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Anekdoten unbekannter Autoren
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Das Stipendium

Der gute alte Domprobst, Professor Dr. Müller! Es sind nun schon viele, viele Jahre verflossen, dass neben so vielen andern treuen Freunden meiner Kindheit auch seine alte ehrliche Haut, sein köstliches goldenes Herz unter den Efeuranken modert, mit denen Liebe und Dankbarkeit seinen Grabhügel geschmückt haben.

Aber noch heute sehe ich ihn vor mir stehen mit der großen Hornbrille auf dem Spitzmausnäschen, in das er nur mit Mühe die leidenschaftlich geliebten Tabakprieschen hineinzuzwängen vermochte, wie er mit der Tabaksdose auf meine Schultern tippt, sein lang belocktes grieses Haupt schüttelt und in seiner spöttischen Weise spricht: »Sie, Sie, nun ja, mei Kutes Herrchen, fahren Sie nur so fort, da wärd aus Ihnen schon was wärden. Aber tun Sie mir um Kottes Willen die Schand nicht ahn und sagen Sie einem Menschen, dass der alte Professor Müller Ihr Lehrer gewäsen is, hören Sie? Die Schande tun Sie mir nicht ahn!« Und nun muss er es doch nach seinem Tode dulden, dass ich ihm die Schande antue.

Aber es ist nur Liebe und Dankbarkeit, die mir die Worte diktiert, obwohl dieselben geeignet sind, das Andenken an den prächtigen alten Herrn mit ein paar lustigen Scherzen zu umspannen.

Wir hatten die Sekunda der Klosterschule durchgemacht, mein Freund Fritz Naumann-Strehsow und ich, da traf uns beide an ein und demselben Tage der härteste Schlag, der Schüler treffen kann. Fritz Naumann, der schon lange mutterlos war, erhielt die Nachricht, dass sein Vater auf einer kaufmännischen Expeditionsreise in das Innere Afrikas dem Klima zum Opfer gefallen war, und ich, der schon als sechsjähriger Knabe dem Vater zu Grabe gefolgt war, erhielt von zu Hause einen Brief, in dem mir angezeigt wurde, dass mein Mütterchen einem bösen Lungenleiden erlegen sei.

Freilich, der Fritz und ich, wir hatten schon lange Zeit Gelegenheit gehabt, uns auf die endliche Todesnachricht vorzubereiten, denn mein Freund hatte über seines Vaters Heimgang schon durch Zeitungsnachrichten erfahren, und ich wusste ja, dass es für mein Mütterchen nur eine Erlösung von ihrem Leiden gab, nämlich der Tod. Aber die endliche Gewissheit, die unumstößliche Tatsache traf uns doch schwer.

Stundenlang sahen wir in unserem kleinen gemeinschaftlichen Zimmer uns gegenseitig mit tränenden Augen an. Wie zum Troste reichten wir einander unsere Unglücksbotschaften hin und lasen sie immer und immer wieder und fanden doch den Trost nicht, dessen wir so sehr bedurften.

Da trafen zu gleicher Zeit zwei andere Briefe an uns ein. Man teilte uns von zu Hause mit, dass wir die Schule verlassen müssten, da keine Mittel vorhanden seien, uns noch länger auf dem Kloster zu erhalten. Das war kein Trost, bewahre! Abe es war ein kalter, kühlender Wasserstrahl auf das heiße Weh unserer Herzen, der uns aufrüttelte.

»Das geht nicht!«, rief Fritz Naumann-Strehsow, »das geht nun und nimmermehr!« Ich sah den Freund mit großen Augen an. »So nah am Ziele – nimmermehr«, rief er noch einmal nachdrücklicher, »und wenn ich Himmel und Erde in Bewegung setzen soll.«

Mit hastigen Schritten hatte er bei diesen Worten unser Zimmerchen durchmessen. Jetzt blieb er plötzlich vor mir stehen, legte seine Hände auf meine Schultern und sagte: »Wir gehen zum Probst. Sind freilich beide ein Paar Taugenichtse, die es nicht verdienen, dass der alte Herr nur einen Finger um uns rührt, indessen «Mit Auszeichnung» im Examen ist auch etwas – und übrigens hat der Probst ein Herz in der Brust, wir aber sitzen in der Patsche. Gehst du mit, Brüderchen?«

Wir zogen unsere Bratenröcke an und gingen nach der Probstei. »Klingling!« – Nichts regte sich. »Klinling-ling-ling!« Kein Schritt wurde laut in dem alten grauen Hause. »Klingling-ling-ling-ling!« Fritz läutete, als ob's brannte. »Es ist freilich heillos unverschämt«, flüsterte es, »dass wir armselige Bittsteller solchen Radau hier machen, aber er ist der alte Probst. Bei jedem andern Menschen würde ich mich hüten.«

Auf das letzte Geläut wurde oben ein Fenster geöffnet, sofort aber wieder zugemacht. Wir konnten nur ganz flüchtig den Kopf unseres verehrten Lehrers erkennen, indem er sich vom Fenster fort wandte. Ein Weilchen warteten wir, in der Meinung, dass man uns die Tür öffnen würde, aber nichts Derartiges geschah.

»Du,«, meinte Fritz, »wir haben es in der Dreistigkeit allerdings schon weit gebracht, indes sind wir noch nicht am Ziele. Wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben.« »Klingling-ling-lingling!«

Wie ein echter und rechter »Berliner Junge«, der er in Wirklichkeit auch war, klingelte Fritz diesmal so laut und lange, dass alles, was im Hause Beine hatte, zusammenlaufen musste. Wirklich öffnete sich oben auch dasselbe Fenster, an dem wir den alten Herrn vorhin bereits bemerkt hatten. Und die gewohnte Hornbrille auf der Nase, eine Zipfelmütze auf dem Haupte, die Feder hinter dem Ohr, guckte jetzt des Herrn Professors Köpfchen heraus und rief hinab: »Zum Deixel ooch, sähen Sie denn nicht, dass Aukuste nich derheene ist?« Auguste war nämlich des alten, verwitweten Herrn rechte Hand im Hause seit langen Jahren schon.

»Wir wollen auch bloß den Herrn Professor sprechen!«, rief Naumann-Strehsow hinauf. »Ei Herrcheses, meine kutesten Herrchen, da sind Sie kans eklig auf's leer Döppchen gegommen, der Herr Professor ist Sie nämlich ooch nicht derheeme!«, rief es von oben als Antwort herab.

Wir wussten in diesem Augenblick wahrhaftig nicht, ob wir lachen oder weinen sollten. Dort oben schaute unser alter, guter Professor, auf dessen Hilfe wir in unserer verzweifelten Lage rechneten, zum Fenster heraus und sagte uns, er sei nicht zu Hause.

Endlich siegte Fritzens Berliner Mutterwitz. Mit der größten Unverfrorenheit lachte er hinauf: »Nee, Männeken, det machen Sie keene Klösterschüler weis, det kennen wir schon. Einer is zu Hause, entweder sind Sie Auguste, ober Sie sind der Herr Professor, also kommen Sie man runter und machen Sie uff, sonst geht die Klingelei von vorne an.«

»So, so, so«, erwiderte der alte Herr hierauf von oben herab. »Ei, sähen Sie ahn, Sie sind ja ä recht nettes Fröchtchen! Sie sind gar wohl den Doktor Naumann-Strehsow'n sein Junge, der in Afrika heeme gegangen ist.« – »Ja wohl, Herr Professor!«, antwortete Fritz jetzt ernst. »Sie wärden's weit bringen!«, schalt der Herr Professor. »Aber ich wärde ronter kommen, warten Sie!«.

Ei, ei, ei, wie pochten unsere jungen Herzen! Manche derbe Ungezogenheit hatten wir schon auf dem Kerbholze bei dem alten Herrn, aber die heutige Unverschämtheit überstieg doch alles Dagewesene. Endlich hörten wir oben im Hause die Gittertüre gehen, welche die Treppe vom Vorplatz abschloss, die Treppenstufen ächzten unter den schwerfälligen Tritten des beinahe fünfundsiebzig Jahre zählenden alten Herrn. In großen Filzschuhen, die er gewöhnlich im Hause trug, kam er herab.

»Nur Mut, mein Roderich!«, flüsterte mir Fritz zu, der meinem Namen aus Liebe zu mir das »rich« angehängt hatte, so lange wir uns kannten, »nur Mut, mein Roderich!« Jetzt rasselte es an der Haustür. »Hm, hm«, hörten wir den alten Professor leise vor sich hin reden, »nun weeß ich wärklich nich, was ich dhue, bin ich Aukuste oder bin ich der Brofessor?« Da öffnete sich die Tür.

»Guten Morgen, Herr Professor.« Wie zwei zerknirschte Sünder standen wir vor ihm. »Herr Professor – wir – –.« »Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass der Herr Brofessor nicht derheeme ist?«, fuhr uns der alte Herr mit komischem Unwillen an. »Was wollen Se eegentlich? Ich wärd's dem Herrn Brofessor bestellen.«

Mit diesen Worten öffnete er uns sein Amtszimmer. Verdutzt einander anblickend, folgten wir ihm nach. »Na, wärd's bald? Was ham S'n?«, fragte er hier kurz, als ich die Tür geschlossen hatte, indem er bald den Karl Rode, bald den Fritz Naumann-Strehsow durch seine große Hornbrille ansah. »Na, wärd's bald?«

Da schütteten wir dem prächtigen alten Herrn unsere Herzen aus, weh- und reumütig und doch auch voll Vertrauen zu seiner Güte, ganz so, wie wir empfanden, und – er hörte uns geduldig an, bis wir zu Ende waren.

»'s ist gut, 's ist gut«, hieß es da, »ich wärd's dem Herrn Brofessor melden. Wenn ich nicht sehre ärre, dann hat er oagenblicklich ä baar Stibenjen zu vergäben, de gönnen Sie am Ende kriegen.«

Mit diesen Worten wurden wir entlassen – und wir blieben auf der Schule, bis wir die Prima durchgearbeitet und unser Examen bestanden hatten.

Fritz Naumann ist in seines Vaters Fußstapfen getreten und Afrikareisender geworden. Ich? – Nun, ich schreibe Erzählungen.

Vor einiger Zeit hatte ich Gelegenheit, die alten Klosterrechnungen einzusehen, aus denen, wie ich meinte, unsere Stipendien gezahlt worden waren. Ich war begierig zu erfahren, welche Stipendiate uns bewilligt waren. – O welche Güte! Pension und Schulgeld hatte der alte Herr aus seiner eigenen Tasche bezahlt.

Uns, die ihm fast völlig fremden Knaben, hatte er aus eigenen Mitteln auf der Prima unterhalten. Auf der letzten Notiz, die er darüber zu den Akten genommen hatte, fand ich von seiner zitternden Hand die rührenden Worte niedergeschrieben: »Oleum et operam non perdidi« d. h. ich habe mich nicht umsonst und vergeblich bemüht. Nein, du edles treues Herz, das sei dir hiermit gelobt, deine Mühe und Arbeit, die du um uns gehabt, soll nicht verloren sein.

 


 


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