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»Heute veröffentliche ich die beiden ersten Bände des Werkes, das vermutlich das Hauptwerk meines Lebens sein wird.« So beginnt Jules Romains das Vorwort zu einer Romanserie, die den Titel trägt »Die guten Willens sind«, und von der bis jetzt zwei Bände in deutscher Übersetzung vorliegen (Rowohlt Verlag, Berlin). Wenn der Dichter im selben Vorwort weiterfährt, er wolle damit »eine weitgreifende Dichtung in Prosa unternehmen, die im Tonfall und in der Vielfältigkeit, im Einzelnen und im Werdegang die Vision der modernen Welt darstelle«, so liegt der Gedanke an Balzac nahe. Aber schon die Lektüre des ersten Bandes belehrt einen darüber, daß sein Werk mit Balzacs »Menschlicher Komödie« nur die Absicht, nicht aber Haltung, Mittel und Ausdruck gemeinsam hat. Romains, Unternehmung ist, wie er selber sagt, weniger eine Romanreihe, als ein Roman von ungewöhnlich großen Ausmaßen. Wenn bei Balzac das einzelne Werk eine zumindest in dieser oder jener Hinsicht in sich abgeschlossene Geschichte ist: die Geschichte der »Vaterliebe«, die Geschichte des »Geizes«, die Geschichte des Landarztes, die der alten Jungfer, die Geschichte des jungen Mannes aus der Provinz, die dann, alle zusammen genommen, das Bild einer Welt entwerfen, so erstreckt sich bei Romains die Konzipierung der Idee vor allem auf jenes Weltbild selbst. Seine einzelnen Figuren besitzen kaum noch eine selbständige Bedeutung als »Helden«. Das Werk Balzacs mag sich formal zu dem Romains' verhalten wie ein lockeres, netzartiges Geflecht zu einem festen, undurchsichtigen Gewebe. Romains gibt die dichterische Schau eines Kollektivs; eine vollständigere Schau jenes kompakten Wesens mit dem Namen Paris, als sie jemals versucht worden ist.
Man darf kaum noch von Handlung im herkömmlichen Sinne sprechen. Gleich im ersten Bande werden wir vor eine Unzahl parallel laufender, da und dort sich überschneidender, eben beginnender oder gerade aufhörender Handlungen gestellt, deren Verläufe als die Lebensäußerungen eines geheimnisvoll lebendig empfundenen Paris betrachtet sein wollen. Die Kraft, die den Organismus dieses Stadt- und damit Kollektivwesens bewegt und von der alle Figuren gespeist werden, ist das Leben einer Zeit, das Leben der Vorkriegsjahre, wie es sich in Ideen, Tendenzen, Lebensformen und Ereignissen kundtat. Dieses Leben erscheint bei Romains, dem Dichter des »Unanimisme«, als etwas völlig Außergewöhnliches. Schicksalhaft sind die auftretenden Personen in seine Macht gegeben, sind von ihm an diesen oder jenen Platz, in diese oder jene Schicht gestellt, und wenn sie auch zu Bewußtsein kommen, wenn sie Willen und Kräfte aufbieten, um ihre Lage, die ihnen mißbehagt, zu verändern, um zu streben nach dem, was ihnen die Umstände ihrer Geburt versagt haben, nach Abenteuer, nach Reichtum, nach kostbaren Frauen: wer weiß, ob sie da, widerspenstig anscheinend, aufbegehrend, trotzend jenem überpersönlichen Leben, nicht gerade dadurch seine letzten Absichten erfüllen?
Der erste Band des Werkes schildert, wie schon der Titel sagt, einen einzigen Tag, einen Pariser Herbsttag der Vorkriegszeit, den 6. Oktober 1908. Das große überpersönliche Ereignis ist die Unabhängigkeitserklärung Bulgariens. Vorkriegsstimmung. Österreich beabsichtigt, Bosnien und die Herzegowina zu annektieren. Es wird dargetan, wie diese Ereignisse wirken: auf den anonymen Zeitungsleser zunächst, auf jenen »Morgen, da Paris zur Arbeit geht«, auf den Arbeiter, auf den Beamten; dann im Verlauf des Buches auf den Einzelnen: auf den sozialistischen Schulmeister, auf den Parteiführer, auf den hohen politischen Beamten, auf seine Freundin, die Schauspielerin. Dabei werden all diese Personen in ihrem Leben und Sein gezeigt, ebenso wie die vielen anderen, die sich nicht für Politik interessieren: der Verbrecher, der abenteuersüchtige Buchbinder, der ehrgeizige Lehrling, der junge Student, der zweifelhafte Spekulant, die mannstolle Weibsperson (jedenfalls kennt man vorderhand noch keine weiteren Motive, die sie veranlaßt haben könnten, mit dem fixen Burschen von Lehrling in Verbindung zu treten), ferner zahllose, nur flüchtig in Erscheinung tretende Personen, die von keinem weiteren Interesse sind als dem, daß auch sie existieren, daß auch sie teilhatten an jenem Tag und an jener Gemeinschaft. Stunde um Stunde jenes 6. Oktober verrinnt. An den einzelnen Zellen, an den bei Romains nur noch sogenannten Individuen, aus denen der Leib Paris zusammengesetzt ist, an den weiteren Umständen, die ihn ausmachen: körperliche Erscheinung der Stadt (bei deren Beschreibung Romains eine wunderbare Schilderungskraft beweist), Lage und Klima, Witterung und wechselnde Beleuchtung, an der Bewegung der Tageszeiten, an all dem wird das Leben dieses Kollektivwesens aufgezeigt. Charakteristisch für diese Art zu erzählen sind schon die Überschriften: Maler bei der Arbeit. Schlafende Frau. Ein Kind des Jahrhunderts. Die Dame im Autobus. Anlaß genug, damit Romains seine Gabe, das Belanglose, das Alltägliche und Unbeachtete dichterisch zu sehen und darzustellen, entwickelt. Kapitel wie »Paris fünf Uhr abends« oder »Des kleinen Knaben große Reise« sind Stücke lauterer Poesie, das eine großartig, das andere von einer unbeschreiblichen Anmut und Zartheit.
Der zweite Band, »Quinettes Verbrechen«, bringt dann von einer vereinzelten Handlung genauere Umstände: da ist der Buchbinder Quinette, der, durch Zufall an einen Verbrecher geraten, aus purer Sensationslust den wahnsinnigen Entschluß faßt, das Schicksal dieses Menschen in die Hand zu nehmen. Er versucht, ihn gegen die Polizei zu schützen. Doch bald droht ihn sein eigenes Werk zu vernichten. Er kann sich nur noch wehren, indem er ein neues Verbrechen begeht. Er beseitigt seinen gefährlichen Schützling.
Doch es wäre falsch, nun in dieser »Handlung« das Zentrum des Werkes suchen zu wollen. Die Handlung steht gleichsam nur im zufälligen Blickpunkt, in der augenblicklichen Sicht eines Interesses, das viel zu weit und viel zu umfassend beteiligt ist, als daß ihm dies einzelne, nur beispielhaft gemeinte Geschick genügen könnte. Es ist bedeutsam, daß auch die noch »handlungs«ärmeren Gestalten, wie der Lehrling, der Politiker, der Student, mit genau demselben Interesse, mit derselben Wichtigkeit, mit denselben Mitteln dargestellt werden und keineswegs nur Neben- oder Hintergrundfiguren sind.
Die Kenntnis, die die deutsche Literatur durch die Rowohltsche Ausgabe dieses Werkes erhält, kann in ihrem Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist ein Beitrag zu dem Problem, welches das wichtigste der modernen Literatur sein wird, zu dem Problem der Romanform. Man sei sich bewußt, daß der Roman als Form im Sinne des Dramas oder der festen Formen der Lyrik noch kaum existiert. Seine Form, selbst bei den berühmtesten Beispielen der Weltliteratur, ist meist das simple Nacheinander mittelalterlicher Epik, aus der der Prosaroman als gesunkene Kunstform hervorgegangen ist.
Jules Romains bricht mit dieser Tradition. Schon sein 1911 erschienener Roman »La mort de Quelqu'un« bediente sich einer Art von Technik, die man am besten als kinematographisch bezeichnen mag. Doch nicht, als ob sie vom Film beeinflußt worden wäre. Romains erfand ja diese Technik in einer Zeit, als es noch kaum einen Film gab. Sie erwuchs rein als Folge der künstlerischen Forderungen, die von Romains an den Roman gestellt wurden. Sein Problem aber ist im Grunde das Problem der Gestaltung der Zeit. Jedes dichterische Geschehen hat, wie seine eigene Wirklichkeit, auch sein eigenes zeitliches Gesetz. Es zu erkennen, es zu entwickeln und es anschaulich zu machen, ist das Ziel einer Gruppe moderner Romandichter, von denen neben Romains Gide, Proust, James Joyce, John Dos Passos und andere zu nennen wären. Die Erfüllung dieses Gesetzes zieht unmittelbar die Erfüllung einer Romanform nach sich. Das ist dem epischen Stil gegenüber das Neue. Der epische Stil unterwirft noch das dichterische Geschehen ganz dem Gesetz der wirklichen Zeit. Notwendigerweise wird es dabei stets in Konflikt mit ihr kommen. Die Sprache schwillt über von zeitlichen Bestimmungen, um so die Ordnung möglichst wiederherzustellen. »Es vergingen mehrere Jahre ... Nach soundso viel Tagen ...« sagt sie. Oder sie zieht das dichterische Geschehen rein berichtend zusammen, nur um den Gesetzen der wirklichen Zeit zu genügen.
Leider ist hier nicht der Platz, um dies überaus wichtige Problem gewissenhaft zu untersuchen. Es ist auf seine Art – denn jedes dichterische Geschehen hat seine besondere Zeit und damit als Roman seine besondere Form – in Romains' »Am 6. Oktober« vollkommen gelöst. Der Leser möge sich am besten selbst daran orientieren.