Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Johann Christof und die Nationen

Mit Leidenschaft und Vorgefühl sieht der junge Ungestüme die Menschen und versteht darum ihre Wesenheit nicht: mit Leidenschaft und Vorgefühl sieht er auch erst die Menschenfamilien, die Völker. Es bleibt ja notwendiges Verhängnis, daß wir zuerst – und viele ihr Leben lang – das eigene Land nur von innen kennen, das fremde nur von außen: erst wenn wir das eigene auch von außen kennen, das fremde von innen, in der Brust seiner eingeborenen Kinder, dann erst können wir europäisch sehen, können die verschiedenen Länder begreifen als ein notwendiges Nebeneinander, als eine Ergänzung. Johann Christof ist nun der Kämpfer um das Ganze des Lebens: deshalb ist sein Weg auch der des Nationalmenschen zum Weltbürger, zur »europäischen Seele«.

Johann Christofs Anbeginn ist freilich wie immer Vorurteil. Erst überschätzt er Frankreich: er hat seine eingelernte Vorstellung von den künstlerisch frohen, freien Franzosen und faßt sein Deutschland als Beschränktheit. Der erste Blick in Paris wieder enttäuscht ihn: er findet nur Lüge, Lärm und Betrug. Erst allmählich entdeckt er, daß die Seele einer Nation nicht außen liegt wie ein Pflasterstein am Wege, sondern daß man sie aufgraben muß in ihren Menschen unter einer tiefen Schicht von Schein und Lüge. Bald gewöhnt er sich ab, zu sagen »die« Franzosen, »die« Italiener, »die« Juden, »die« Deutschen und ihre Eigenschaft wie Etiketten auf ein vorgestanztes Urteil zu kleben. Jedes Volk hat sein eigenes Maß, mit dem es gemessen sein will, jedes seine Form, seine Sitte, seine Fehler, seine Lüge, wie es sein Klima hat, seine Geschichte, seinen Himmel, seine Rasse, und es läßt sich nicht durch Begriff und Wort fassen. Ein Land muß wie jedes Erlebnis von innen aufgebaut werden, Worte bilden nur ein Kartenhaus. »Die Wahrheit ist bei allen Völkern gleich, aber jedes Volk hat seine Lüge, die es seinen Idealismus nennt. Jedes Wesen atmet ihn ein von der Wiege bis zum Tod, er wird ihm zur Lebensnotwendigkeit. Nur einige Genies können sich in heroischen Kämpfen befreien, während derer sie allein sind im freien Weltall ihrer Gedanken.« Erst muß man sich frei machen von jedem Vorurteil, um frei urteilen zu können. Es gibt keine andere Formel, gibt keine psychologischen Rezepte: man muß einströmen wie bei jeder Schöpfung in die Materie, sich hingeben in Vertrauen. Es gibt nur eine Wissenschaft, von den Völkern sowohl wie von den Menschen: die des Herzens und nicht die der Bücher. Nur solches Erkennen von Seele zu Seele bindet die Völker: was sie trennt ist das ewige Mißverstehen, daß sie einzig ihren Glauben für richtig halten, ihr Wesen für das einzig gemäße, daß sie den Hochmut haben, die einzig richtigen zu sein. Einzig der Nationalismus, das kollektive Selbstgefühl, die »große europäische Hochmutspest«, die schon Nietzsche »die Krankheit des Jahrhunderts« nennt, entfremdet gewaltsam die Nationen von den Nationen. Wie Bäume im Walde, Stamm an Stamm, wollen sie jeder für sich stehen, indes sich in der Tiefe die Wurzeln und in der Höhe die Kronen berühren. Das Volk, die Tiefe, das Proletariat, fühlt keinen Gegensatz, weil es allmenschlich fühlt – erstaunt erkennt Johann Christof an Sidonie, dem bretonischen Dienstmädchen, »wie sehr sich die anständigen Menschen in Frankreich und Deutschland gleichen«. Und die besten wieder, die Höhe, die Elite, Olivier, Grazia, sie leben längst in jener reinen Sphäre Goethes, »wo man das Schicksal fremder Nationen wie sein eigenes empfindet«. Die Gemeinsamkeit ist eine Wahrheit, der Haß eine Lüge der Völker, Gerechtigkeit ist die einzig wahre Bindung zwischen Menschen und Nationen: »Wir sind alle, alle Völker, Schuldner einer des andern. Tun wir also Schuld und Pflicht zusammen.« Von allen Nationen hat Johann Christof gelitten, von allen ward er beschenkt, von allen ward er enttäuscht, von allen gesegnet. Immer reiner erkennt er ihr Bildnis. Am Ende der Wanderschaft sind sie dem Weltbürger nur Heimat der Seele, und der Musiker in ihm träumt von erhabenem Werk, von der großen europäischen Symphonie, wo alle Stimmen der Völker sich aus Dissonanzen lösen und steigern in die letzte, die höchste Harmonie der Menschheit.


 << zurück weiter >>