und welches Fleisch spricht mächtiger zum Mann als das des Weibes?« Rodrigue, indem er Prouhèze liebt, wird in ihr, die in die Seligkeit eingeht, Gott und Himmlische lieben. Aber noch versteht Don Rodrigue die Sprache nicht, in der die gerettete Prouhèze bei seiner Ankunft in Mogador, bevor sie stirbt, zu ihm spricht. Noch bleibt er dem Irdischen verhaftet. Als Eroberer zieht er nach Japan, wird in einer Schlacht zum Krüppel geschossen, gerät in Gefangenschaft und fällt, als er zurückkehrt, beim König von Spanien in Ungnade. Als ein alter Mann fristet er ein kärgliches Leben. Auf einem Boot umherfahrend, das zugleich seine Behausung ist, verfertigt er, unterstützt von einem japanischen Gehilfen, Heiligenbilder, die er an die spanischen Fischer verkauft. Wie zahlreiche andere Gelegenheiten benützt Claudel auch diese, um zu einem aktuellen Gegenstand Stellung zu nehmen. Die Art, wie er es tut: seiner Kriterien gewiß, am Gegenstand mit dem Einsatz seiner ganzen Person interessiert und, wenn er urteilt, auf dem Posten höchster geistiger Überschau stehend, bewirkt, daß die Sache, die er vertritt, aus dem Streite der Meinungen unversehrt und fast mühelos siegend hervorgeht, dank der Claudelschen Ironie, deren Eigenart es ist, nicht ätzend, sondern klärend zu wirken, die Lacher unwillkürlich auf ihre Seite ziehend.
Was nämlich der arme und alt gewordene Don Rodrigue als Malerei betreibt und was im Verlauf des Spieles auch mit akademischen Ansichten zusammenstößt, ist als eine launige Verkleidung der modernen Kunst zu betrachten, für deren in der Echtheit ihres Empfindens und in ihrer Ausdrucksstärke begründeten Wert Claudel mit warmen Worten Partei ergreift. Kein Zweifel, auf welcher Seite der Dichter steht, wenn das Problem erörtert wird. »Alles, was ich hier sehe«, sagt ein gewisser Don Mensez Leal, »ist eine Beleidigung von Tradition und Geschmack und entspringt dem unnatürlichen Wunsch, ehrenhafte Leute zu ärgern und zur Verwunderung zu bringen ... Ein Heiliger muß sozusagen als Schirmherr von Vielen ein allgemein gültiges Aussehen haben, eine schickliche Haltung und Gebärden, die nichts Besonderes bedeuten.« Worauf der gute Don Rodrigue aus seinem einfältig gewordenen Herzen entgegnet: »Und ich, ich gerate in Abscheu vor solchen Stockfischvisagen, vor solchen Gesichtern, die keine menschlichen Gesichter mehr sind, sondern eine kleine Ausstellung von Tugenden. Die Heiligen waren Flammen, und nichts ähnelt ihnen, was nicht erwärmt und versengt. Respekt! Immer Respekt! Man schuldet Respekt nur den Toten und nicht den Dingen, die man gebraucht und nötig hat! Amor nescit reverentiam, sagt der heilige Bernhard.«
Kindereinfalt und stoische Weisheit treffen in dem alten Don Rodrigue zusammen. Aber genügt das? Die Art, wie sich Don Rodrigue bescheidet und einrichtet in der Welt, ist an seiner Natur und an seinem Schicksal gemessen keine Erfüllung. Ein seltsames Zwielicht umspielt in dieser Lebensphase seine Gestalt. Rührend und bewundernswert ist, wie er das Irdische und Menschliche sieht. Darüber aber erschaut er nicht die Perspektive, die ihm durch Prouhèzes Tod in die Weite der Ewigkeit aufgetan wurde. Das Verzehrende fehlt seiner genügsam gewordenen Seele, das Glühende, das ihre letzten Schlacken vernichtet.
Durch zwei phantastische Ereignisse, in die ihn sein Schicksal verwickelt, wird seine Haltung deutlich gemacht. Doña Sept-Epées, die Tochter von Doña Prouhèze, die in Don Rodrigue ihren Vater sieht, den sie mit Zärtlichkeit und Bewunderung liebt, ein Mädchen mit flammendem Herzen, sucht ihn zu einem Kreuzzug zu bestimmen, den sie auf eigene Faust gegen die afrikanischen Mauren zu unternehmen gedenkt. Sie selbst will die Kreuzfahrer anwerben, Don Rodrigue soll den Oberbefehl übernehmen. Er lehnt es aber ab, sich an dieser himmlischen Donquijoterie zu beteiligen, um sich zu gleicher Zeit auf eine irdische einzulassen. Die Armada war ausgefahren, um Englands Macht zu brechen. Eine Falschmeldung, die einen strahlenden Sieg der spanischen Flotte verkündet, gelangt an den spanischen Hof. Der König beschließt, Don Rodrigue wieder in Gnaden aufzunehmen und ihn zum Vizekönig von England zu machen. Ein Spiel bizarrster Illusion hebt an. Schon ist das Ministerkollegium feierlich zusammengetreten, der König bereit, den im Vorzimmer wartenden Don Rodrigue mit der hohen Aufgabe zu betrauen, da kommt ein Bote, der die wahre Meldung von Spaniens Niederlage überbringt. Nichtsdestoweniger nimmt der bereits begonnene Staatsakt kraft königlichen Willens seinen Fortgang. Unheimliche, abgründige Ironisierung politischer Macht: man tut, als sei das Unglück nicht geschehen. Don Rodrigue, der weise und reine Tor, erlebt dabei seinen endgültigen irdischen Fall. Von den Ministern befragt, wie er in dem bereits illusorisch gewordenen England zu regieren gedenke, entwickelt er philanthropische Pläne, wonach er auf Erden ein Reich des Friedens errichten will. Er hat nicht vor, in England eine spanische Fremdherrschaft einzuführen; spanische Truppen und Beamte weist er zurück, ja mehr: er verlangt für England einen Teil an den spanischen Besitzungen in Amerika und zögert nicht, die erbliche Thronfolge Spaniens in Frage zu stellen.
Als ein in Ketten gelegter Staatsverräter geht er aus dieser Unterredung hervor; nur die besondere Gunst des Königs rettet ihn vor dem Tod. Er wird zum Sklaven erniedrigt und wandert als solcher von Besitzer zu Besitzer, ein zu allem unbrauchbar gewordener Greis. Schließlich schwatzt ihn eine zungenfertige Nonne, die im Auftrag ihres Klosters umhergeht, um Lumpen zu sammeln, einem Matrosen ab, der gerade im Begriff ist, ihn als Landesverräter gegen Geld auf den Marktplätzen auszustellen. Und mit einer nun endlich brennenden Seele fügt sich Don Rodrigue in dieses Geschick: »Ja, im Schatten der Mutter Theresia will ich leben! Gott hat mich zu ihrem armen Knechte gemacht. Vor der Tür des Klosters will ich Bohnen aushülsen und Sandalen putzen, die der Staub des Himmels bedeckt hat.«
*
Der Aufbau des Schauspiels zerfällt in vier große Abschnitte, die als »Tage« bezeichnet sind, doch ohne daß ihre Zeiteinheit der eines wirklichen Tages entspräche; sie ist länger und umfaßt meist mehrere Wochen. Die »Tage«, zwischen deren Ende und Anfang jeweils längere Zeiträume liegen, zerfallen wieder in zahlreiche Szenen, deren Schauplatz jedesmal wechselt.
Jede Neigung zur bühnenmäßigen Illusion ist vermieden. Der Dichter legt es geradezu darauf an, sie zu zerstören, sobald sie im Zuschauer, beziehungsweise im Leser aufkommen könnte. Was da vor sich geht, ist im wörtlichen Sinne ein Spiel, dessen sich der Zuschauer beständig bewußt bleiben soll. Claudel verlangt damit wieder eine Haltung, wie sie dem modernen Theaterbesucher kaum mehr bekannt ist. Die Bühne ist wirklich als Bühne genommen. Ihre Apparatur, die während der Vorgänge sichtbar bleibt, ist als solche ihrem Wesen nach in den Sinn des Schauspiels einbezogen. Noch während die einen Personen eine Szene beschließen, treten schon andere auf, um eine neue zu beginnen; Bühnenarbeiter verrichten unterdessen ungeniert ihre Handgriffe. Das Spiel lebt einzig durch die Stärke der dichterischen Gestaltungskraft, durch das Wort und durch die Individualität seiner Figuren, die auf eine durch nichts zu erschütternde innere Wahrheit gegründet ist und aller stofflichen Äußerlichkeiten entbehren kann. Mit heiterer, geradezu karnevalsmäßiger Improvisation wird das Spiel in Szene gesetzt. Ein Spielansager beginnt es, der mit witzigen Worten eine an sich schreckliche Situation erklärt. Seeräuber haben ein spanisches Schiff geplündert und es verwüstet zurückgelassen. An einem Maststumpf angebunden steht ein Jesuitenpater und verrichtet sein Sterbegebet: es ist der Bruder Don Rodrigues. Zuweilen vermittelt eine komische, weder dem Bühnenraum noch dem wirklichen Raum eigentlich zugehörige Figur, der Irrépressible, mit clownartiger Unverfrorenheit zwischen dem dichterischen Geschehen und seinem mechanischen Vorsich-Gehen auf der Bühne. Er führt die Personen ein, behandelt sie einerseits als Schauspieler und spricht doch wieder von ihnen, zum Publikum gewendet, als seien sie authentische Personen. Oder: man sieht vor dem Vorhang, wie eine Schauspielerin vor ihrem Toilettentisch sitzt und sich zu ihrem Auftritt vorbereitet, während sie sich mit ihrer Kammerfrau unterhält; plötzlich geht der Vorhang auf, alle Utensilien werden an Fäden in die Höhe gezogen, »ach, wir sind auf der falschen Seite!«, ruft die Schauspielerin aus, und schon beginnt eine Doppelgängerin ihre Rolle auf der Bühne zu spielen.
Ohne daß die natürliche Wirklichkeit in ihrem Wesen verzerrt würde, wird durch diese Technik der Gang des Geschehens auf ungeahnte Weise beschwingt, das Schwere erleichtert, das Schwierige vereinfacht; es werden so die physischen und materiellen Voraussetzungen geschaffen, durch die das Ereignis des Wunders gegensatzlos in die dichterische Welt tritt. Erscheinung und Idee, die im Lebensraum der Wirklichkeit in ihrer Bezogenheit nicht unmittelbar erkannt werden können, fallen im Lebensraum dieser Dichtung zusammen. Sie ist darum, im genauen Sinne des Wortes, kaum mehr symbolisch zu nennen. Natur und Übernatur, die in den früheren Dramen Claudels noch erst als Rückbezogenheit des einen Bereiches zum anderen erscheinen, treten hier gleichzeitig und in ihrem unmittelbaren Bedeutungsgewicht auf.
Claudel hat mit diesem Stil den dramatischen Raum geschaffen, in dem sich ein katholisches Drama künstlerisch widerspruchslos und ungehemmt abspielen kann. Die Grundprobleme katholischen Denkens erhalten die vollkommene Möglichkeit dichterischen Ausdrucks: die Gegensätze, zwischen die die menschliche Seele eingespannt ist, finden in diesem dichterischen Kosmos ihren Ausgleich; das Tragische wird überwunden. Dabei gilt die einzelne Handlung des einzelnen Menschen, die als der Motor des aus der Klassik geborenen Dramas zu betrachten ist, nur noch im Zusammenhang mit dem übergeordneten göttlichen Wirken. Sie verliert an Bedeutsamkeit, da der Hauptakzent nicht mehr auf den freien Willen des Handelnden, sondern auf das Wirken der Vorsehung und der Gnade verlegt ist. Der Einzelne ist, auch wenn er sich gegen Gott erhebt, unfähig, zu ihm als gleichwertiger Partner in objektiven Gegensatz zu treten. Auch der von der Ordnung Abgefallene steht immer noch im Zusammenhang des großen, alles umgreifenden Weltgeschehens und steht im Universum an seinem im voraus bestimmten Platz. Das Geheimnis des freien Willens wird hier berührt. Claudel übertrifft die Möglichkeiten der Spekulation, es zu erfassen, indem er es als Dichter gestaltet und begreiflich macht. Auch ein Don Camille, dessen Tun sich vor dem Dunkel des Nichts vollzieht und – charakteristisch für den tragischen Untergang – schließlich auf ihn selbst zurückfällt und ihn vernichtet, ist, wie der Ablauf des Spieles zeigt, nicht für sich zu betrachten, sondern erhält seine wahre Bedeutung erst im Gefüge der überpersönlichen Ordnung. Und eine Gestalt wie die der Doña Musique wäre undenkbar ohne die sicher gewußte Realität der Übernatur, aus der ihr geheimnisvoll und unmittelbar die Lebenskraft zufließt. In einem nur auf das Natürliche beschränkten dramatischen Handlungsraum wäre ihr Schicksal grotesk. Man halte es sich vor Augen. Ein lebensfremdes, in den Träumereien sehnsüchtiger Jugend befangenes Mädchen liebt den Vizekönig von Neapel, dessen Bild ihr im Traum erschienen ist. Sie gerät auf dem Weg zu ihm einer zweifelhaften Gesellschaft in die Hände; ein Kerl macht sich ihre Gutgläubigkeit zunutze und gedenkt unter der Vorspiegelung, der Vizekönig habe ihn ausgesandt, nach ihr zu suchen, sich ihrer zu bemächtigen und sie als Sklavin an die Mauren zu verschachern. An der sizilianischen Küste erleidet die Reisegesellschaft Schiffbruch. Doña Musique allein vermag sich zu retten. Sie verbirgt sich in den Wäldern und lebt von den Opfergaben, die die Landleute einer heidnischen Göttin darbringen. Eines Tages begegnet ihr ein vornehmer Jäger, den sie, ohne sich zu besinnen, als den Vizekönig von Neapel anspricht. Berichtet man nun, daß er es wirklich ist, daß er, der leichtfertige Lebensgenießer, zu dieser bezaubernden Ingénue (weder arglos noch unbefangen noch irgendein anderes Wort der deutschen Sprache bezeichnet genau die Nuance dieser Mädchennatur) eine große und ernsthafte Liebe faßt, so klingt das plump und sieht nach einer beinahe albernen Konstruktion aus. In Wirklichkeit aber ist die Begebenheit wahr in einem viel weiter dimensionierten Sinne, als ihn das Wahrscheinliche je erreichen kann. Dem Dichter bleibt es vorbehalten, in den kritischen Wendepunkten dieser Geschichte das Leben zu zeigen; und es gelingt ihm: er zeigt es.
Claudel hat mit dem »Soulier de Satin« bewiesen, daß es ungeachtet aller theoretischen Erörterungen keine ästhetischen Gesetze an sich gibt, die eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürften. Die Kraft eines schöpferischen Geistes wird sich stets nur daran erweisen, ob sie ihrem Gegenstand eine Gestalt zu verleihen vermag, die ihm wesenhaft ansteht. Auch die Form ist unbedingt metaphysisch begründet. Daher wird man in wahrem Sinne von katholischer Kunst nur reden können, wenn die natürlichen Gegensätze von Inhalt und Form zu einer Synthese gelangen. Der »Soulier de Satin« ist ein Idealfall dafür, unantastbar in religiöser wie in ästhetischer Hinsicht. Es wird nicht unberechtigt sein, dem Ästhetischen hierbei die Betonung zu geben. Bei der Erörterung des Problems katholischer Kunst geht es heute nur darum; das Religiöse als die unerläßliche Voraussetzung versteht sich im Grunde von selbst. Ob aber katholische Kunst im Ernstfall ihrer apostolischen Aufgabe gerecht werden kann, hängt davon ab, daß sie wirklich und unanfechtbar als Kunst besteht. In Anbetracht der Lösung, die das Problem des katholischen Dramas durch Claudel erfuhr, will es scheinen, als sei das andere heute heftig erörterte Problem des katholischen Romans weniger eine Frage der Materie als eine der schöpferischen Kapazität, die auf diesem Gebiet der Dichtung vorderhand fehlt. Was aber könnte sachlich dagegen sprechen, daß der große katholische Roman eines Tages nicht doch entstünde? Seine Erscheinung wird sich von den bisher bekannten Ausprägungen ebenso grundsätzlich unterscheiden wie der »Soulier de Satin« vom bisherigen Drama. Niemand kann sagen, wie er aussehen wird. Aber wäre vor Claudel auch nur die geringste Vermutung darüber möglich gewesen, auf welche Weise sich das katholische Drama erfüllte? Und hätte man, nachdem die Erstlingsdramen Claudels erschienen waren, »Tête d'Or« und »La Ville«, voraussehen können, daß ein »Soulier de Satin« entstand, der noch die »Annonce faite à Marie« bei weitem übertrifft? – Der schöpferische Geist wird uns stets überraschen; nichts kann ihm unmöglich sein.