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O grauses Bild, wenn, alles Schmucks beraubt,
Von Henkershand fällt das gesalbte Haupt!
Wochen hindurch waren die Schneemassen liegen geblieben, sie hatten Scharfeneck von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten, denn es war unmöglich gewesen, die Stadt zu erreichen. Endlich trat Tauwetter ein, die höher steigende Sonne verzehrte die weißen Berge und Mauern, und im Februar konnte man zum erstenmal einen Boten abschicken, welcher Briefe und Zeitungen von der Post abholen sollte. Der Graf befand sich in größter Unruhe und Spannung, er hatte seit langer Zeit nichts aus Paris gehört, und was konnte sich in der Zwischenzeit alles ereignet haben! Vergebens suchte Gabriele ihn auf andere Gedanken zu bringen, diese kehrten immer zu dem unglücklichen Königspaar zurück, und sie konnte nichts anderes tun, als ihm auf diesem Wege zu folgen.
»Sagen Sie mir nur, M. le Comte,« sprach sie, »warum der Monarch immer in diesem schrecklichen Paris blieb und nicht gleich beim Beginn der Unruhen der treulosen Stadt den Rücken kehrte? Ich hätte den Staub dieses Babel bald von meinen Füßen geschüttelt und meinen Aufenthalt unter königstreuen Untertanen genommen, deren es sicher noch Tausende in Frankreich gab!«
»Sie haben vollkommen recht, meine kleine Freundin; das war auch unser Wunsch, aber Seine Majestät widerstrebte lange dem Vorschlage seiner Getreuen. Dennoch kam endlich der sorgfältig überlegte Plan zur Ausführung. Der schwedische Graf v. Fersen, ein glühender Anhänger der Königin, hatte die Sache in die Hand genommen; er verschaffte sich die Pässe einer fremden Familie, die mit Kindern und Dienerschaft Paris verlassen wollte. Zum Schutz der königlichen Familie wurden drei Hofkavaliere ersehen, welche die äußeren Sitze des großen Reisewagens einnehmen sollten, und ich war stolz darauf, daß ich einer der Erwählten war. In einer Sommernacht verließen wir alle heimlich und lautlos das Schloß, um auf verschiedenen Wegen einen verabredeten Platz zu erreichen. Aber stellen Sie sich unseren Schrecken vor, als die Königin ausblieb! Wohl eine Stunde warteten wir in tödlicher Angst – da erschien sie endlich, in Tränen aufgelöst, denn sie hatte den Weg verfehlt und war in den Straßen, die ihr Fuß noch nie betreten hatte, trostlos umhergeirrt! Wie durch ein Wunder waren wir trotzdem unentdeckt geblieben und fanden endlich vor der großen Barriere der Stadt unseren Wagen, ein riesiges Gebäude, das nur allzu geeignet war, Aufsehen zu erregen; ich nahm den Platz des Kutschers ein und hieb auf die Pferde los, um die versäumte Zeit einzubringen.
»In den ersten Tagen ging alles vortrefflich; man war es auf dieser Straße gewohnt, vornehme Reisewagen zu sehen, denn es war der gewöhnliche Weg, den die Emigranten nahmen. Aber in St. Menehould mußten wir eine Weile warten, um frische Pferde vorlegen zu lassen; ein dort anwesender Offizier trat mit ehrfurchtsvoller Gebärde und entblößtem Haupt an den Wagenschlag – der Postmeister, ein sogenannter Patriot, wurde aufmerksam, er erkannte den König trotz seiner Bediententracht, sprengte dem Wagen voraus und trommelte die Nationalgarde in Varennes zusammen. Heiliger Bernhard! welche entsetzliche Überraschung wartete unser dort! Die Sturmglocke ertönte, alles war in Bewegung, die Bewohner und die Milizen zusammengeströmt; die Brücke, die wir passieren mußten, war durch einen umgeworfenen Packwagen gesperrt, einige wütende Jakobiner fielen den Pferden in die Zügel und schrien uns mit wilden Gebärden zu: »Zurück, im Namen der Nation!« Und drüben, jenseits des Flüßchens, winkte uns Freiheit und Sicherheit; dort lag ein Trupp königstreuer Husaren, welche bereit waren, die Person und die Familie ihres Herrschers bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen! Ein Wink hätte genügt, um sie mit gezogenem Säbel heransprengen zu lassen – aber unser Flehen verhallte ungehört, der König verbot jeden Kampf und gab selbst den Befehl zur Umkehr. O diese Fahrt – diese schreckliche, demütigende Rückkehr! Mir siedet noch das Blut in den Adern, wenn ich daran denke!«
»Wie ertrug die Königin die furchtbare Täuschung aller Hoffnungen?« fragte Gabriele ablenkend.
»Sie war auch in diesen schrecklichen Tagen groß und herrlich! Ihre königliche Haltung, die Anmut und Grazie ihres ganzen Wesens bezauberten den rauhen Volksmann, der uns zurückgeleitete, so vollständig, daß er fortan der beste Freund und Fürsprecher Ihrer Majestät wurde. Aber was konnte er ihr nützen? Unsere Rückkehr nach Paris war schon der Anfang der Gefangenschaft; in dumpfem Schweigen oder mit grollendem Gemurmel empfingen uns die Bewohner der Hauptstadt, und das alte, graue Tuilerienschloß war nur ein erweitertes Gefängnis, dessen Mauern sich immer enger zusammenschoben. Und nun? Mir sagt es eine düstere Ahnung, daß mein unseliges Vaterland mit schnellen Schritten einem grauenvollen Abgrunde entgegentreibt – und ich kann es nicht aufhalten! Ich kann mir wohl die Hände wund ringen und das Gehirn zermartern in ohnmächtiger Wut, aber ich ändere nicht das kleinste an dem schrecklichen Geschick meines Monarchen, meiner unglücklichen Königin!« –
Nie war es Gabrielen so schwer gefallen, dem Vortrage des Magisters die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, wie heute; die Komödien des braven Hans Sachs, über die er sich weitläufig verbreitete, schienen ihr unsäglich gleichgültig gegen die gewaltige Tragödie, welche sich in Paris abspielte, und wobei die ganze gebildete Welt die erschütterte Zuschauerschaft bildete. Sie überhörte mehrmals die Fragen des Lehrers, weil sie auf den Hufschlag des rückkehrenden Boten lauschte, und atmete erleichtert auf, als die Lehrstunde schloß. Sie eilte in das Zimmer ihrer Mutter hinab, welche eben der blinden Maria aus einer Zeitung vorlas. »Was ist geschehen?« fragte sie mit einem angstvollen Blick auf die ernsten Mienen beider, »ist der König ...«
»Er ist tot, mein Kind,« erwiderte Frau v. Fiedler erschüttert, »diese furchtbaren Menschen haben es wirklich gewagt, ihre blutigen Hände an sein geheiligtes Haupt zu legen!«
»Unseliges, verblendetes Volk!« rief die Blinde mit erhobenen Künden. »Es wird ihm ergehen wie den Israeliten, als sie unseren Herrn gekreuzigt hatten; furchtbar wird die Sünde auf ihr eignes Haupt zurückfallen, und ihre Missetat wird an ihren Kindern gestraft werden bis ins dritte und vierte Glied! Haben ihre Könige sie mit Geißeln geschlagen, so werden, die nach ihnen kommen, sie mit Skorpionen züchtigen.«
»Aber der Graf?« fragte das junge Mädchen trostlos. »Wie soll er diesen Schlag ertragen? Er hängt mit ganzer Seele an seinem Könige – o, was kann ich tun, um ihn zu trösten?«
»Befiehl ihn Gott, Gabriele,« sagte Maria ernst, »deine Kinderhände sind viel zu schwach, um einen Mann aufzurichten.« –
Als Gabriele an diesem Tage mit zögernden Schritten bei ihrem Freunde eintrat, fand sie ihn tief gebeugt, sein Gesicht war von Tränen benetzt. »Ich kann den schrecklichen Bericht nicht lesen,« sagte er niedergeschlagen, indem er auf ein Blatt deutete, das vor ihm lag, »wollen Sie ihn mir vorlesen? Vielleicht macht Ihre holde Stimme ihn mir erträglicher.« Sie nahm gehorsam die Zeitung und las an der bezeichneten Stelle also:
»Als man dem Monarchen den Beschluß des Konvents verkündete, welcher aus ›Menschlichkeit‹ die sofortige Vollziehung des Todesurteils anordnete, sprach der König ruhig und gefaßt: ›Der Tod erschreckt mich nicht, denn ich baue auf die Barmherzigkeit des Himmels. Ich habe seit meiner Gefangennehmung so viele bittere Kränkungen erduldet, daß ich in diesem Ende nur eine Erlösung begrüße.‹ Nachdem er die schwerste Stunde, den Abschied von seiner Familie, überwunden hatte, wandte er seine ganze Seele Gott zu; Vertrauen auf ihn, Ergebung in seinen Willen, alle die erhabenen Tugenden eines frommen Dulders gaben ihm die Kraft, die Bitterkeit des Todes zu überwinden, und sicher war an diesem Tage der königliche Märtyrer der einzige Mensch in Paris, in dessen Seele der Friede wohnte. Nach einer sanft durchschlafenen Nacht ward er am Morgen in einem Wagen zur Richtstätte geführt; auch auf diesem letzten Wege umtobte ihn der wilde Haß seiner Feinde und drängte die schüchternen Kundgebungen seiner Getreuen zurück. Der Trommelwirbel der Nationalgarde übertönte seine letzten Worte; als sein blutendes Haupt herabrollte, heulte der Pöbel: Es lebe die Republik!«
Gabriele konnte nicht weiter lesen, sie legte den Kopf in ihre Hände und überließ sich dem Gefühl von Weh und Schmerz, das ihr fast das Herz zerriß. »Welche unauslöschliche Schmach für Frankreich, das den edelsten seiner Herrscher so behandelte! Welche Schande für die Fürsten Europas, die es geschehen ließen!« sagte der Graf bitter, indem er mit der geballten Faust auf den Tisch schlug. »O, wer etwas tun könnte, um diese Verräter zu züchtigen!« –
Mehrere Wochen waren vergangen, der Winter war im Begriff, das Feld zu räumen, linde Lüfte wehten über die Lande und weckten neues Leben im Schoße der lang erstarrten Erde. Gabriele pflückte Schneeglöckchen und Veilchen und brachte sie ihrem Freunde als Vorboten einer besseren Zeit; endlich konnte sie ihn selbst in den Garten führen und ihm die Schönheit ihrer geliebten Heimat zeigen. Mit zarter Fürsorge suchte sie die sonnigen Wege, die geschütztesten Stellen auf und machte ihn mit kindlicher Freude auf die Knospen und Blüten aufmerksam, die erst schüchtern und vorsichtig zu sprießen begannen, als trauten sie dem Himmel noch nicht. »Ist es nicht, als müßte auch für das Menschenherz ein neuer Frühling anbrechen?« plauderte Gabriele mit heiterem Blick. »Wenn ich sehe, wie all die Gesellen des rauhen Winters beschämt von dannen schleichen müssen, wie der Schnee zerschmilzt, das Eis vergeht im warmen Sonnenstrahl; wenn ich die Vögel wieder singen und die Quellen rauschen höre – dann ist mir's immer, als spränge auch von meinem Herzen eine eisige Decke ab, als müßte nun alles Leid sich wenden und ein großes, neues Glück vom Himmel fallen!«
»Glückliches Kind,« sagte der Graf mit kummervollem Lächeln, »was wissen Sie von Leid und Not! Der Himmel schütze Sie vor der Berührung mit der bösen Welt, meine kleine Freundin, sie weht uns argen Weltkindern Staub in die Augen und unreine Gedanken ins Herz, von denen Sie, gottlob, keine Ahnung haben!«
»Frohe Botschaft, Gabriele!« rief ihr die Mutter eines Tages freundlich entgegen. »Es ist ein Bote aus Hildburghausen gekommen; die Herzogin schreibt mir überaus gütig und ladet dich ein, den Geburtstag der Prinzessin Luise im dortigen Familienkreise mitzufeiern. So magst du dich rüsten, mein Kind, um nach dem traurigen Winter ein paar frohe Tage zu verleben. Aber was ist dir, Gabriele? Ich meinte, du würdest jubeln über die Aussicht, deine Freundin wiederzusehen, und du sagst kein Wort? Bist du nicht froh über die gütige Einladung?«
Das junge Mädchen war zuerst ganz blaß geworden, jetzt strömte ihr das Blut mit Gewalt in die Wangen zurück. »Gewiß wäre es köstlich, Luise wiederzusehen,« stammelte sie, »aber gerade jetzt? – Wie kann ich jetzt fort, liebe Mutter, der Graf bedarf meiner so sehr.«
Frau v. Fiedler legte die Hand auf ihren Scheitel und sah ihr prüfend in die Augen. »Mein liebes Kind,« sagte sie mit liebreichem Ernst, »du bist in einem Irrtum befangen, in den die Unerfahrenheit so leicht gerät; weil es dir vergönnt war, einem Nebenmenschen Liebes und Gutes zu erweisen, so glaubst du, ihm gleich für immer unentbehrlich zu sein. Aber nicht jede Berührung im Leben ist zur Dauer bestimmt, und man darf nichts eigensinnig festhalten wollen, was, seiner Natur nach, flüchtig und vergänglich ist. Du hast deine Aufgabe an unserem Gaste treu erfüllt – freue dich dessen mit demütigem Dank! Jetzt ist er, will's Gott, auf dem sicheren Wege zur Genesung; er wird uns bald verlassen, um als ein ganzer Mann den Kampf mit dem Leben von neuem aufzunehmen.«
»Wird der Graf in meiner Abwesenheit schon abreisen?« fragte Gabriele mit einem unterdrückten Seufzer.
»Vielleicht; jedenfalls wird es gut sein, wenn du vorher von ihm Abschied nimmst, du wirst dann um so ruhiger reisen. Und nun geh, mein Kind, und besprich mit Fanny die Vorbereitungen zu deiner Reise.«
Gabriele küßte ihr die Hand und verließ gedankenvoll das Zimmer.
Sie war es von klein aus gewöhnt, den Willen ihrer Eltern als richtig und maßgebend anzusehen, und sie setzte auch jetzt unbedingtes Vertrauen in die Weisheit und Güte ihrer Mutter. Woher kam die Unlust zu dieser Reise? Sicher nur aus der tiefen Teilnahme, die sie für ihren Gast hegte. Aber die kluge Mama mochte wohl recht haben: sie überschätzte ihre eigne Bedeutung für den Grafen, und er, der reife, welterfahrene Mann, lächelte vielleicht über die Anmaßung des törichten Mädchens, ihm auf die Dauer etwas gewähren zu wollen. Ihr ganzer Stolz empörte sich bei dieser Vorstellung; sie beschloß, einen ganz ruhigen Abschied von dem Fremden zu nehmen und ihn nichts von der Bewegung ihres Herzens ahnen zu lassen.
»Ich komme heute nur, um Ihnen Lebewohl zu sagen, M. le comte«, sagte sie, als sie zur gewohnten Zeit bei ihm eintrat.
»Wie, meine kleine Freundin will mich verlassen? Aber nicht auf lange, hoffe ich.«
»Meine Abwesenheit wird wohl nur einige Wochen dauern, aber es wäre doch möglich, daß Sie inzwischen auf einen anderen Schauplatz abgerufen würden.«
Der Graf stutzte. »Wollen Sie mich mit Gewalt aus diesem stillen Friedensasyl vertreiben?« fragte er wehmütig.
»O nein, nein, wie können Sie an unserer Gastfreundschaft zweifeln? Ich dachte nur – man sagte mir – Sie würden vielleicht wünschen, nach Ihrer Herstellung gegen die Feinde Ihres Königs zu kämpfen.«
»Mein teures Fräulein, Sie wissen es am besten, wie mein Herz sich sehnt, seinen Tod zu rächen und meine erhabene Königin aus den Klauen ihrer Widersacher zu befreien! Aber was vermag mein schwacher Arm gegen eine Welt triumphierender Feinde? Und lassen Sie mich's Ihnen gestehen, Gabriele – ich kann meinen Degen nicht gegen die Heere Frankreichs ziehen! So gewaltig ist der Zauber der französischen gloire, daß mich unwillkürlich ein Gefühl der Genugtuung beschleicht, wenn die französische Armee einen Sieg errungen hat! Daher danke ich meinem glücklichen Stern, der mich in dies gastliche Schlößchen führte, wo ich, fern von den Händeln der großen Welt, in beschaulicher Muße eine bessere Wendung meines Schicksals abwarten kann.
»Auf Wiedersehen denn, Herr Graf!« versetzte Gabriele und reichte ihm die Hand, die er mit ritterlicher Galanterie an seine Lippen führte. Als sie allein war, verfiel sie in ein tiefes Nachdenken; warum konnte sie sich über die Aussicht, den Gast noch lange Zeit bei sich zu sehen, plötzlich gar nicht mehr freuen? Sie fragte sich mit Bangen, wie ihre Mutter dies untätige Verweilen ansehen würde, sie, die nie die Hände in den Schoß legte, die Arbeit und Tüchtigkeit für die heilige Pflicht jedes vernünftigen Wesens hielt. War es heldenhaft, auf jeden Versuch, seine angebetete Königin zu befreien, von vornherein zu verzichten? War es tapfer, nur müßig abzuwarten, was die Zukunft bringen würde? Sie fand keinen Ausweg aus allen diesen dunkeln Fragen, aber das Bild des interessanten Fremden erschien ihr auf einmal getrübt – sie wußte selbst nicht recht, wodurch.