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Johann Christof ist Bildnis des Künstlers: aber jede Form und jede Formel der Kunst und des Künstlers muß notwendig einseitig sein. So stellt ihm Rolland in der Mitte des Weges – »nel mezzo del cammin« – den Gegenspieler entgegen, den Franzosen dem Deutschen, den Heros des Gedankens dem Heroen der Tat. Johann Christof und Olivier sind Komplementärfiguren, sie ziehen notwendig einander an aus dem tiefen Gesetz der Polarität, »sie waren sehr verschieden von einander, liebten sich aber um dieser Verschiedenheit willen, weil sie von gleicher Art waren« – von der edelsten. Olivier ist so sehr Essenz des geistigen Frankreichs, wie Johann Christof Schößling der besten deutschen Kraft, sie sind Ideale, gemeinsam zu einem höchsten gestaltet. Wie Dur und Moll ineinander klingend, wandeln sie, härter und zarter, das Thema der Kunst und des Lebens in den wunderbarsten Variationen ab.
Äußerlich freilich sind die Kontraste sehr ausgesprochen, schon körperlich und sozial. Olivier ist zart, blaß, kränklich, er stammt nicht wie Christof von der Scholle des Volkes, sondern aus einem müden alten Bürgertum, seine Seele hat bei aller Feurigkeit aristokratische Lebensangst vor dem Gemeinen. Seine Vitalität kommt nicht wie bei seinem robusten Kameraden aus Überkraft, aus Muskeln und Blut, sondern aus Nerven und Hirn, aus Wille und Leidenschaft. Er ist mehr rezeptiv als produktiv. »Er war Efeu und mußte sich anranken, eine weibliche Seele, die immer heben und geliebt werden mußte.« Zur Kunst flüchtet er gleichsam vor der Wirklichkeit, indes sich Johann Christof in sie stürzt, um in ihr das Leben noch vervielfacht zu finden; im Sinne Schillers ist Olivier der sentimentale Künstler gegen das naive Genie seines deutschen Bruders. Er ist Schönheit einer Kultur, Symbol für »la vaste culture et le génie psychologique de la France«; Johann Christof ist der Prachtwuchs einer Natur, Olivier das Schauen, sein Freund die Tat: in ihm spiegelt alles zurück, indes das Genie sich in die Welt leuchtet. »Er überträgt alle Kräfte, die er der Tat entzog, auf das Denken«, er produziert Ideen, Christof Vitalität, er will nicht die Welt verbessern, sondern sich selbst. Ihm genügt es, in sich den ewigen Kampf der Verantwortung auszutragen, dem Spiel der Zeiten sieht er gelassen zu, mit dem schmerzlich skeptischen Lächeln seines Lehrers Renan, der die unabwendbare Wiederkehr alles Schlechten im voraus kennt, den ewigen Sieg des Unrechten und Unechten. Und darum liebt er nur die Menschheit, die eine Idee ist, und nicht die Menschen, ihre unzulängliche Realisation.
Als ein Schwacher, ein Furchtsamer, ein Tatloser erscheint er dem ersten Blick, und so sieht ihn zuerst auch, fast zornig, sein Freund. »Kannst du denn nicht hassen?« fährt ihn der Gewalttätige an. »Nein,« erwidert Olivier lächelnd, »ich hasse den Haß. Es widert mich an, mit Leuten zu kämpfen, die ich verachte.« Er paktiert nicht mit der Wirklichkeit, seine Stärke ist Einsamkeit. »Ich gehöre nicht zum Heere der Gewalt, ich gehöre zum Heere des Geistes.« Keine Niederlage kann ihn erschrecken, kein Sieg ihn überzeugen: er weiß, daß Gewalt die Welt regiert, aber er erkennt sie nicht an. Johann Christof rennt mit seinem germanischen, urheidnischen Zorn gegen die Widerstände an und zertritt sie: Olivier weiß, daß morgen das zertretene Unkraut wieder wächst. Er geht vorüber ohne Zorn, im Sinne Goethes denkend
Übers Niederträchtige
Keiner sich beklage,
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.
Er will nicht den Kampf, und wenn er ihm ausweicht, so hemmt ihn nicht Furcht vor der Niederlage, sondern Gleichgültigkeit gegen den Sieg. Die Verachtung alles Ungerechten beugt sich keinem Erfolg, er verweigert sich dem Cäsar um Christi willen, denn dieser freie Geist birgt in tiefster Seele reinstes Christentum: »Ich liefe Gefahr, meine Seelenruhe zu verlieren, und daran hegt mir mehr als am Siege. Ich will nicht hassen. Ich will selbst meinen Feinden Gerechtigkeit widerfahren lassen. Inmitten aller Leidenschaften will ich mir die Klarheit des Blickes erhalten, um alles verstehen zu können und alles zu heben.«
Und Johann Christof erkennt bald den Bruder seines Geistes: er fühlt, daß dieser Heroismus des Gedankens nicht geringer ist, als der Heroismus der Tat, Oliviers idealistischer Anarchismus nicht minder kühn als seine elementare Revolte. Und in diesem scheinbar Schwachen ehrt er eine eherne Seele. Nichts kann Olivier beugen, nichts seinen klaren Geist verwirren. Nie wird ihm Überzahl zum Argument: »Er besaß eine Selbständigkeit des Urteils, die nichts erschüttern konnte. Wenn er etwas hebte, so hebte er es gegen die ganze Welt.« Gerechtigkeit ist der einzige Pol, zu dem die Nadel seines Willens unbeirrbar zeigt, der einzige Fanatismus dieser klaren Seele. Wie sein schwächerer Vorgänger Aërt hat er »faim de justice«, Hunger nach Gerechtigkeit, und jede Ungerechtigkeit, auch die längst vergangener Zeiten, bedrückt ihn als Störung der Weltordnung. Darum ist er bei keiner Partei, sondern der ewige Anwalt aller Unglücklichen und Unterdrückten, »immer bei den Besiegten«, er will nicht sozial der Masse, sondern den einzelnen Seelen helfen, indes Johann Christof der ganzen Menschheit alle Paradiese der Kunst und der Freiheit erobern möchte. Olivier aber weiß, es gibt nur eine wahre Freiheit: die innere, die man sich selbst und nur sich selbst erobern kann. Der Wahnsinn der Massen, ihr ewiger Klassen- und Nationenstreit um die Macht, ist ihm schmerzlich aber fremd. Und als einziger von allen, während selbst Johann Christof abreisen will und kämpfen, als der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich auszubrechen droht, als alle in ihrer Überzeugung stürzen und hinschwanken, bleibt er aufrecht. »Ich liebe mein Vaterland,« sagt er zu dem Bruder aus anderem Land, »ich liebe es wie du das deine. Aber kann ich um seinetwillen meine Seele töten, mein Gewissen verraten? Das hieße mein Vaterland selbst verraten. Ich gehöre zum Heere des Geistes, nicht zum Heere der Gewalt.« Aber die Gewalt, die brutale, nimmt ihre Rache am Gewaltlosen, sie zertritt ihn stumpfsinnig und roh in banalem Zufall. Nur seine Idee, sein wahres Leben überlebt ihn, einer ganzen späteren Generation den mystischen Idealismus seines Glaubens erneuernd.
Als ein wunderbarer Anwalt des Gewissens antwortet hier der Gewaltlose dem Gewaltsamen, der Genius des Geistes dem Genius der Tat. Zutiefst eins in der Liebe zur Kunst, in der Leidenschaft der Freiheit, im Bedürfnis sittlicher Reinheit, sind die beiden Helden, jeder gleichzeitig »fromm und frei« in anderm Sinne, Brüder in jener letzten Sphäre, die Rolland so schön »die Musik der Seele« nennt: in der Güte. Nur daß Christofs Güte eine des Instinktes ist, elementarer also und von Rückfällen in den Haß leidenschaftlich unterbrochen, die Oliviers eine wissende Güte, eine weise, die nur manchmal ironische Skepsis überleuchtet. Aber eben durch diese zwiefältige, diese komplementäre Form reinen Urtriebes fühlen sie sich mächtig angezogen: Christofs gläubige Robustheit lehrt den einsamen Olivier wieder die Freude zum Leben, Christof aber lernt von Olivier Gerechtigkeit. Der Weise wird erhoben durch den Starken, der Starke geläutert durch die Klarheit – ein Symbol sollte diese gegenseitige Beglückung sein für die beiden Völker, eine geistige Freundschaft, die hier in zwei Individuen geprägt war, zu einem Seelenbund der Brudernationen zu erheben, die »beiden Schwingen des Abendlandes« zu verbinden, daß sich frei in ihnen der europäische Geist aufschwinge über die blutige Vergangenheit.