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Am 27. August 1935 waren es 300 Jahre, daß der Dramatiker Lope de Vega starb, einer der merkwürdigsten Dichter aller Zeiten; solange er lebte, einer der gefeiertsten; sicherlich nicht Spaniens größter, aber derjenige, aus dem der Genius seiner Welt und seiner Zeit am reinsten und deutlichsten sprach.
Lopes Werk ist ebenso erstaunlich wie sein Leben, und beide waren derselben Hinfälligkeit ausgesetzt. Die Zeit hat ihre unerbittliche Arbeit getan; sie ließ zurück, was ihr selbst, ihrem Damals, diesem Zeitgefühl spanischen Barocks gewidmet war, und wollten wir Nachfahren, bedacht darauf, in der Vergangenheit zu suchen, was unsere Gegenwart noch nähren kann, uns an Lopes Lebenswerk mit solcher Absicht heranbegeben, wir würden dabei nur enttäuscht. Es bleibt uns wenig ad usum. So riesig sein Werk auch dem äußeren Umfang nach ist: die Züge des Menschenbildes, wie sie uns Homer, Vergil, Wolfram, Shakespeare, Cervantes, Grimmelshausen, Goethe als im Wesen unveränderlich überliefert haben, der ewige Mensch, der Bruder im Geiste unseres täglichen Umgangs wird in Lopes Dichtung nirgends anschaubar; keines seiner Geschöpfe besitzt die Kraft, aus dem Bannkreis seiner Welt herauszutreten, um uns wie Odysseus oder Parzival oder der Ritter aus der Mancha eigenlebendig zu begleiten; sie müssen genau so wie ihr Schöpfer, Lope selbst, in ihrer Atmosphäre belassen bleiben, wenn sie uns überhaupt noch begreiflich sein sollen.
Karl Voßler hat es in einem bei C. H. Beck in München erschienenen Werk, »Lope de Vega und sein Zeitalter«, unternommen, auf eine Art, die schon Kunst ist, dieses zeitliche Einst und dieses hundertfältig bestimmte Dort zu rekonstruieren.
Kaum ein Dichter hat jemals so vollständig und ausschließlich von seiner Welt Zeugnis abgegeben wie Lope. Er ist in dieser Hinsicht zu betrachten wie ein mustergültiger Fall. Denn zu sehr Dichter, um nur willenlose Kreatur zu sein, wie sie jeder Zeitgeist sich immer wieder schafft, war Lope auch wieder viel zu bewußtlos, um etwa als Gewissen seiner Zeit zu gelten, wie es Dante für die seine war. Ganz einfach, auf natürliche Art möchte man sagen, wenn das Ereignis nicht zu selten wäre, ist Lope nicht mehr als das Medium, durch das sich der zum Bewußtsein seiner selbst gelangte Genius jenes Spaniens darstellt, das 1588 seine Weltmachtstellung mit dem Untergang der Armada politisch gesehen einbüßte, dem aber noch einige Jahrzehnte einer derart überschwenglichen geistigen Entfaltung gewährt waren, daß sich dahinter der beginnende Zusammenbruch seiner Macht verbarg. Lopes Leben begrenzt diese Zeit. Er fährt mit der Armada gegen England, ohne ihren Untergang ernstlich deuten zu können. Und als er stirbt, einige Stunden vorher, dichtet er über das Goldene Zeitalter, doch wohl kaum in der Ahnung, daß es die Stunde ist, da es auf Spanien gilt.
Dieser Lope de Vega lebte nie aus sich selbst. Obwohl seinem Dasein, das bis ins Einzelne hinein bekannt ist, alles denkbar Menschliche widerfuhr, hat es im Laufe der Zeit nichts an jener inneren Gestalt gewonnen, durch die allein ein Mensch sich der Nachwelt verewigt. Entwicklungslos läuft es ab. Der fünfundzwanzigjährige Lope, der einer Frau wegen in Händel gerät, den man der Verleumdung überführt, der im Gefängnis sitzt, verbannt wird, aber trotzdem zurückkehrt, um Hals über Kopf eine zweite Frau heimlich zu heiraten, ist derselbe wie jener, der fünfzigjährig, von Alter und Reue geplagt, in den geistlichen Stand tritt und kurz darauf, als Priester, sich einer verheirateten Frau verbindet, die von ihm ein Kind erhält. Dazwischen liegt nichts anderes, ein Unmaß an Erlebnis, das größtenteils in sein Werk übergeht, aber nur als Stoff, abgewandelt, wohl auch moralisch betrachtet oder als Selbstbespiegelung, doch ohne etwas an Sinngebung und Sinngestalt zu erfahren. Um zu erklären, was ich meine: dieser Lope, der für uns Betrachter mitten in der Welt des Don Juan existiert, der selbst Züge dieser Figur an sich trägt, kommt nicht zu der Besinnung und geistigen Überhebung, die uns unmittelbar aus der Wirklichkeit heraus diese Gestalt als geistig anschaubar hätte vorführen können. Lope ist wie nur je einer der Don-Juan-Dämonie ausgeliefert gewesen; er hat diese Spannung gespürt, die zwischen einer äußersten, niedrigsten und in ihrer Naturhaftigkeit auch wieder gewaltigsten Hingabe an das Geschlecht und einem bei aller Brunst ununterbrochen anwährenden Wissen um Göttliches, um Ordnung und Gesetz entsteht – Spannung, durch die allein Don Juan aus einem dummen Tier zum Dämon wird –, aber er, Lope, vermochte nicht, sie als ein Sinnbild zu gestalten; die Wüstlinge, die seine Komödien bevölkern, sind trotz der Wahrhaftigkeit, mit der sie gesehen sind, doch nur sehr stoffliche Zeitgenossen; ob sie als Wüstlinge untergehen, ob sie Gnade erfahren, Buße tun, sie bleiben Typen ihrer Zeit, die wir nur mühsam und nur historisch verstehen, und werden nie zu Typen eines zeitlos gültigen Menschseins. Don Juan in diesem Sinne zu erfassen, als Geistgestalt, war erst der Musik Mozarts vorbehalten. Ein eigenartiger Bezug einerseits, und anderseits wieder eine ebenso eigenartige Bezuglosigkeit herrschen so zwischen Lopes Leben und seiner Dichtung, erklärbar nur durch das in engerem Sinne Typische seiner gesamten Erscheinung. Aus seinem Werk ließe sich kein Bild einer einmaligen geistigen Individualität entwickeln, wir sind angewiesen auf das, was wir konkret von seinem Leben wissen. Sein Werk ist freilich spanisches Barock auf konzentrierteste Art, doch als Begriff, als Species, und nicht als eigenmächtige, nur einmalig denkbare Leistung, so wie es das Werk Shakespeares innerhalb der englischen Renaissance ist, oder, um im Spanischen zu bleiben, wie der Don Quijote innerhalb desselben spanischen Barock. Den Begriff zwar erfüllt Lopes Kunst aufs höchste. Aber – die Frage drängt sich auf – hätte ihn ein anderer nicht ebenso erfüllen können? Er müßte nur wie Lope gedacht und gelebt haben. Und viele um ihn her haben es auch getan. Lopes Leben war typisch. Daß aber gerade er es war, der seiner Zeit mit den Erfindungen seiner Spiele ihr Ebenbild entgegenhielt, in dem sie sich begeistert und jubelnd erkannte, rührt nicht aus einer persönlich menschlichen Größe; es war Gabe, Gnade, Schicksal, daß so wie in ihm in keinem der zahllosen zeitgenössischen Dichter das typisch Spanische jenes Zeitraumes wirksam geworden ist. Der enorme Stärkegrad dieses Typischen ist auch Lopes einzige persönliche Besonderheit, war Grund seiner einstmals gewaltigen Erfolge, zugleich aber Grund, warum sein Werk so rasch vergessen ward; es lebte zu ausschließlich von seiner Zeit, nur aus ihr, nur für sie. So betrachtet ist es auch nicht weiter erstaunlich, daß seine Kunst, gleich seinem Leben, keinerlei innere Entwicklung erfährt. Das Handhaben der technischen Mittel vervollkommnet sich wohl, das Gefüge seiner Stücke wird stärker, der Vers geschmeidiger, wohlklingender, die Fähigkeit, Figuren zu zeichnen, nimmt zu: all das ist aber nur gesteigertes Virtuosentum. Der große Dichter, der Lope war, hat nie versucht, aus dem Stoff seiner zeitlichen Welt allmählich die eigene überdauernde zu erbauen. Er begnügt sich mit seinem fabelmäßigen Talent (Lope, der höchste Gipfel, den das Talent je erreichen kann, ist vielleicht immer noch weniger als ein zerbrochenes Genie, wenn es wirklich in seiner Anlage Genie war), die Welt, die ihn umgab, zu spiegeln, zu beleuchten, zu inszenieren mit einer barocken phantastischen Kunstfertigkeit. Das Äußerste, was seine Kunst erreicht, ist die Apotheose des zeitgenössischen Spaniens, jenes heldischen, dessen Nationalgefühl, einst erwacht durch die Kriege mit den Mauren, zu Lopes Zeit im Herzen des Granden wie im Herzen des Bettlers gleich versengend glühte, jenes Spaniens der Weltherrschaft, des absoluten Königtums und einer Katholizität, die im Streit gegen die Ketzer zu hellstem Bewußtsein kam.
Lopes Theater ist einst ebenso wirklich gewesen wie die Täglichkeit jener barocken Zeit. Die Grenze von Schein und Sein verschwamm. Theater war für den damaligen Zuschauer alles andere als Kunst in unserem Sinne; die Wirklichkeit der Bühne war für ihn dieselbe wie die, die ihn umgab, eine stärkere vielleicht, glühender als die seines eigenen Daseins, das kümmerlich genug sein mochte, aber trotzdem: Leben von seinem Leben, spanische Gegenwart, auch wenn das Theater in graue Vorzeiten schweifte, Spanien und nichts als Spanien, spanische Luft, Erde und Sonne, auch wenn der Schauplatz an fernsten Orten lag. Und für Lope wieder war seine Wirklichkeit schon vorgeformtes Theater. Die Liebhaber, die eifersüchtigen, die süßlichen, die glücklichen und unglücklichen, sie liefen leibhaftig durch die Gassen Madrids, sprachen wirklich so blumig und verschroben, wie er sie von der Bühne herab reden ließ; die Mädchen, die Damen, die Witwen, die Dirne und die Kupplerin ebenso wie die hochherzige, großmütige Frau, die große, die größte, sie agierten auf der Bühne und sahen unten vor der Rampe dem Spiel zugleich zu; und die Könige, Helden und Heiligen, die Engel und Teufel, sie waren für die Zuschauer, schon ehe das Spiel begann, von solch unbezweifelbarer Realität, so bekannt, so vertraut, daß es genügte, wenn der Dichter sie auftreten und handeln ließ; er brauchte sie nicht noch einmal neu und lebendig zu schaffen, er durfte mit der Vorstellungskraft seiner Zuschauer rechnen, und es genügte, wenn er um ein Schema den Strahlenkranz wand; das zuschauende Auge des Volkes besorgte das übrige, denn es war imstande, schöpferisch zu sehen; eine Figur, die königlich redete, die auf mehr oder weniger abstrakte Art nach dem Willen des Dichters die Tugenden oder die Fehler eines Königs auf sich vereinigte, wurde dem Volk »unter dem Auge« lebendig und wirklich. Das Volk ging hin und schaute seine Welt; keine neue, keine geistverwandelte, auch nicht durchleuchtet wie bei Shakespeare, gedeutet wie bei Molière, erklärt wie bei dem etwas späteren Calderón, sondern dieselbe Welt der ihm selbstverständlichen und scheinbar unerschütterlichen spanischen Begriffe Glaube, Ehre und Nation. Und sie gefiel ihm; es schrie nach seinem Dichter und verlangte nach weiteren Spielen (die Literatur war im damaligen Spanien von einer unglaublich wichtigen Bedeutung), und Lope war unermüdlich genug, sie ihm zu liefern; es gab keinen Stoff, der ihm nicht recht gewesen wäre, nichts, das er nicht vermocht hätte auf die Bühne zu bringen. Lope schuf unter solchen Umständen das umfänglichste Werk, das uns je ein namhafter Dichter hinterlassen hat: 470 Theaterstücke (wobei er wahrscheinlich das Dreifache geschrieben hat), eine Unmenge Gedichte, Episteln, gereimte Abhandlungen, Episches, Novellistisches.
Doch keines seiner dramatischen Werke sticht durch eine Unterscheidung, die innerlich begründet wäre, von den anderen ab. Man kann sie einteilen nach stofflicher Hinsicht in Fronleichnamsstücke, biblische Stücke, Heiligenspiele, Sittenkomödien (die sogenannten Degen- und Mantel-Stücke), tragisch angelegte Stücke, meist mit glücklichem Ausgang; wie hätte das in einer von christlicher Gnade durchwirkten Welt auch anders sein können? Aber einen Namen aufrufen oder gar mehrere, um damit ein Schauspiel als einen einmaligen, in sich geschlossenen Dichtungskomplex zu kennzeichnen, ist unmöglich. Grillparzer sieht die Situation sehr recht, wenn er sagt, Lope habe kein einziges Drama geschaffen, das in sich vollendet sei, aber auch keines, in dem es nicht mindestens eine Stelle echter großer Poesie gebe: ein Funke aus jenem gewaltigen Feuerwerk spanischen Zeitgeistes, eine feurige Kugel, gar noch das eine oder andere Bild, das herüberleuchtet bis zu uns.
Am hellsten noch glänzt die »Dorothea«, die in Lopes Lebenswerk in jeder Hinsicht eine Ausnahme darstellt, ein Lesedrama von autobiographischem Charakter, aber in höherem und eigentlichem Sinne autobiographisch, durchdrungen von einem Bewußtsein, das das eigene Wesen als einmalig erkennt und es so zu erfassen sucht: bei Lope der einzige ernstliche Ansatzpunkt hierzu. Es ist schon bedeutsam, daß der Dichter, der unaufhörlich Neues aus sich herausschleuderte, in Gedanken fünfzig Jahre bei diesem Werk geblieben ist. Er vollendet das Selbstporträt, das er in dem Liebhaber Fernando in seiner Jugend von sich entworfen hat, erst im Alter, ahnend, daß damit Wesenszüge von ihm aufgezeichnet sind. Er sieht sie wohl auch von höherer Warte, objektiviert, ins Allgemeine hin gültig, wenn auch nur erst als schwankenden Umriß, und was ihm deshalb gelingt, ist, daß er bei allem Zeitgebundenen und Modischen, mit dem er, uns heute langweilend, sein Werk bepackt, in uns doch ein unmittelbares Interesse erregt. Die sinnliche und schwermütige Dorothea, schönheitstrunken und doch um alle Vergänglichkeit wissend, Fernando, der wankelmütige, haltlose junge Mensch, in dem sich noch die Möglichkeiten seiner Seele unentschieden kreuzen, Gerarda, die Kupplerin, steinalt und dennoch das ewig muntere Tierchen des Geschlechts: diese Menschen sind wie Standbilder, für die Nachwelt errichtet zum Gedenken einer vergangenen Zeit.
Die »Dorothea« ist denn auch der Schlüssel zu Lopes Werk, ist dasjenige, dem zuliebe man historisch denken lernt, und, was noch mehr heißt und was uns Deutschen als besondere, nicht immer gefahrlose Gabe verblieben ist: historisch fühlen. Karl Voßler – schätzen wir es doch endlich genug auch außerhalb der Fachkreise – ist dafür ein unvergleichlicher Lehrmeister. Karl Voßler und Lope de Vega: ein beinah sehnsüchtiger Klang wird bei der Berührung dieser beiden Geister entstehen. Bricht er nicht schon aus den Worten, die am Eingang von Voßlers Buche stehen? »Mein persönliches Zeitgefühl erlaubt mir nicht, mit dem Wissen um einen Dichter noch länger hinter dem Berge zu halten, der so sicher gekonnt und geleistet hat, was wir unter veränderten Bedingungen heute wieder zu brauchen und zu wünschen glauben.«
Lope de Vega war. Es steht uns heute vielleicht mehr an, zu fragen, was noch ist. Wenn uns Lope trotzdem noch etwas bedeutet, so nicht durch sein Werk, sondern durch die Beispielhaftigkeit seines Falles, durch das im wörtlichen Sinne Fabelhafte seiner organischen Stellung als Dichter in einer organisch geschlossenen Welt, wie sie Karl Voßler uns darstellt als Muster und Ideal.