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Alles ist nun in dem Dreißigjährigen gespannte Kraft, verhaltene Leidenschaft zur Tat. In allen Zeichen und Bildern, in der Vergangenheit und an den künstlerischen Gestalten der Gegenwart hat sein begeisterter Sinn Größe gesehen: nun drängt es ihn, sie zu erleben, sie zu gestalten.
Aber ein Wille zur Größe findet eine kleine Zeit. Als Rolland beginnt, sind die Gewaltigen Frankreichs schon dahingegangen, Victor Hugo, der unentwegte Rufer zum Idealismus, Flaubert, der heroische Arbeiter, Renan, der Weise, sind tot, die Gestirne des nachbarlichen Himmels, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, sind gesunken oder verdunkelt. Die Kunst, selbst die ernste eines Zola, eines Maupassant, dienen dem Täglichen, schaffen nur Bildnis einer verderbten und verweichlichten Zeit. Die Politik ist kleinlich und vorsichtig, die Philosophie schulmäßig und abstrakt geworden: nichts Gemeinsames bindet mehr die Nation, deren Glaubenskraft in der Niederlage für Jahrzehnte erschüttert worden ist. Er will wagen, aber die Welt will kein Wagnis. Er will kämpfen, aber die Welt will Behaglichkeit. Er will Gemeinschaft, aber die Welt keine andere als die des Genusses.
Da stürzt plötzlich ein Sturm über das Land. Die untersten Tiefen Frankreichs sind aufgewühlt, mit einem Male steht die ganze Nation in Leidenschaft um ein geistiges, ein moralisches Problem: und leidenschaftlich wie ein verwegener Schwimmer stürzt sich Rolland als einer der Ersten in die aufgeregte Flut. Über Nacht hat die Dreyfus-Affäre Frankreich in zwei Parteien zerrissen, es gibt da kein Abseitsstehen, keine kühle Betrachtung, die Besten faßt die Frage am stärksten, für zwei Jahre ist die ganze Nation messerscharf in zwei Meinungen, in Schuldig oder Unschuldig zerrissen, und dieser Schnitt geht erbarmungslos – am besten kann man es im »Johann Christof« und den Memoiren Peguys nachlesen – mitten durch Familien, trennt Brüder von Brüdern, Väter von Söhnen, Freunde von Freunden. Wir von heute können kaum mehr verstehen, daß die Angelegenheit eines wegen Spionage verdächtigten Artilleriehauptmanns für ein ganzes Land zur Krise wurde, aber die Leidenschaft wuchs über den Anlaß hinaus ins Geistige: eine Frage des Gewissens war jedem Einzelnen gestellt, Entscheidung zwischen Vaterland und Gerechtigkeit, und mit explosiver Wucht schmettert sie aus jedem Aufrichtigen die moralischen Kräfte in den Kampf. Rolland war einer der ersten in jenem engen Kreise, der von allem Anfang an für die Unschuld des Dreyfus eintrat, und gerade die Aussichtslosigkeit jener allerersten Bemühungen war für ihn Anreiz des Gewissens; während Peguy mehr von der mystischen Kraft des Problems ergriffen war, von der er eine sittliche Reinigung seines Vaterlandes erhoffte, während er agitatorisch in Broschüren mit Bernard Lazare die Affäre zum Flammen brachte, begeisterte Rolland das immanente Problem der Gerechtigkeit. Mit einer dramatischen Paraphrase »Die Wölfe«, die er unter dem Pseudonym St. Just veröffentlichte und die in Gegenwart Zolas, Scheurer-Kestners, Piquarts unter leidenschaftlicher Anteilnahme der Zuhörer gespielt wurde, hob er das Problem aus der Zeit ins Ewige hinaus. Und je mehr der Prozeß politisch wurde, seit sich die Freimaurer, die Antiklerikalen, die Sozialisten seiner als Sturmbock für ihre eigenen Absichten bedienten, je mehr der tatsächliche Erfolg für die Idee sich kundgab, um so mehr zog Rolland sich wieder zurück. Seine Leidenschaft gilt immer nur dem Geistigen, dem Problem, dem ewig Aussichtslosen – auch hier ist es sein Ruhm, einer der ersten und ein einsamer Kämpfer in einem historischen Augenblick gewesen zu sein.
Gleichzeitig aber eröffnet er Schulter an Schulter mit Peguy und dem alten im Kampf zurückgefundenen Jugendkameraden Suarès einen neuen Feldzug, aber keinen lauten, lärmenden, sondern eine Kampagne, deren stiller verschwiegener Heroismus mehr einem Passionswege glich. Sie spüren schmerzhaft die Korruption, die Verhurtheit, die Banalität und Käuflichkeit der Literatur, die in Paris den Tag beherrscht: sie offen zu bekämpfen wäre aussichtslos gewesen, denn diese Hydra hat alle Zeitschriften in Händen, alle Journale sind ihr dienstbar. Nirgends ist ihre glatte, quallige, tausendarmige Wesenheit tödlich zu treffen. Und so beschließen sie, ihr entgegenzuarbeiten, nicht mit den eigenen Mitteln, dem Lärm und der Betriebsamkeit, sondern mit dem moralischen Gegenbeispiel, der stillen Aufopferung und beharrlichen Geduld. Fünfzehn Jahre lang erscheint ihre Zeitschrift, die »Cahiers de la quinzaine«, die sie selbst schreiben und verwalten. Kein Centime wird für Reklame verausgabt, kaum findet man bei irgendeinem Buchhändler ein Heft, Studenten, ein paar Literaten, ein kleiner enger Kreis sind die Leser, die allmählich erst eine Gemeinde werden. Über ein Jahrzehnt läßt Romain Rolland alle seine Werke in diesen Heften erscheinen, den ganzen Johann Christof, Beethoven, Michelangelo, die Dramen, ohne – der Fall ist beispiellos in der neueren Literatur – einen Franken Honorar zu erhalten (und seine finanziellen Verhältnisse waren damals wahrhaftig keine rosigen). Aber nur um ihren Idealismus zu erhärten, um ein moralisches Beispiel zu schaffen, verzichten diese heroischen Menschen ein Jahrzehnt auf Besprechungen, auf Verbreitung und Honorar, auf diese heilige Dreifaltigkeit aller Literatengläubigkeit. Und als endlich die Zeit der Cahiers gekommen war durch Rollands, durch Peguys, durch Suarès' späten Ruhm, da endet ihre Herausgabe, ein unvergängliches Denkmal des französischen Idealismus und künstlerisch menschlicher Kameradschaft.
Und noch ein drittes Mal versucht sich die geistige Leidenschaftlichkeit Rollands in einer Tat. Noch ein drittes Mal tritt er für eine Lebensstunde in eine Gemeinschaft, um Lebendiges im Lebendigen zu schaffen. Eine Gruppe junger Leute hat in richtiger Erkenntnis des Unwertes und der Verderblichkeit des französischen Boulevarddramas, dieser ewigen Ehebruchsakrobatik einer gelangweilten Bürgerlichkeit, versucht, das Drama wieder dem Volke, dem Proletariat und damit einer neuen Kraft zurückzugeben. In ungestümer Feurigkeit nimmt Rolland die Bemühung auf, schreibt Aufsätze, Manifeste, ein ganzes Buch, und vor allem, er verfaßt aus dem innersten Gedanken heraus selbst eine Reihe von Dramen im Geiste und zur Verherrlichung der französischen Revolution. Jaurès führt mit einer Rede seinen Danton den französischen Arbeitern vor, auch die andern werden gespielt, aber die Tagespresse, offenbar in geheimer Witterung feindlicher Kraft, sucht sorglich die Leidenschaft abzukühlen. Und wirklich, die andern Teilnehmer erkalten im Eifer, und bald ist der schöne Elan der jugendlichen Gruppe gebrochen: Rolland bleibt allein zurück, reicher an Erfahrung und Enttäuschung, aber nicht ärmer an Gläubigkeit.
Allen großen Bewegungen leidenschaftlich verbunden, war Rolland doch immer innerlich frei geblieben. Er gibt seine Kraft in die Bestrebungen der andern, ohne sich willenlos von ihnen mitreißen zu lassen. Alles enttäuscht ihn, was er gemeinsam mit andern schafft: das Gemeinsame wird immer trübe durch das Unzulängliche aller Menschlichkeit. Der Dreyfusprozeß wird eine politische Affäre, das Théatre du Peuple geht zugrunde an Rivalitäten, seine Dramen, die dem Volke bestimmt waren, erlöschen an einem einzigen Theaterabend, seine Ehe zerbricht – aber nichts kann seinen Idealismus zerbrechen. Wenn das gegenwärtige Leben nicht durch den Geist zu bezwingen ist, so verliert er darum nicht den Glauben an den Geist: aus Enttäuschung erweckt er sich die Bilder der Großen, die die Trauer durch die Tätigkeit, das Leben durch die Kunst besiegen. Er läßt das Theater, er läßt den Lehrstuhl, er tritt zurück aus der Welt, um das Leben, das sich den reinen Taten verweigert, in gestaltetem Bilde zu fassen. Enttäuschungen sind für ihn nur Erfahrungen, und über eine kleine Zeit baut er nun in zehn Jahren der Einsamkeit ein Werk, das wirklicher ist im ethischen Sinne als die Wirklichkeit, und das den Glauben seiner Generation in eine Tat verwandelt: den »Johann Christof«.