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» Solet esse gravis cantantibus umbra.«
Es fällt einem schwer, bei Gelegenheit einer Ankündigung über Gedichte zu schreiben, die wie alles Große die Fähigkeit haben, einen bis zur Ausschließlichkeit zu entzücken. Die genormten Begriffe, an denen man sonst nüchtern das Schlechte zu messen pflegt, beginnen plötzlich fraglich zu werden und erweisen sich als zu knapp, um die Fülle lebendiger Verse ganz zu umfassen. Man sieht sich verlegen um jedes Wort und möchte am liebsten, auf den Leser vertrauend, in aller Bescheidenheit sagen: »Da sind sie, große Gedichte; nimm sie und lies!«
Das erste Gedicht von Paul Appel, das ich vor einigen Monaten las, hieß »Friedhofswanderer« und war in einer Zeitschrift abgedruckt, um auf einen Band »Gedichte« aufmerksam zu machen, der im Albert Langen/Georg Müller Verlag mittlerweile erschienen ist. Ich war damals auf nichts gefaßt, ich befand mich nicht entfernt in einer lyrischen Stimmung, es war eine mittägliche Ruhestunde, ich schmökerte herum, ohne die nötige Anteilnahme zu haben an dem, was ich las, – da traf ich plötzlich auf folgendes:
Kennst du ihn am betäubten Auge,
Wenn er stumm im Felde geht,
Wenn er unterm Abendhauche
Bei den freien Mauern steht.
Fast schmerzhaft drangen die Worte in das in lässiger Ruhe zerstreute Bewußtsein; weckend, straffend zuerst, dann wie bezaubernd
Kommt von Dorf zu Dorf gegangen,
Zog den Weg von Stadt zu Stadt.
Stiller Wahn hat ihn gefangen.
Stiller Wahn macht ihn jetzt satt.
Das war mehr als ein gutes Gedicht, wie es in einer gesegneten Stunde manchem einmal gelingt und wie man es dann in irgendeiner Zeitschrift oder in mittelmäßigen und schlechten Lyrikbänden vereinzelt entdeckt. Bei aller Schönheit sind solche Gebilde immer auf eine unverkennbare Art anonym, denn jemand, der ein gutes Gedicht macht, ist noch lange kein Dichter. Aber:
Gütig kleine Angedenken
Legt er murmelnd auf ein Grab:
Blüten, Moos, die kleinen Federn,
Die ein toter Vogel gab ...
Solche Verse konnten nicht mehr der Gnade eines einzelnen Zufalls zu danken sein. Was sich hier in den Klängen und Bildern der Sprache erging, rührte ganz offenbar aus jener zuständlichen Fähigkeit her, die auch an anderen Gebilden gleich stark erkennbar sein mußte und deren Besitz einen Menschen zum Dichter erhebt.
Ein Gefühl von Reichtum ist denn auch das erste, was Appels Gedichtband erweckt. Unter den bemerkenswerten Lyrikbüchern, die in neuester Zeit wieder erfreulich zahlreich erscheinen, ist kaum eins zu finden, in dem jedes einzelne Stück aus einer derart starken inneren Notwendigkeit bestünde wie hier. Das gilt selbst von Gebilden, bei denen die Empfindung mit einer Glut in die Sprache schoß, die den Wortleib verbrannt und verascht hat, die also, ästhetisch gesagt, zu formlos als Aussage blieben. Es sind nur wenige Stücke, gegen die sich dieser (überhaupt einzige) Einwand erheben läßt, und sie verschwinden vor der überwiegenden Mehrzahl der anderen, an denen die Vielfalt der lyrischen Tonarten, die Appel anschlägt, überrascht. Eine Gefahr, die heute den besten Dichtern zu drohen scheint, daß sie nämlich bei ihrer Bemühung um den ständig neu zu erringenden Stil zu einer Nachahmung der eigenen, einmal bewährten Mittel greifen, ist hier völlig vermieden. Bei jedem Gedicht entsteht der Ausdruck aus dem Anlaß der Empfindung unmittelbar neu, und wenn die Eigenart von Appels Stil trotzdem deutlich hervortritt, so liegt das nicht an Formeln und Floskeln, sondern einzig am Tonfall der lyrischen Stimme. Natürlichkeit ist das hervorstechende Kennzeichen von Appels Stil. Darum ergibt sich ihm auch die Sprache in einer selten gewordenen Unschuld. Unter dem Einfluß des Dialektes, der schon Goethes Schriftdeutsch gelockert hat, ohne es umzubiegen, erwirbt sie eine Fülle, der kaum ein Ausdruck versagt bleibt. Sie findet wieder die Schlichtheit des Tones, den man seit Mörike nicht mehr vernommen hat:
Freund, wir sind irdisch.
Komm, es wird Abend.
Lege dein Haar an meins
Und ruhe recht.
Daneben stehen andere Verse, in denen die Sprache sich um das genaueste Bild, um die treffendste Form, um das eindringlichste Wort bemüht und dabei wie selbstverständlich zum neuen, bisher niemals gehörten Ausdruck gelangt:
Nicht mehr Schall! Nur guten Laut,
Aus dem Dank gebürtigt!
Glück dazu und heitren Gruß
Jedem, der sich irdischt!
Am Reichtum der Rhythmen aber wird die schöpferische Anlage des Dichters erst in ihrem ganzen Umfang zu ermessen sein. Denn der Wille allein: die Mache kann es niemals erzwingen, daß ein Gefühl, ein Bild, überhaupt eine Aussage in einer rhythmischen Bewegung ihren bestmöglichen Ausdruck erhält, oder daß (was von Dichtern wiederholt bezeugt worden ist) ein abstrakter Rhythmus als das von Anfang an Lyrische, geheimnisvolle Schwingung der Seele, zu Worten findet und im Zusammenhang einer Bedeutungsfolge konkret wird. Hier setzt die Gnade ein, der allein es zuzuschreiben ist, wenn von Appels Gedichten ein jedes seinen spezifischen Rhythmus besitzt. Der Rhythmus ist das Primäre der Lyrik, die metrischen Gesetze sind nur ein Gerüst, das ohne einen darüber hinausschwingenden Rhythmus dürr und leer bleibt, und das der Rhythmus gefahrlos verlassen kann, um ganz sein eigenes Gesetz zu erfüllen:
Wenn ich vor dir ruhe,
Wenn wir stille sind,
Wenn du nach mir blickst,
Mit dem Blick mich schirmst:
Immer muß ich des Flötenmädchens gedenken,
Des ernst geschminkten, des froh geschmückten.
Es lebte dem Freunde und sprach zu ihm:
Ich habe dich lieb bis zur Aschenurne,
Vergiß mich nicht, mein Inniger.
Der Raum einer westdeutschen Flußlandschaft ist der sinnliche Bereich, in dem sich Appels Lyrik ergeht. Ihr Name aber kann letzten Endes wenig besagen, denn wo die übliche Heimatdichtung zu enden pflegt, beim Umgrenzen und Nennen des Besonderen, erhalten Appels Gedichte erst ihr eigentliches Gewicht. Was an Landschaft in ihnen erscheint, ist »Welt« geworden in einem viel weiteren Maß als sie der einzelne Lebensbereich faktisch umfaßt. Appel weitet die Bedeutung von Augenblick und Ort seines Erlebens aus, bis die derart erfahrene Landschaft zum Gleichnis objektiviert ist. Daß dies geschieht, bewahrt ihn zugleich davor, jemals im Nur-Subjektiven zurückzubleiben. Auch das Schwierigste, das Liebesgedicht, das infolge einer berechtigten Furcht vor der Ungültigkeit des Privaten in der neueren Lyrik so selten ist, kann ihm in einer Reihe vollendeter Stücke gelingen. Der Grund hierfür ist in der besonderen Einstellung zu suchen, mit der Appel der Welt gegenübertritt. Wie jeder Lyriker ist er als ein Erlebender subjektiv, aber nicht, was man meist damit gleichsetzt, subjektivistisch. Das Gewicht, das die objektive Welt für ihn hat, ist bei weitem größer als das Gewicht seiner eigenen Existenz. Obwohl sein Ich das dunkle Schicksal erleidet, ständig bedroht von Vernichtung, weiß er, daß außerhalb seiner die Fülle und heile Schönheit der Welt ist, um die er sich, rettungsuchend, unaufhörlich bemüht. Was aus ihr erhellend in den düsteren Seelenraum eintritt, die Erscheinung des Du, die Landschaft, der einzelne Gegenstand, bleibt auch in der unmittelbarsten Begegnung ein absolut Objektives (denn dieses allein wird gesucht) und ist damit für die Dichtung gesichert. Das Sein dieser Welt zu rühmen, überströmend von Dank, wenn es sich ihm gewährt, klagend bis zur Verzweiflung, wenn es dem seelischen Bewußtsein entzogen wird, ist der unaufhörliche Anlaß zu Appels Gedicht. Es befähigt ihn auch, eine ganz ihm eigentümliche Art der Idylle zu entwickeln. Wohl auf Grund einer geheimen Physik der Seele waren es immer die schmerzvertrautesten Dichter, denen die große Herrlichkeit des Lebens in den zeitlos natürlichen Formen des Daseins erschienen ist, denn je wahrhafter eine Seele leidet, desto weniger wird sie die Arroganz des Weltschmerzes haben, dessen wahre Ursache ja nichts weiter ist als der Solipsismus des Kindes, das den Stuhl schlägt, an dem es sich stößt. Das wahre Leiden hat sich immer als »Unart« empfunden und auch in seinem verzweifeltsten Ausdruck noch jene rührende Scham gezeigt, die ein Tier, wenn es krank ist, veranlaßt, die Herde zu fliehen und sich abseits zu verstecken. Man wird bei einem starken Leiden beobachten können, im Gegensatz zu jener unnatürlichen Haltung, bei der das Leiden zum wohlig genossenen Selbstzweck wird, wie der Wert der Freude, der Glaube an das Gutsein der Welt mit dem Maße des Schmerzes im selben Verhältnis wächst. Aus dieser Haltung entsteht die echte Idylle, die in der deutschen Dichtung nur wenige große Vertreter besitzt, denn was im 18. Jahrhundert Voß und Geßner auf diesem Gebiet schufen, gehört doch nur in die Rubrik der bloßen Literatur, und einzig Mörikes »Idylle am Bodensee« könnte als das maßgebende Stück in der deutschen Dichtung genannt werden, wie überhaupt bei Mörike das Idyllische in seiner großen, ganz und gar nicht diminutiven Bedeutung anzutreffen ist.
Das Charakteristische an Appels Idyllen ist ihr autobiographischer Kern, der auch der reinen Landschaftsschilderung noch zugrunde liegt, und aus dem sich mit der immanenten Gesetzhaftigkeit eines Naturvorgangs die Elemente und Motive der Gattung gleichsam aufs neue entwickeln. Das macht diese Idyllen erstaunlich frisch und kühn, urwüchsig in der genauen Bedeutung des Wortes, und läßt zugleich an das Größte denken, was je in dieser Gattung entstanden ist, ich zögere nicht zu sagen: an Stücke, wie sie nur die griechische Anthologie enthält, und dies obwohl, oder vielmehr gerade, weil Appel auf Darstellungsmittel verzichtet, die seit der Antike doch nur zu einer nichtssagenden Konvention geworden sind. Das Schäferliche ist bei ihm völlig verschwunden, und mit ihm auch alles idealisch Versimpelnde, jedes gefährliche Sentiment. Die Welt, die Appel ausmalt (denn das Malende ist ein Charakteristikum der Idylle), nimmt die erlebbare Wirklichkeit, die tägliche, in der sich jeder von uns bewegt, in Bausch und Bogen in sich hinein. Appels Anschauungskraft durchdringt noch den krüdesten Stoff, das banalste Objekt, das flüchtigste Wort und bringt es leuchtend und zugleich unversehrt in das Gedicht herüber.
Freilich wird so etwas immer nur möglich sein, wenn das Glück, von dem die Idylle aussagt, schon als Erleben das spätere Kennzeichen der Dichtung: die innere Intensität, besitzt, wenn die preiswürdige Welt nicht in der Vorstellung, im besseren Gefilde romantischer Sehnsucht, sondern, was uns stärker nottut denn je, in der »blutschönen« Wirklichkeit und aus dem besser erlernten Umgang mit ihr offenbar wird. Der Dichter kann nicht mehr der Träumer sein: er steht in der Welt – ein großer Namengeber, und kennt ihre Fülle besser als wir. Glauben wir ihm, wenn er sagt, daß kein Traum so leuchtend sein kann wie das wirkliche Leben.