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Es ziehet der Mann in den Kampf hinaus,
Das Mädchen bleibet betrübt zu Haus.
»Gott segne und schütze dich, Liebster mein,
Wenn das Vaterland frei ist, dann werde ich dein!«
Es war am Nachmittag desselben Tages. Auf die Erregung der Morgenstunden war ein etwas feierliches Mittagessen gefolgt, zu dem, aus Anlaß des Geburtstages und der Mündigkeitserklärung, alle Verwalter und Schreiber der Scharfenecker Güter geladen worden waren. Jetzt waren sie gegangen, und die Hausgenossen hatten sich zurückgezogen, um auszuruhen; nur Thea konnte auf ihrem Zimmer keine Ruhe finden, sie war in den Garten hinabgegangen, in der Hoffnung, daß die frische Februarluft die stürmischen Wogen in ihrer Seele beruhigen werde. In Sinnen verloren, ging sie mit niedergeschlagenen Augen in dem langen Heckengange auf und ab und suchte vergebens Ordnung und Klarheit in das Gewirr ihrer Gedanken zu bringen. »Was bekümmert Sie so, liebe Thea?« fragte plötzlich Dr. Hans Ebner, der ihr unbemerkt ganz nahe gekommen war.
Sie fuhr zusammen und sah erschrocken zu ihm auf. »Ihnen wollte ich am wenigsten begegnen«, sagte sie hastig, erschrak aber aufs neue über ihre Unhöflichkeit und stammelte mit glühenden Wangen und tränenden Augen eine Entschuldigung.
Er ließ sich keinen Augenblick aus seinem ruhigen Gleichmut bringen, sondern ergriff ihre Hand und sagte freundlich: »Sind wir nicht mehr Freunde wie ehedem? hat meine Schülerin alles Vertrauen zu ihrem Lehrer verloren, dem sie doch sonst ihre Zweifel und Bedenken offen zu beichten pflegte?«
Der liebreiche Ernst wirkte unendlich beruhigend auf ihr erregtes Gemüt, es überkam sie eine stille Zuversicht, daß sie hier Aufklärung und Frieden finden werde. »Ich will es versuchen, Ihnen alles zu sagen, was mich ängstigt, lieber Dr. Hans,« erwiderte sie in erleichtertem Ton; »ach, meine Gedanken sind gewiß töricht und kindisch, aber ich hoffe, Sie werden mich darum nicht auslachen oder verachten. Als Sie heute in der Kirche so hohe, gewaltige Worte sprachen, da fühlte ich mich wohl hingerissen von Ihrer Begeisterung und wünschte, Ihnen ganz beistimmen zu können; aber die Frage will sich doch nicht zurückdrängen lassen: gibt es wirklich einen heiligen Krieg? kann etwas so Entsetzliches jemals heilig und Gott wohlgefällig sein? widerspricht es nicht den klarsten Geboten Gottes und unseres Heilandes: Du sollst nicht töten, und: Liebet eure Feinde?«
»Sie haben recht, Thea. Der Krieg ist eine scharfe, zweischneidige Waffe, und wehe dem, der sie aus Selbstsucht oder Leichtsinn in die Hand nimmt, denn furchtbar sind die Wunden, die sie in das eigene und in das fremde Fleisch schneidet. Wenn das Evangelium schon eine lebendige Gestalt in den Herzen der Einzelnen wie im Leben der Völker angenommen hätte, wenn Christi Gebote wirklich schon die bestimmende Macht in der Welt wären, dann würde es keinen Krieg mehr geben. Aber solange die Sünde noch eine furchtbare Gewalt ist, solange noch Herrschsucht und Ruhmbegier auf den Thronen sitzen und die Gegensätze der verschiedenen Völkerschaften noch nicht durch den Geist wahrer christlicher Liebe und Brüderlichkeit ausgeglichen sind – so lange wird auch der Krieg eine unentbehrliche Zuchtrute Gottes, eine schmerzhafte, aber unvermeidliche Operation bleiben, welche die Schäden am Körper der Menschheit ausschneidet, um sie zu heilen. Jenseits dieser Erde wird aller Streit und Kampf aufhören, hier müssen wir ihn als notwendiges Übel hinnehmen, welches die Unvollkommenheit aller irdischen Verhältnisse uns auferlegt. Welcher Kampf aber könnte berechtigter und Gott wohlgefälliger sein als der der Treue und Redlichkeit gegen die Lüge? der Gottesfurcht gegen die Menschenvergötterung? der Vaterlandsliebe gegen die Fremdherrschaft? der Freiheit gegen die Tyrannei?«
In andächtiger Aufmerksamkeit lauschte Thea den Worten ihres geliebten Lehrers, und es war ihr, als fiele ein Lichtstrahl in die Dunkelheit ihrer Seele. »Aber muß denn gerade Maltus mit hinausziehen?« fragte sie schüchtern. »Es gibt ja so viele tausend andere – warum kann er nicht daheimbleiben und die Pflichten gegen seine Großmutter und die Seinen erfüllen, die ihm doch auch von Gott vorgeschrieben sind?«
»Und wenn nun viele Tausende ebenso dächten, Thea? wo wäre ein Ende der Ausnahme zu finden? Nein, das ist gerade das Große und Herrliche, daß endlich in jeder deutschen Seele das Gefühl erwacht ist: auch dir hat der Tyrann das Höchste und Beste angetastet, darum hast auch du die Pflicht, die tempelschänderischen Hände zurückzustoßen und das Heiligtum zu reinigen. Mit Recht singt der Dichter:
Dies ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen,
Es ist ein Kreuzzug, 's ist ein heil'ger Krieg!
Und wer möchte dabei fehlen, wenn es gilt, die höchsten Güter des Lebens zu erringen? Wer möchte nicht sein Alles dafür einsetzen, sondern in Sicherheit daheimbleiben, während seine Brüder sich in tausend Gefahren stürzen?«
»Aber Sie, Dr. Hans, Sie ziehen doch nicht mit? Sie verwalten ja das heilige Amt des Friedens und der Liebe, was sollten Sie im Kriege?«
»Nein, Thea, auch mich duldet es nicht zu Hause. Und kann ich auch nicht mit dem Schwerte dreinschlagen und den Feind in offener Schlacht angreifen, so kann ich doch ein Rufer im Streite sein, die Herzen durch Gottes Wort stärken und zum Opfertode vorbereiten, die Verwundeten pflegen und die Sterbenden trösten. Und das will ich mit Gottes Hilfe redlich tun, als ein deutscher Mann und ein Prediger des Evangeliums.«
»Auch Sie!« sagte Thea schmerzlich bewegt, und eine Weile gingen beide Hand in Hand schweigend nebeneinander her. Plötzlich blickte sie zu ihm auf: »O, Dr. Hans, ich danke Ihnen! Sie haben mein armes, schwaches, kindisches Herz mit hohen Gedanken erfüllt, die mir in der kommenden, schweren Zeit ein Trost und eine Stütze sein werden. Ach, wenn ich doch immer in Ihrer Nähe weilen, an Ihrer Kraft mich stärken könnte!«
Er faßte ihre Hand fester. »Möchten Sie das wirklich, liebe kleine Thea?« fragte er mit einem leuchtenden Blick. »Versprechen Sie nicht zu viel – ich werde Sie beim Worte nehmen, denn auch ich wüßte mir kein schöneres Glück zu denken als das, Sie immer in meiner Nähe zu haben und jeden Gedanken meiner Seele mit Ihnen zu teilen.«
»Ach, das kann nicht Ihr Ernst sein, Dr. Hans,« versetzte sie ungläubig, »ich bin nur ein dummes, kleines Mädchen und würde Sie mit meinen tausend Fragen über alle Dinge zwischen Himmel und Erde bald langweilen und ermüden.«
»Ich möchte es schon darauf wagen«, erwiderte er lächelnd. »Wenn dieser Krieg zu Ende und mit Gottes Hilfe ein glorreicher Friede erfochten ist, dann will ich Sie an diese Stunde erinnern, dann will ich Sie fragen, ob Sie mein einfaches Leben voll stiller Arbeit und ernster Gedanken wirklich teilen möchten – was werden Sie mir dann für eine Antwort darauf geben?«
Das junge Mädchen stand da wie betäubt; sie konnte zuerst gar nicht fassen, was er meinte – war es denn möglich, daß sie ihm, der so unermeßlich hoch über ihr stand, wirklich lieb und teuer war? »O! Dr. Hans,« stammelte sie mit erglühenden Wangen, »ich bin dessen ja nicht wert ...« dann riß sie sich plötzlich los und flog davon, bis in ihr kleines Zimmerchen hinauf; dort vergoß sie Ströme von heißen Tränen vor süßem Schrecken und seliger Freude.
Die Glocke, welche die Familie zu den Mahlzeiten zusammenrief, ertönte, Thea fuhr auf; sie mußte hinuntergehen und sich allen Blicken aussetzen, – ach, würden ihre Wangen je aufhören, so verräterisch zu brennen, oder ihr Herz, so laut zu schlagen, daß man es auf mehrere Schritte weit hören konnte? Unendlich beklommen und verlegen schlich sie ins Wohnzimmer, wo die übrigen Hausgenossen schon um den Kaffeetisch versammelt waren; doch fand sie zu ihrer Herzenserleichterung, daß die allgemeine Aufmerksamkeit durch einen neuen Gast in Anspruch genommen war, den sie nicht hatte kommen hören, den Hauptmann v. Hartenstein. Dieser war im Laufe der letzten Jahre mehrmals in Scharfeneck eingekehrt, wenn seine geheimnisvollen Wanderungen, die er im Dienste der vaterländischen Interessen bald in dieser, bald in jener Verkleidung unternahm, ihn in die Nähe führten, aber so wie heute war er den Freunden noch nie erschienen. Alle die Wolken des Kummers, der herben Täuschung, die früher sein Antlitz überschattet hatten und ihn oft alt und vergrämt erscheinen ließen, waren verschwunden; heute leuchtete es von männlicher Tatkraft und freudiger Hoffnung. Er erzählte, daß eine Botschaft Gneisenaus ihn nach Breslau beriefe, wo er im Generalstabe der schlesischen Armee eine Anstellung finden solle. »Höheres hätte ich nie zu wünschen und zu hoffen gewagt,« sagte er, »als unmittelbar neben solchen Männern dem Vaterlande zu dienen. Mir ist zumute wie einem Jüngling, da ich mit dem wackeren Helden ins Feld ziehen soll, der das Zutrauen der Nation, die Liebe des Heeres für sich hat, unserem tapferen, ewig jugendfrischen General v. Blücher. Wenn einer uns zum Siege führen kann, so ist er es; spricht doch aus seinem ganzen Wesen die Freudigkeit des geborenen Helden und das einfache Gottvertrauen des Soldaten. Wer den schönen, hohen Mann einmal gesehen hat, wie er mit jugendlicher Kraft seinen feurigen Schimmel tummelt, mit der Hoheit auf der freien Stirn und in den großen, flammenden Augen, wer ihn einmal hat sprechen hören, gewaltige Worte mit einer mächtigen Stimme – der vergißt ihn nie wieder, der weiß, daß auf ihm Preußens beste Hoffnung beruht. Dazu kommt sein prächtiger Humor, der ihn allgemein beliebt macht. ›Dichten Sie man druff,‹ sagte er kürzlich zu einem patriotisch gesinnten Poeten, ›in solchen Zeiten muß jeder singen, wie es ihm ums Herz ist, der eine mit dem Schnabel, der andere mit dem Sabel.‹«
»Kennen Sie auch Gneisenau näher?« fragte Maltus.
»Ja, ich kenne den herrlichen Mann!« versetzte Hartenstein mit frohem Blick. »Er hat etwas Edles, Stolzes, Hochherziges an sich, das aus seiner ganzen Erscheinung hervorleuchtet wie lieblicher Sonnenschein; man hat bei ihm das Gefühl, einem ganz harmonischen Menschen gegenüberzustehen. Wie Großes hat er 1807 in Kolberg geleistet, als er, mit dem biederen Nettelbeck vereint, die Festung gegen die Franzosen hielt, eine der wenigen, die sich dem Feinde nie ergaben. Ich habe oft mit Vater Nettelbeck über diese Zeit gesprochen, und des Alten Augen wurden jedesmal feucht, wenn er an den milden Ernst Gneisenaus, an seine teilnehmende Freundlichkeit gegen die unglücklichen Bürger der Stadt, seine umsichtigen Anordnungen, seine tapfere Ruhe dachte. Er und Blücher werden sich aufs schönste ergänzen; der eine wird den hellen, klaren Kopf, der andere den kühnen, starken Arm darstellen, und beide vereint werden Preußen Sieg und Ruhm erwerben.«
Der eintretende Diener meldete, daß soeben ein königlicher Kurier aus Berlin eingetroffen sei; er hätte einen Brief für das gnädige Fräulein Gabriele gebracht, den er nur in ihre eigenen Hände übergeben dürfe. Gabriele eilte in gespannter Erwartung hinaus; auch Maltus und Dr. Ebner wurden abgerufen, da einige Männer aus Scharfeneck sie zu sprechen wünschten; Frau v. Fiedler, die sich heute sehr müde fühlte, bat Thea, sie in ihr Zimmer zu führen; so blieben Lotte und Herr v. Hartenstein allein zurück. Sie mußten sich wohl sehr Wichtiges zu sagen haben, denn als Gabriele nach einiger Zeit, mit einem Brief in der Hand, zurückkehrte, fand sie die beiden in der Fensternische stehen und so sehr in ihr Gespräch versunken, daß sie ihren Eintritt gar nicht bemerkten. Sie zog sich schnell wieder zurück und suchte ihre Mutter auf.
»Freuen Sie sich mit mir, meine geliebte Mutter,« begann sie in lebhaft erregtem Ton, »mein geheimes Wünschen und Sehnen ist über alles Erwarten hinaus erfüllt worden: auch ich darf teilnehmen an der großen Arbeit für das Vaterland! Die Prinzessin Wilhelm hat sich an die Spitze der deutschen Frauen gestellt, um sich mit ihnen zu dem Werke christlicher Liebe im kommenden Kriege zu vereinigen; sie fordert mich auf, an ihre Seite zu eilen und ihre Helferin zu werden. Unbemittelte sollen ausgerüstet, Spitäler errichtet, Witwen und Waisen versorgt werden, es ist ein unendlich weites Feld der Tätigkeit. O, meine Mutter, ich bin so froh, so dankbar! es hätte mich nicht daheim gelitten, wenn alles seine Kräfte regt zum Heil des Ganzen! Sagen Sie mir ein Wort der Zustimmung und des Mitgefühls, und lassen Sie mich mit Ihrem Segen hinausziehen in ein frisches, tätiges Leben!«
»Auch du willst mich verlassen, mein Kind!« seufzte die Freifrau; »soll ich denn alle meine Lieben verlieren und ganz allein bleiben?«
»Ich bleibe bei dir, Großmütterchen!« rief Thea zärtlich; »ich will dich nie verlassen, bis ...« sie verstummte plötzlich und verbarg ihr Gesicht – war nicht von heute an ein Etwas in ihr Leben getreten, das auch sie einmal von der Heimat losreißen mußte? –
Nur einen kurzen Augenblick gab Frau v. Fiedler einem selbstsüchtigen Gedanken Raum, schon im nächsten ging sie mit voller Teilnahme auf die Pläne ihrer Tochter ein und beriet mit ihr alle notwendigen Einrichtungen für die bevorstehende Reise. Gabriele ging, um ihre Antwort an die Prinzessin zu schreiben, welche der Kurier morgen in aller Frühe nach Berlin zurückbringen sollte; statt ihrer trat Lotte ein. Sie kniete vor der alten Dame nieder, legte die gefalteten Hände in deren Schoß und sah mit einem Blick voll strahlender Glückseligkeit zu dem teuern Antlitz auf, das sie von frühester Kindheit an mit wahrhaft mütterlicher Liebe bewacht und geleitet hatte. »Mein liebes, verehrtes Mütterchen!« sagte das junge Mädchen tiefbewegt, »mir ist etwas Großes, Wunderbares widerfahren, aber ich kann mich dessen nicht von ganzem Herzen freuen, ehe Sie nicht davon wissen und es gutheißen. Hartenstein hat mir eben gesagt, daß er mich lieb habe, daß er nach der Rückkehr aus diesem heiligen Kriege sein schönstes Glück aus meinen Händen erwarte. O Mutter, darf ich ›ja‹ sagen? Sie haben Ihrer Lotte zeitlebens das schmerzliche Gefühl erspart, daß sie nur ein armes, verlassenes Waisenkind ist; wollen Sie zu all der unaussprechlichen Liebe und Güte, die Sie ihr erwiesen haben, noch diese fügen, daß Sie sie dem Manne geben, den sie schon lange als einen der Edelsten und Besten verehrt?«
Die Freifrau hatte ihr mit einem ernsten, gedankenvollen Lächeln zugehört und mit liebkosender Hand über die glatten, blonden Haare und die glühenden Wangen gestrichen; nun sagte sie im Tone leiser Wehmut: »Glückliche, hoffnungsreiche Jugend; sie denkt schon über den furchtbaren Krieg hinaus, der noch nicht einmal begonnen hat, dessen Ausgang noch in dichtem, verhängnisvollem Dunkel liegt! Wie manche stolze Eiche wird der erwachende Sturm entwurzeln und stürzen! Ihr aber denkt schon wohlgemut daran, euch in ihren beruhigten Zweigen eure Nester zu bauen! Glückliche Jugend, wer es dir gleichtun könnte! – Aber das ist keine Antwort auf deine Frage, mein liebes, gutes Kind; ganz überrascht bin ich nicht dadurch, ich habe es lange so kommen sehen! Gehe hin, hole mir deinen Erwählten, daß ich den Bund eurer Herzen segne!«
Lotte bedeckte die teuern Mutterhände, denen sie alles im Leben verdankte, mit heißen Küssen; dann sprang sie auf und eilte hinaus. Thea konnte das Zimmer nicht verlassen, ohne den Eintretenden zu begegnen, was ihr peinlich gewesen wäre; da sie nicht zu stören wünschte, zog sie sich hinter die herabgelassenen Fenstervorhänge zurück. So hörte sie von ihrem Versteck aus, wie Frau v. Fiedler Hartenstein als Verlobten ihres lieben Töchterchens willkommen hieß und ihm in ernsten und doch unendlich gütigen Worten ihre Lotte ans Herz legte. Weiter hörte die Lauscherin nichts mehr, denn sie war in eine tiefe Träumerei versunken; unwillkürlich sah sie sich selbst an der Seite eines anderen an dieser Stelle stehen und den Segen der Großmutter erbitten. Für einen Moment schoß der Gedanke, ob jene ihre Wahl ebenso unbedenklich gutheißen werde wie die Lottens, beängstigend durch den Sinn; aber dann lächelte sie über ihre Furchtsamkeit: Dr. Hans Ebner war sicher jedem Manne in der Welt ebenbürtig und den meisten an Geist und Charakter weit überlegen!
So versunken war sie in ihre Träume, daß sie es kaum bemerkte, daß das Brautpaar gegangen war und nach einer kurzen Pause ein neuer Gast das Gemach betreten hatte. Erst als dieser zu sprechen begann, erschrak sie heftig, denn es war gerade der, mit welchem alle ihre Gedanken beschäftigt waren. Was sollte sie anfangen? Hervortreten und sich zeigen konnte sie nicht, unbemerkt entfliehen auch nicht; ihr blieb nichts übrig, als sich noch tiefer in ihre Ecke und die Hände fest auf das Herz zu drücken, damit sein wildes Schlagen ihre Nähe nicht verraten möchte. Sie fühlte sich grenzenlos beschämt über ihren Lauscherposten; sie wollte nichts hören und konnte es doch nicht hindern, daß die Worte an ihr Ohr schlugen. Sie vernahm, wie Ebner von dem lebhaften Interesse sprach, das er immer an seiner Schülerin genommen habe, und daß es das höchste Ziel seines Strebens geworden sei, sie für sich zu gewinnen. Wohl wisse er, daß er ihr anfangs nur eine bescheidene Stellung bieten könne, aber er hoffe, daß Theas einfacher Sinn daran keinen Anstoß nehmen werde, und wenn seine Familie auch der Fiedlerschen äußerlich nicht gleich stünde, so fließe doch in ihren Adern altes Patrizierblut, und schon vor Jahrhunderten habe es ein Ritter von Maltheim nicht verschmäht, um eine Ebnerin zu werben.
Fast wider Willen hatte Thea immer aufmerksamer zugehört, – wie fest und männlich klangen Dr. Hans' Worte, wie jubelte ihr Herz dem Sprecher zu, und wie überzeugt war sie, daß auch die Großmutter davon völlig befriedigt und gewonnen sein würde! Aber statt der freudigen Zustimmung, die sie erwartete, erfolgte ein peinlich langes Schweigen, und die Stimme der Freifrau klang etwas gezwungen, als sie endlich antwortete: »Sie sehen mich stumm vor namenlosem Erstaunen, lieber Ebner; nie hätte ich eine solche Werbung für möglich gehalten. Thea ist noch ein völliges Kind, sie verehrt in Ihnen nur den Lehrer und schätzt den treuen Freund ihres geliebten Bruders. Und dann – ich hoffe, ich bin frei von törichtem Adelsstolz, aber ich gestehe es, meine alten Familienüberlieferungen sind mir wert, und ich hätte für meine einzige Großtochter an eine glänzendere Partie gedacht.«
»Ich weiß es,« versetzte Ebner ruhig, »daß ich ein bürgerlicher Mann, der Sohn und Bruder Ihrer eigenen Verwalter bin, Frau Baronin, aber es gibt auch eine Aristokratie des Geistes und der Wissenschaft, und vielleicht gelingt es auch mir einmal, mich zu den erlauchten Geistern der Nation emporzuarbeiten. Lassen Sie Thea selbst entscheiden!«
»Nein, nein, das darf nicht sein!« sagte die Freifrau entschieden. »Mein kleines Mädchen muß gänzlich frei und ungebunden bleiben. Sie wollen sich dem Heere anschließen, lieber Ebner; nun wohl, vertagen wir die ganze Frage bis zu Ihrer Rückkehr, denken wir gar nicht mehr daran, daß Sie von derartigem gesprochen haben ...«
»Großmutter, so grausam wirst du doch nicht sein!« sagte plötzlich eine klagende Stimme, die beiden unendlich überraschend kam. Thea war zwischen den Vorhängen hervorgetreten und stand da, mit einem Ausdruck in ihrem holden Gesichtchen, wie ihn noch nie jemand an ihr gesehen hatte. Alle kindliche Schüchternheit war auf einmal einer festen Entschlossenheit gewichen, unaufhaltsam strömten die Worte von ihren Lippen. »Du hältst mich für ganz kindisch, geliebte Großmama, und du magst wohl recht gehabt haben, aber vielleicht bin ich es heute nicht mehr so sehr wie noch vor wenig Tagen; eine einzige Stunde kann wohl der Kindheit ein Ende machen. Sieh, ich achte es für den höchsten und edelsten Beruf eines Mannes, für seinen Gott und Heiland zu zeugen und sein Reich auf Erden bauen zu helfen; das taten auch die Apostel, die unsere herrlichsten Vorbilder sind. Und ich kann mir kein köstlicheres Los für eine Frau denken als das, ihres Gatten Gehilfin in solcher Arbeit zu sein! Das ist mehr als hohe Geburt und äußerer Glanz – o, was finge ich damit an, wenn mein Herz leer und unbefriedigt bliebe!«
Frau v. Fiedler traute ihren Augen und Ohren nicht; war das ihre kleine kindische Thea, welche bisher noch nie mit einer eigenen Meinung hervorgetreten war, welche sich mit willenloser Fügsamkeit jeder ihrer Weisungen unterworfen hatte? Dennoch durfte sie nicht nachgeben. »Du bist viel zu jung und unerfahren, um über dich selbst zu entscheiden,« sagte sie sehr ernst, »ich darf von dir Gehorsam verlangen, denn ich will in aufrichtigster Liebe nur dein Bestes. Ich werde jetzt in kein Versprechen willigen – gehen Sie hin, Dr. Ebner, und helfen Sie an Ihrem Teile, das zertretene Vaterland wieder aufrichten; wenn es frei ist und Sie mit den Siegern zurückkehren, dann wollen wir wieder von dieser Sache reden. Versprechen Sie mir, daß Sie sich meinen Wünschen fügen wollen.«
Dr. Hans hatte sich zuerst stolz aufgerichtet; als Thea erschien, war er in Versuchung gewesen, ihre Hand zu ergreifen und sie an seine Seite zu ziehen, aber er hatte der inneren Bewegung widerstanden. Jetzt senkte er das Haupt und sprach: »Sie haben zu befehlen, gnädige Frau, an uns ist es zu gehorchen. Ich gehe.«
Er verbeugte sich ernst vor den beiden Damen und verließ das Zimmer; mit einem leuchtenden Blick sah Thea ihm nach. »Ist er nicht edel und hochherzig, Großmutter?« fragte sie mit stolzem Ausdruck. »Wenn das Vaterland frei ist, wirst du uns deinen Segen nicht länger vorenthalten; dann werde ich ihm angehören. Bis dahin will ich schweigen und gehorchen wie er!«
Ihre kleine, zarte Gestalt schien zu wachsen, als sie mit festem Schritt hinausging. Frau v. Fiedler sank ganz erschöpft in ihren Sessel zurück; die Überraschungen dieses Tages wollten kein Ende nehmen, aber ihr siebzigjähriger Kopf drohte fast, seinen Dienst zu versagen. Sie schloß die Augen, um sich von dem Sturm der Ereignisse zu erholen, und schlummerte ein wenig ein. Als sie nach einer Weile aufsah, saß Maltus neben ihr und betrachtete sie mit sorgenvoller Zärtlichkeit. »Was bringst du, lieber Sohn?« fragte sie unruhig; »kommst du auch, um mir zu sagen, daß du eine Braut hast?«
»Eine Braut? – ja, Großmutter, ich weiß wohl eine, die mir am Herzen liegt, und die ich gern gewinnen möchte, aber es ist eine kalte und spröde Jungfrau. Die ist es, von der der Dichter singt:
Ja, gutes Schwert, frei bin ich
Und liebe dich herzinnig
Wie eine liebe Braut,
Die Gott mir angetraut.
Den Mund, den liebeheißen,
Drück' ich aufs kalte Eisen,
An mein Herz drück' ich's fest.
Fluch, wer die Braut verläßt!
Hurra!«