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Johann Christof schreitet schon von ferne auf seinen Dichter zu. Das erstemal begegnet er ihm – ein flüchtiger Knabentraum – in der École Normale. Da plant der junge Rolland einen Roman zu schreiben, die Geschichte eines reinen Künstlers, der an der Welt zerbricht. Noch ist nichts deutlich in den Konturen, nichts bewußt im Willen, als daß sein Held ein Künstler sein soll, ein Musiker, den die Zeit nicht versteht. Und der Plan zerrinnt mit vielen andern Plänen, der Traum zerstiebt mit vielen andern Träumen der Jugend.
Aber er kehrt wieder in Rom, da der Dichter in Rolland, der lange durch Klausur und Wissenschaft gehemmte, elementar ausbricht. Malvida von Meysenbug hat ihm an den hellen römischen Abenden viel erzählt von den tragischen Kämpfen ihrer großen Freunde Wagner und Nietzsche, und Rolland erkennt, wie allgegenwärtig uns die Gewaltigen sind, verborgen nur durch den Lärm und Staub der Stunde. Unwillkürlich einen sich die tragischen Erlebnisse der nahen Heroen mit dem erträumten Bilde, und im Parsifal, dem reinen Toren, durch Mitleid wissend, erkennt er das Sinnbild des Künstlers, der in die Welt zieht, nur von tiefer Ahnung geführt, und der sie durch Erfahrung erkennt. Und an einem Abend auf einem Spaziergang am Janiculus blitzt plötzlich die deutliche Vision Johann Christofs in ihm auf: ein Musiker reinen Herzens, ein Deutscher, der aus seinem Lande in die Länder zieht und sich seinen Gott im Leben findet, ein freier irdischer Mensch, unerschütterlich im Glauben an alles Große und selbst an sie, die ihn verstößt: an die Menschheit. Schon dämmern die Umrisse der Gestalt, schon klärt sich dem Künstler das Bild.
Und Jahre wieder der Mühe nach den seligen Jahren der römischen Freiheit, mit täglich gewälzten Steinen des Berufes das innerlich begonnene Bild zerdrückend. Rolland lebt Zeiten der Tat: er hat keine Zeit für seine Träume. Da weckt neues Erlebnis die schlummernden auf. Im Beethovenhause in Bonn sieht er in niederer Kammer die kümmerliche Jugend des Meisters, aus Büchern und Dokumenten die heroische Tragödie seines Lebens. Und mit einem Male versinnlicht sich die Traumgestalt: sein Held soll ein Beethoven redivivus sein, ein neu erstandener, mitten in unsere Welt erträumter, ein Deutscher ein Einsamer, ein Kämpfer – aber ein Sieger. Wo der lebensunkundige Knabe noch Niederlage sah, weil er vermeinte, Mißerfolg sei schon Besiegtsein, ahnt der Gereifte den wahren Heroismus: »das Leben erkennen – und es dennoch lieben«. In grandiosem Umschwung eröffnet sich neuer Horizont hinter dem lang geliebten Bilde: das Morgenrot des ewigen Sieges im irdischen Kampf. Jetzt ist Johann Christofs Gestalt innerlich vollendet.
Rolland kennt nun seinen Helden. Aber er muß noch seinen Widerpart, seinen Gegenspieler, seinen ewigen Feind schildern lernen: das Leben, die Wirklichkeit. Wer einen Kampf darstellen will in Gerechtigkeit, muß auch den Gegner kennen. Und er lernt ihn kennen in diesen Jahren in den eigenen Enttäuschungen, den eigenen Erfahrungen, in der Welt der Literatur, in der Verlogenheit der Gesellschaft, der Gleichgültigkeit der Menge: durch alle Fegefeuer seiner Pariser Jahre muß er hindurch, ehe er beginnen kann zu schildern. Der Zwanzigjährige hätte nur um sich gewußt, nur den heroischen Willen zur Reinheit schildern können: der Dreißigjährige kann auch den Widerstand gestalten. Alles, was er erlebt hat an Hoffnung und Enttäuschung, stürzt nun in das rauschende Strombett dieser Existenz: die vielen kleinen Notizen, seit Jahren zufällig und absichtslos, tagebuchartig gehäuft, ordnen sich magisch dem werdenden Werke ein, Bitternis verklärt sich zu Erkenntnis, und der knabenhafte Künstlertraum wird zum Lebensbuch.
Im Jahre 1895 ist der Plan in großen Linien gestaltet. Gleichsam präludierend beginnt Rolland mit einigen Szenen aus der Jugend Johann Christofs; in der Schweiz, in einem verborgenen kleinen Dörfchen sind um 1897 die ersten Kapitel geschrieben, in denen die Musik gewissermaßen von selbst erwacht. Dann – so sicher und klar ist in seiner Seele der Plan schon vorgezeichnet – schafft er wieder einige Kapitel aus dem fünften und neunten Bande: ganz als Musiker gestaltend gibt sich Rolland aus seiner Stimmung einzelnen Themen hin, die der wissende Künstler dann harmonisch in die große Symphonie verwebt. Die Ordnung kommt von innen, nicht von außen: nicht in strenger Reihenfolge, sondern im scheinbaren Zufall der Neigung formt er die Kapitel, die oft von der Landschaft musikalisch beseelt, oft von äußerem Geschehnis getönt sind (etwa, wie Seippel es schön schildert, jene Flucht Johann Christofs in den Wald von der Todesfahrt des so sehr geliebten Leo Tolstoi). In ganz Europa ist, symbolisch genug, dies europäische Werk geschrieben: die ersten Takte im Schweizerdorfe, »Jugendzeit« in Zürich und am Zugersee, vieles in Paris, vieles in Italien, »Antoinette« in Oxford, und das Werk am 26. Juni 1912 nach fast fünfzehnjähriger Arbeit in Baveno vollendet.
Im Februar 1902 erscheint der erste Band »L'Aube« in den »Cahiers de la Quinzaine«, am 20. Oktober 1912 das letzte der siebzehn Hefte, für die Rolland – ein einziger Fall in der Romanliteratur – nicht einen Centime Honorar erhalten hatte. Beim Erscheinen des fünften Heftes, der »Foire sur la Place«, erst fand sich ein Verleger, Ollendorff, für den Roman, der dann rasch aus einem jahrelangen Schweigen aufstieg. Noch vor seiner Beendigung folgten einander bald die englischen, spanischen, deutschen Ausgaben, die erläuternde Biographie Seippels. So krönte der große Romanpreis der Akademie im Jahre 1913 schon einen gestalteten Ruhm. Im fünfzigsten Jahre seines Lebens steht Rolland endlich im Licht, sein Bote Johann Christof ist der Lebendigste der Lebendigen geworden und umwandert die Welt.