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Tolstoi

Die Biographien Beethovens und Michelangelos waren aus einem Überschwang des Lebens gestaltet, Aufrufe zum Heroismus, Hymnen der Kraft. Die Biographie Tolstois, Jahre danach geschrieben, ist dunkler getönt, ein Requiem, eine Nänie, ein Totengesang. Selbst war Rolland schon dem Schicksal nahe gewesen, als das Automobil ihn hinschmetterte: der Genesende grüßt in der Todesbotschaft des geliebtesten Meisters großen Sinn und erhabene Mahnung.

Das Bild Tolstois deutet Rolland in seinem Buche als eine dritte Form des heroischen Leidens. Beethoven fällt das Schicksal mitten im Leben an durch ein Gebrest, Michelangelo ist das Verhängnis angeboren: Tolstoi schafft es sich selbst aus freiem bewußtem Willen. Alles Äußerliche des Glücks verbürgt ihm Genuß: er ist gesund, reich, unabhängig, berühmt, er hat Haus und Hof, Weib und Kinder. Aber der Heroismus des Sorglosen ist, daß er sich selbst die Sorge schafft, den Zweifel um das rechte Leben. Der Peiniger Tolstois ist das Gewissen, sein Dämon der furchtbar unerbittliche Wille nach Wahrheit. Die Sorglosigkeit, das niedrige Ziel, das kleine Glück der unwahren Menschen, stößt er gewaltsam von sich, er bohrt sich wie ein Fakir die Dornen des Zweifels in die Brust, und mitten in der Qual segnet er den Zweifel: »Man muß Gott danken, unzufrieden mit sich zu sein. Der Zwiespalt des Lebens mit der Form, die es erreichen sollte, ist das wahrhafte Zeichen des wahren Lebens, die Vorbedingung alles Guten. Schlecht ist nur die Zufriedenheit mit sich selbst.«

Gerade diese scheinbare Zerspaltenheit ist für Rolland der wahre Tolstoi, so wie der kämpfende Mensch für ihn immer der einzig wahrhaft lebendige ist. Während Michelangelo über dem irdischen noch ein göttliches Leben zu erblicken vermeint, sieht Tolstoi ein wahrhaftiges hinter dem zufälligen, und um dieses, das wahrhaftige, zu erreichen, zerstört er seinen Frieden. Der berühmteste Künstler Europas wirft die Kunst weg, wie ein Ritter sein Schwert, um barhaupt den Büßerweg zu gehen, er zerreißt das Band seiner Familie, unterwühlt seine Tage und Nächte mit fanatischer Frage. Bis zur letzten Stunde schafft er sich Unfrieden, um Frieden zu haben mit seinem Gewissen, ein Kämpfer für das Unsichtbare, das mehr ausdrückt als die Worte Glück, Freude und Gott zu sagen vermögen, ein Kämpfer für jene letzte Wahrheit, die er mit keinem teilen kann als mit sich selbst.

Auch dieser heldenhafte Kampf spielt wie jener Beethovens und Michelangelos in entsetzlicher Einsamkeit, gleichsam im luftleeren Raum. Seine Frau, seine Kinder, seine Freunde, seine Feinde – niemand versteht ihn, alle halten ihn für einen Don Quichote, weil sie den Gegner nicht sehen, mit dem er ringt, und der ja er selbst ist. Keiner kann ihn trösten, keiner ihm helfen, und um mit sich zu sterben, muß er flüchten in eisiger Winternacht aus seinem reichen Haus und wie ein Bettler sterben an der Landstraße. Immer in dieser höchsten Sphäre, zu der die Menschheit sehnend aufblickt, weht Frostluft bitterster Einsamkeit. Denn gerade jene, die für alle schaffen, sind mit sich allein, jeder ein Heiland am Kreuz, jeder leidend für einen andern Glauben und doch für die ganze Menschheit.


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