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Die Sonne steigt empor, ein Sturm braust durch die Lande
Dies ist der Tag des Herrn! nun fallen unsre Bande!
Der folgende Tag brachte dem Scharfenecker Hause und allen seinen weiblichen Händen eine rege Tätigkeit, galt es doch, die ausziehenden Freiheitskämpfer mit allem Nötigen auszurüsten. Aus der Zahl der Dorfbewohner, die sich zur Teilnahme an dem Kampfe für das Vaterland gemeldet hatten, waren vier jüngere Männer ausgewählt worden, welche durch keine näheren Pflichten an die Heimat gebunden waren; ihre vollständige Ausrüstung und Besoldung für ein Jahr hatte die alte Freifrau übernommen. Nun taten sich alle Schränke und Truhen des Hauses auf, um ihre reichen Vorräte von Wäsche und selbstgesponnener Leinwand ans Licht zu bringen; wer von den Frauen in Scharfeneck und Tannenrode eine Nadel geschickt zu führen wußte, war aufs Schloß entboten worden, um zu helfen, und in langer Reihe saßen sie um den großen Tisch der Gesindestube, um unter Mamsell Jettchens Anleitung die erforderlichen Stücke fertig zu schaffen. Die brave Haushälterin erfreute sich immer noch derselben Frische und Tatkraft, womit sie der großen Wirtschaft schon seit vielen Jahren vorgestanden hatte; sie war fast zehn Jahre jünger als ihre Gebieterin und tat sich auf ihre Jugendlichkeit nicht wenig zugute. Gegen alles französische Wesen hegte sie einen rechtschaffenen Haß, daher nickte sie auch recht zufrieden, als einige junge Dirnen ihre Stimmen erhoben und also zu singen begannen:
»Wer so aus Rußland wandern muß, o weh!
Der hat zu Hause viel Verdruß, o weh!
Soldaten und Pferde, die fraß die Not,
Nun steckt er bis über die Ohren im Kot.
O weh, o weh, o weh!
Juchhe, juchheisa, juchhe!
Er zog wohl aus bei Sonnenschein, o weh!
In Moskau dacht' er den Winter zu sein, o weh!
Soldaten, sprach er, da liegt euer Lohn,
Gemächliches Leben und Kontribution.
O weh, o weh, o weh!
Juchhe, juchheisa, juchhe!
Die Moskauer dachten im strengen Sinn, o weh!
Ein sklavisches Leben ist kein Gewinn, o weh!
Eh' wir uns ergeben dem korsischen Hund,
Verbrennen die Stadt wir bis auf den Grund.
O weh, o weh, o weh!
Juchhe, juchheisa, juchhe!
Nun kann er nicht vorne, nicht hinten zurück, o weh
Es kehrt ihm den Rücken das alte Glück, o weh!
Von Archangel bis zum Kaspischen Meer
Schallt hoch der Jubel der Völker her.
O weh, o weh, o weh!
Juchhe, juchheisa, juchhe!
(Volkslied von 1812.)
»So ist's recht, Kinder,« sagte Mamsell Jettchen wohlgefällig, »lacht diesen angebrannten Kaiser zum Lande hinaus! Unser Herrgott hat ihm schon derb auf die Finger geklopft, Er wird unseren wackeren Burschen sicher helfen, wenn sie den prahlerischen Franzmännern nun alles heimzahlen, was sie so lange mit einem untertänigen Kratzfuß haben einstecken müssen. Einmal muß die Reihe, das Maul aufzutun und den welschen Herren die Wahrheit zu sagen, doch auch an uns kommen! wir haben ja auch einen Mund zum Reden und Fäuste zum Dreinschlagen, die dürfen nicht einrosten. Aber fleißig, fleißig, ihr Frauen und Mädchen! wir Weiber müssen auch unser Teil tun, und wenn wir nicht fechten können, wollen wir wenigstens sorgen, daß unsere braven Jungen ein Hemd auf dem Leibe haben.«
Als es zu dunkeln begann, versammelten sich im Eßzimmer des Herrenhauses die Familienglieder, Hartenstein, die Brüder Ebner und ein großer Teil der Männer von Scharfeneck und Tannenrode zu einer Abschiedsfeier, denn am nächsten Morgen wollten alle Beteiligten aufbrechen, um sich nach Breslau zu begeben. Dr. Hans, der seit dem vorigen Abend ins Amtmannshaus übergesiedelt war, hielt eine feierliche Ansprache und segnete mit feurigen Worten die freiwilligen Kämpfer zum großen Werke ein. Dann wurde Wein gebracht, den die jüngeren Damen selbst einschenkten und den Ausziehenden darboten. Frau von Fiedler erhob ihr Glas: »Den Anfang, Mitt' und Ende, Herr Gott, zum Besten wende!« sagte sie mit leise bebender Stimme.
»Gott, tritt aus deiner Wolke,
Gib Freiheit unserm Volke,
Gib Kriegs- und Friedensmut«,
fuhr Gabriele fort.
»Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
Der wollte keine Knechte,
Drum gab er Säbel, Schwert und Spieß
Dem Mann in seine Rechte!« (Arndt.)
rief Hartenstein, und begeistert fiel Maltus ein:
»Das Volk steht auf, der Sturm bricht los;
Wer legt noch die Hände feig in den Schoß?
Pfui über dich Buben hinter dem Ofen,
Unter den Schranzen und unter den Zofen!
Bist doch ein ehrlos erbärmlicher Wicht;
Ein deutsches Mädchen küßt dich nicht,
Ein deutsches Lied erfreut dich nicht!
Und deutscher Wein erquickt dich nicht!
Stoßt mit an
Mann für Mann,
Wer den Flamberg schwingen kann!«
(Körner.)
Die anwesenden Männer riefen: »Hoch!«, die Gläser klangen, alle stießen miteinander an; dabei kam Dr. Hans dicht vor Thea zu stehen. »Mut und Ausdauer!« flüsterte er ihr zu. »Gehorsam und Treue!« gab sie leise zurück. Da ward die Tür aufgerissen, ein Mann stürzte herein: »Fort, fort! rettet euch!« keuchte er atemlos; »die Franzosen sind euch auf der Spur!«
Schreckensbleich drängten sich alle um den Unglücksboten – es war Jochen. »Woher wißt Ihr – wo kommen sie her – redet deutlicher« – klang es wirr durcheinander.
»Ich war heute früh nach Gotha gewandert,« versetzte Jochen in fliegender Hast, »da kam auf der Landstraße von Erfurt her ein Trupp französisches Fußvolk an; sie forschten mich aus, wo Tannenrode und Scharfeneck lägen, und wer im Schlosse zum Besuch sei. Ich witterte gleich Unrat und gab ihnen lauter verkehrte Antworten, wies ihnen auch ganz falsche Wege, auf denen sie wohl ein paar Stunden im Walde herumirren werden, aber lange kann es nicht dauern, bis sie hier sind – fort, gnädige Herren, fort, oder es gibt ein Unglück!«
Der lähmende Schrecken, den diese Kunde hervorrief, dauerte nur wenige Sekunden; Hartenstein gewann zuerst seine volle Fassung wieder; er war es freilich manches Jahr hindurch gewöhnt gewesen, sich feindlichen Verfolgungen mit Mut und List zu entziehen. »Ihr geht sofort in eure Häuser und tut, als sei nichts vorgefallen«, sagte er in befehlendem Ton zu den Dörflern. »Wir drei aber ziehen uns fürs erste in den alten Turm zurück, der schon manchem Vaterlandsfreunde Rettung und Sicherheit gewährt hat. Sobald die Gefahr vorüber ist, erhaltet ihr sichere Botschaft, ihr Männer!«
Seine Anordnungen fanden den schnellsten Gehorsam; in wenigen Minuten war das Haus leer, auch die nähenden Frauen wurden sofort entlassen und alle Spuren einer ungewöhnlichen Tätigkeit sorgsam fortgeräumt. Die Damen setzten sich im Arbeitszimmer der Freifrau nah zusammen; »Vorsicht und Kaltblütigkeit, meine Lieben,« mahnte Gabriele, die in diesem Augenblick die Stärkste und Ruhigste war; »nehmt eure Arbeiten zur Hand und legt ein Buch auf den Tisch, damit etwaige Eindringlinge uns in der friedlichsten, häuslichen Beschäftigung finden.« So saßen sie mit bang klopfenden Herzen, ohne zu sprechen, da und lauschten in die abendliche Stille hinaus. »Gott sei Dank! jetzt müssen sie in Sicherheit sein,« sagte Lotte nach einer langen Weile halblaut, indem sie auf die Uhr blickte; »in einer halben Stunde ist man oben und geborgen. Für sie brauchten wir nicht mehr zu zittern.« Thea schmiegte sich enger an sie; bis jetzt hatte sie mit gefalteten Händen dagesessen, in stilles Gebet vertieft, das heiß und inbrünstig aus ihrem erschrockenen Herzen aufstieg. Wenn sie um Dr. Hans beruhigt sein konnte, so wollte sie versuchen, für sich selbst nichts zu fürchten.
Wieder verstrich eine bange halbe Stunde, dann ließ sich draußen ein ungewöhnliches Geräusch vernehmen, aber es waren nicht laute Schläge an das Tor, nicht wütendes Schreien und Toben, wie es die Horchenden erwartet hatten, sondern gedämpfte Stimmen, vorsichtige Tritte, leises Waffengeklirr. Es hatte etwas Unheimliches, das beklemmender wirkte als offenes, gewaltsames Einschreiten, und die Damen wagten es nicht, sich zu rühren. Plötzlich steckte Mamsell Jettchen den Kopf in die Tür: »O, du lieber Herrgott, was wollen sie mit uns anfangen, Euer Gnaden?« flüsterte sie angstvoll. »Das ganze Haus ist von Soldaten umzingelt, niemand darf hinaus; als die Trine ins Freie wollte, stieß sie auf vorgehaltene Bajonette. Ich glaube, sie wollen das Schloß anstecken und uns ausräuchern wie den Napoleon aus Moskau. Sollen wir ausbrechen, Euer Gnaden, oder Wasser aus den Fenstern gießen, um ihre gottlosen Anstalten zu zerstören?«
»Nur ruhig, Jettchen,« tröstete Gabriele, »sie können uns nichts Ernstliches tun, höchstens das Haus durchsuchen, und da werden sie nichts finden.« »Verhaltet euch alle still und höflich,« fügte die Freifrau hinzu; »nur keine Auflehnung! so werden wir die Fremden am schnellsten loswerden!«
Jetzt ertönte lautes Klopfen an der Haustür; der alte Franz öffnete, ein Offizier in französischer Uniform trat ein, mehrere Soldaten drängten sich nach und umstanden den Diener mit drohenden Gebärden. »Hier wird Meuterei gegen den Kaiser geplant,« herrschte der Leutnant den Bedienten in süddeutscher Mundart an, »wir müssen die Rädelsführer haben. Euch hilft kein Leugnen und Verstecken – gebt sie heraus, oder wir brauchen Gewalt.«
»Ich weiß nicht, wen der Herr Leutnant meint,« erwiderte Franz ruhig, »unser junger Herr Baron ist heute in aller Frühe wieder abgereist, nachdem er hier der alten Gnädigen ihren Geburtstag gefeiert hat; ist auch kein Verschwörer, soviel ich weiß.«
»Es hat gestern in der Kirche einer offenen Aufruhr gepredigt, wo steckt er? er ist hier im Schlosse verborgen.«
»In der Kirche bin ich nicht gewesen, unsereiner hat auch am Sonntag nicht immer Zeit für den Herrgott übrig«, erwiderte Franz gleichmütig.
»Macht keine Flausen, Mann, oder wir werden Euch reden lehren!« sagte der Offizier drohend. »Führt mich zu Euerm Herrn!«
»Mir haben nur eine gnädige Frau und gnädige Fräuleins hier, und ich bitte den Herrn Leutnant, recht sanft aufzutreten, damit die Damen nicht unnötig erschreckt werden.« Er ging voran, der Offizier – es war ein Bayer – folgte brummend, nachdem er den Soldaten in schlechtem Französisch den Befehl gegeben hatte, die Haustür zu bewachen und jedes Winkes gewärtig zu sein. Vor dem Wohnzimmer blieb Franz stehen. »Ich werde den Herrn anmelden«, sagte er. »Unnötige Mühe, ich führe mich selbst ein«, versetzte der Leutnant hochfahrend, schob den Alten zurück und trat ins Zimmer.
Bei seinem Anblick erhob sich Frau v. Fiedler in ihrer ganzen Stattlichkeit und kam ihm, auf Gabriele gestützt, einige Schritte entgegen. »Was ist Ihr Begehr, mein Herr?« fragte sie mit ruhiger Würde.
Der Anblick der beiden Damen in ihrer echten Vornehmheit verfehlte seinen Eindruck nicht, der Bayer nahm eine strammere Haltung an und sprach in dienstlichem Ton: »Der kaiserliche Kommandant von Erfurt hat mich beauftragt, hier in Scharfeneck einen Kandidaten aufzuheben, welcher offene Empörung gegen Seine Majestät, unseren allergnädigsten Kaiser, gepredigt hat; ich fordere seine sofortige Herausgabe.«
»Hier muß ein Irrtum obwalten,« erwiderte die Freifrau in ruhiger Gemessenheit, »wir stehen nicht unter dem Regiment Ihres Kaisers, wir haben unseren eigenen Landesherrn, Seine Durchlaucht den Herzog von Sachsen-Weimar, dem wir allein verantwortlich sind.«
Der Offizier stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Der Kaiser steht über allen Landesherren; wenn er befiehlt, muß alles gehorchen, und ich werde den Befehlen seines Generals überall Gehorsam erzwingen. Wenn die gnädige Frau den Übeltäter nicht freiwillig herausgibt, so muß ich Haussuchung halten.«
»Tun Sie Ihre Pflicht,« versetzte Frau v. Fiedler kalt, »Sie werden sich bald überzeugen, daß mein Haus keinen Fremden beherbergt. Indessen bitte ich, jeden Übergriff zu vermeiden, denn unsere Regierung würde sicherlich Rechenschaft dafür fordern.«
Der Bayer machte ein böses Gesicht und rief seine Soldaten herbei, während die Freifrau Franz beauftragte, dem Offizier jedes Gemach des Hauses vorzuweisen. Mit dröhnenden Schritten durchzogen die Fremden alle Räume; der Offizier fluchte ungeduldig, wenn Franz langsam und umständlich mit den Schlüsseln hantierte, die Reihe unbewohnter Zimmer aufschloß und mit spöttischer Beflissenheit in jede Ecke leuchtete. Ein paarmal griff der Leutnant mit rauher Faust in die hochgetürmten Gastbetten ein und warf sie auf die Erde, um zu sehen, ob jemand darin versteckt sei, doch wurde er der Sache bald überdrüssig, denn der Alte hob jedes Stück wieder auf und ordnete es sorgfältig, ehe er weiterging. »Wir sind ja nicht in Feindesland, mein hochverehrter Herr Leutnant,« meinte er in voller Gemütsruhe, »unter guten Freunden muß man das Eigentum respektieren, sonst müßte es Ihr Herr General ja ersetzen.«
Die Haussuchung blieb natürlich erfolglos; in schlechtester Stimmung verließ der Offizier das Herrenhaus, wo er nur einige Leute als Schildwachen zurückließ, und begab sich mit den anderen auf den Hof, um alle Gebäude zu durchsuchen. Seine üble Laune stieg, als er nirgends etwas Verdächtiges fand; er setzte immer feindseligere Mienen auf und drohte mit scharfen Maßregeln. Auf dem Speicher lag ein riesiger Haufen Hafer aufgeschüttet, ein seltener Anblick in diesem Winter, denn nach der völligen Mißernte des Jahres 1812 war das Korn überall knapp geworden und nur um teuere Preise käuflich. »Diesen Hafer nehme ich für die kaiserliche Armeeverwaltung in Beschlag,« sagte der Leutnant herrisch zu dem begleitenden Amtmann, »Sie werden ihn sofort in Säcke schütten lassen und mir die nötigen Wagen stellen, um ihn morgen früh nach Erfurt zu befördern; ich gebe Ihnen einen Empfangsschein darüber.«
Der Amtmann schwieg dazu, er konnte gegen die Übermacht mit offenem Widerstande nichts ausrichten. »Ich werde einige Mann hier lassen und mich nach Tannenrode begeben,« fuhr der Offizier fort; »auch dort sind mir einige Aufrührerische genannt. Morgen mit Tagesanbruch kehre ich zurück und erwarte pünktliche Befolgung meiner Befehle.«
Wieder verbeugte der Amtmann sich schweigend und sah nachdenklich der abziehenden Truppe nach. Dann ordnete er schnell eine reichliche Bespeisung der zurückgelassenen Soldaten an und begab sich zu seiner Gebieterin, um ihr die Forderung zu melden. »Es ist unser sorgsam aufgehobener Saathafer,« sagte er betrübt; »wenn die Franzosen ihn auch wirklich bezahlen sollten – was ich nicht glaube –, wo nehmen wir in diesem Frühjahr anderen her?«
Die Freifrau saß einige Augenblicke in tiefem Sinnen da, dann hob sie die klaren Augen mit einem Ausdruck ungewöhnlicher Energie zu dem treuen Beamten auf. »Wir müssen kühn und schnell handeln«, sagte sie fest. »Nehmen Sie alle unsere Leute heran und lassen Sie den Hafer auf die geackerten Felder ausstreuen. Nach Mitternacht geht der Mond auf, der wird genug Licht für die Arbeit geben. Können wir von solcher Aussaat auch nicht den vollen Ertrag erwarten, so werden wir doch mehr ernten, als wenn die Franzosen uns das Ganze fortnähmen. Was denken Sie von diesem Plan, lieber Ebner?«
»Er ist Ihrer wert, gnädige Frau,« erwiderte der Amtmann froh und küßte ihr ehrerbietig die Hand; »ich eile sogleich an die Ausführung.«
Die ganze Nacht hindurch herrschte auf den Scharfenecker Fluren eine geheimnisvolle Tätigkeit; als die Sonne aufging, war das letzte Haferkorn ausgestreut. Die Wut des bayrischen Offiziers, als er zurückkehrend die List erkannte, war grenzenlos; er schrie, er würde das ganze meuterische Nest anstecken, doch begnügte er sich schließlich mit bösen Worten und zog unter Rachedrohungen ab. »Das Maß der welschen Anmaßungen ist übervoll,« sagte Gabriele, bebend vor Zorn, »selbst im eigenen Hause des Verbündeten treten sie wie gierige Feinde auf! Aber Gott sei Dank, ihre Zeit ist bald abgelaufen!«
Erst jetzt konnte man daran denken, den drei Gefangenen im Turm Speise und Trank zukommen zu lassen; bisher hatten sie sich mit dem Wenigen begnügen müssen, was ihnen Mutter Marthe aus ihren bescheidenen Vorräten gespendet hatte. Im Abenddunkel kamen sie aus ihrem sicheren Versteck hervor, und nach kurzem Abschied von den Bewohnern des Schlosses und des Amtmannshauses verließen sie auf schnellen Pferden Scharfeneck, um auf Schleichwegen Böhmen und von dort aus Breslau zu erreichen. Erst einige Tage später folgten auf dem gleichen Wege die vier Dorfbewohner; auch Gabriele nahm bald darauf Abschied vom Vaterhause, um sich in sicherer Begleitung nach Berlin zu begeben.
Für die Daheimgebliebenen folgten jetzt stille, öde Wochen voll Sehnsucht und Bangigkeit; ungeduldig sahen sie jedem Posttage entgegen, um wenigstens durch die Zeitungen etwas von der Lage der Dinge zu erfahren, denn auf Briefe durch die Post durften sie nicht hoffen; die konnten nur durch vertraute Hände gehen, weil sie sonst vor Verrat nicht sicher waren. Die erste Nachricht kam von Gabriele; sie schilderte, welche Mühe sie gehabt hätte, durch das wogende Truppengedränge hindurchzukommen, welches das Land bis zur Oder und Elbe erfüllte, hier abziehende Franzosen, dort schwärmende Kosaken- oder Baschkirenhaufen oder Scharen von Freiwilligen, die zu den Fahnen eilten; überall Aufregung und kleine Kämpfe, aber auch überall die Überzeugung, daß die Fremdherrschaft ein Ende haben, daß nun eine neue, bessere Zeit anbrechen müsse. Am vierten März hätte sie endlich, zugleich mit den russischen Truppen, die Hauptstadt erreicht und wäre Zeuge des Jubels gewesen, mit welchem die Bevölkerung die Befreier begrüßte. »O, meine Mutter,« schrieb Gabriele, »wie soll ich Ihnen die Gefühle schildern, mit denen ich endlich, nach so viel Not und Fährlichkeiten, das Schloß betrat, in dem Sie einst in Ihrer Jugend eine vorübergehende Heimat fanden und von der edlen Prinzessin mit so warmer Herzlichkeit empfangen wurden! Mir war zumute, als kehrte ich in die Heimat zurück, denn auf jedem Schritt grüßten mich die Erinnerungen an meine Königin! Herrlich und erhebend war es, die russischen Regimenter an uns vorüberziehen zu sehen; Oberst v. Tettenborn hielt plötzlich sein Pferd an, nahm die Mütze ab und rief: »Vivat dem Könige!« Alles Volk stimmte in rauschendem Jubel ein, wir wehten mit den Tüchern und fühlten uns, zum erstenmal seit den langen, trauervollen Jahren, wieder hoffnungsvoll und siegesfroh! Abends war die ganze Stadt erleuchtet, aber in der Ferne sah man dunkle Rauchwolken aufsteigen, aus denen mitunter die hellen Flammen aufloderten – dort brannte Spandau, das die Franzosen innehatten, und welches von den Russen berannt wurde. Eigentlich aber haben es die französischen Marschälle viel zu eilig, um sich mit einer ernstlichen Verteidigung der Festungen aufzuhalten. Jetzt nur Mut und Entschlossenheit! mit einem kühnen Schlage könnte der Rest der französischen Armee bis hinter die Elbe gedrängt und das ganze Land von Feinden gesäubert werden!
»Unbeschreiblich ist die Begeisterung, welche die ganze Stadt durchdringt; wieder scheint in jeder der vielen tausend Seelen nur ein einziges Gefühl zu leben: die Sehnsucht nach Freiheit und Rache! Die Studenten, die älteren Schüler, die Turner, alles steht unter den Waffen; aber nicht nur die lernende Jugend, auch ältere Männer, Lehrer und Beamte, folgen dem Rufe des Königs. Man erzählte uns, daß die berühmten Professoren Schleiermacher und Fichte sowie der große Kenner der griechischen Sprache, Buttmann, in einer Kompagnie exerzierten und selbst in den rein äußerlichen Übungen den größten patriotischen Eifer zeigten. Wo eine solche Stimmung jung und alt, hoch und niedrig beherrscht, da kann der Erfolg nicht ausbleiben, da muß sich der gerechte Gott zu solchem Werk bekennen! Aber immer wieder drängt sich mir die schmerzliche Frage auf: Warum durfte meine Königin den Anbruch des neuen Tages nicht erleben?
»Unser Frauenverein, dessen oberste Leiterin die Prinzessin Wilhelm ist, befindet sich bereits in voller Tätigkeit; mehrere Lazarette werden eingerichtet, Frauen und Kinder unterstützt. Von allen Seiten strömen die Gaben herzu, und man kann sich oft der Tränen nicht erwehren, wenn man sieht, wie freudig alle ihre Opfer darbringen. Die Reicheren geben Geld, die kleinen Leute was sie entbehren können: Wäsche und Kleider, silberne Löffel und kleine Schmuckgegenstände, und gerade diese Spenden haben etwas unendlich Rührendes; man fühlt es so deutlich, daß nur ein starkes Gefühl imstande war, sie vom Herzen ihrer Besitzer loszureißen. Gott segne diesen Opfermut und lasse ihn köstliche Frucht tragen!« –
Wochen waren vergangen, ohne den sehnsüchtig harrenden Frauen eine Nachricht aus Breslau zu bringen; endlich kam ein Bote, der ein dickes Paket Briefschaften in die Hände der Freifrau niederlegte. Das war ein Freudentag! Maltus schrieb ausführlich an seine Großmutter und gab ihr ein lebendiges Bild der großen, gewaltigen Bewegung, welche das gesamte Preußenland ergriffen hatte. »Könntest du nur sehen und erleben, Großmütterchen, was wir täglich erleben, du würdest keinen anderen Gedanken haben als den der Freude und Genugtuung, daß dein Enkel von dem heiligen Feuer, welches ein ganzes Volk durchglüht, nicht ausgeschlossen ist! Als wir die Tore dieser alten Stadt erreichten, war unser Häuflein freiwilliger Krieger zum riesigen Haufen angeschwollen; in jeder Ortschaft stießen neue Genossen zu uns und schlossen sich eng zusammen, alle von einem Sinnen und Trachten erfüllt, alle über die kleinen Sorgen des täglichen Lebens hoch hinausgehoben. Wer etwas besitzt, der teilt es gern mit dem ärmeren Kameraden, welcher die Gabe als selbstverständlich annimmt. Es war ein langer Zug von streitbaren Männern zu Fuß, zu Wagen und zu Pferde, der die Albrechtstraße erfüllte und mit begeistertem Zuruf zu den Fenstern des Regierungsgebäudes hinaufgrüßte. Da erschien oben der König mit General Scharnhorst an seiner Seite, der mit strahlendem Blick auf uns hinwies, und wir sahen Tränen über die Wangen des Königs rollen, als er den Eifer und den Opfermut seines Volkes gewahrte. Mit jedem Tage steigt der Andrang, Väter begleiten ihre ausgerüsteten Söhne, hohe und niedere Beamte treten selbst als Kämpfer in die Reihen, Landleute bringen ihre Pferde, Getreide und anderes Brauchbare; reiche Leute senden ihr Silbergeschirr, Kinder ihre Sparbüchsen, Handelsleute Waren aller Art, Frauen ihren Schmuck. Es ist ein erhabener Wetteifer, sein Bestes auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern!
»Nahe beieinander liegen auf der Schmiedebrücke die beiden Werbestellen für die freiwilligen Jäger und das Lützowsche Freikorps; in jenem ist der herrliche Professor Steffens tätig, der zuerst sich selbst dem Vaterlande weihte, und dem sich der größte Teil der Breslauer Studenten angeschlossen hat. Da hier viele meiner Berliner Freunde eingetreten sind, so habe ich mich auch hier gemeldet, aber fast wäre es mir wieder leid geworden, denn bei den Lützowern, für die der wohlbekannte Turnvater Jahn mit Feuereifer wirbt, hat sich gestern einer gestellt, an dessen Seite zu stehen und zu kämpfen mir als köstlichstes Los erschienen wäre, unser Dichter Theodor Körner! Aus Wien ist er auf die große Kunde von der preußischen Erhebung herbeigeeilt; eine glänzende Stellung, eine geliebte Braut, einen gleichgestimmten Freundeskreis – alles hat er hinter sich gelassen, um für die Freiheit wider den Tyrannen zu streiten. Gestern lernte ich den herrlichen Jüngling persönlich kennen, und mein Herz flog dem seinigen entgegen! Seine feurigen Worte drangen tief in meine Seele: ›Der preußische Adler‹, sagte er, ›erweckt durch seine kühnen Flügelschläge in allen treuen Herzen die große Hoffnung einer deutschen Freiheit. Meine Kunst seufzt nach einem Vaterlande – ich will ihr würdiger Jünger sein. Soll ich in feiger Begeisterung meinen siegenden Brüdern meinen Jubel nachleiern? Hat mir Gott wirklich einen mehr als gewöhnlichen Geist eingehaucht, wo ist der Augenblick, um ihn mehr geltend zu machen als jetzt? Zum Opfertode für die Freiheit und Ehre seiner Nation ist keiner zu gut!‹ Aus Körners Briefen.
»So sprach der Dichter, den man als den geistigen Erben unseres unvergeßlichen Schiller ansieht, und wenn ich noch einer Bestätigung bedurft hätte, daß ich das Richtige erwählte, als ich dem Rufe des Königs folgte, so hätte ich sie durch diese großen Worte selbstloser Hingabe erhalten.
»Den Aufruf des Königs an sein Volk lege ich euch ein – wer könnte ihm widerstehen? Ich fühle die alte Liebe meines Großvaters zu seinem Heldenkönige neu in meiner Brust aufflammen; mir ist, als wäre ich als ein Preuße geboren! Aber es wird nicht lange dauern, bis auch das übrige Deutschland unserem Beispiele folgt, und ich hoffe, unser Herzog Karl August, der, trotz der Ungunst der Zeiten, immer ein ganzer, deutscher Mann war, wird unter den ersten sein, die das schmachvolle Joch des Tyrannen abwerfen und sich dem deutschen Heere anschließen. Soll es doch alle ohne Unterschied umfassen! Die Freikorps sind für die feurige Jugend bestimmt, die Landwehr für die ernsten Männer, der Landsturm für die Greise, welche zwar nicht mehr mit hinausziehen, aber doch die Heimat, Haus und Herd noch verteidigen können. Selbst die Knaben wollen nicht zurückbleiben, sie treten zu Kompagnien zusammen, bewaffnen sich mit Piken, Knütteln und Steinen und üben sich im schrillen Pfeifen, das als Signal dienen soll. Auf allen Straßen hört man sie singen:
Mein Arm wird stark und groß mein Mut,
Gib, Vater, mir ein Schwert!
Verachte nicht mein junges Blut,
Ich bin der Väter wert.
Ich finde fürder keine Ruh'
Im weichen Knabenstand,
Ich stürb', o Vater, stolz wie du,
Den Tod fürs Vaterland!
(Stolberg.)
»Nun kann der Kampf beginnen, wir sind gerüstet und schauen ihm mit heldenmütiger Ungeduld entgegen. Und doch liegt über all den kriegsmutigen Scharen eine andächtige, feierliche Stimmung! Das Kreuz am Helm ist das Zeichen, unter dem wir fechten, ein eisernes Kreuz auf der Brust das höchste Ehrenzeichen, das der König uns in Aussicht stellt! Betet unablässig für uns, ihr Lieben, daß Gott unsere Waffen segne! Hans Ebner ist unser Feldprediger, und es ist, als hätte Gott seine Zunge mit Feuer getauft. Lebt alle wohl! Vorwärts mit Gott für König und Vaterland!
Auf Wiedersehen!
Euer Maltus.«
Wie viele Male ward der Brief gelesen und mit Tränen der Rührung und Erhebung benetzt! Wie verlangte jeder im Hause, im Dorfe, ihn zu hören, um sich an ihm zu stärken! Auch Lotte hatte einen langen Brief von Hartenstein erhalten, den sie mit Entzücken immer wieder las, aus dem sie einzelne Stellen zum besten gab. Nur Thea war leer ausgegangen, nicht einmal ein direkter Gruß war an sie ausgesprochen. Sie preßte die Hände auf das zuckende Herz und sagte sich immer wieder die Worte vor: »Mut und Ausdauer, Gehorsam und Treue«, bis sie alle Auflehnung, alle Furcht und Ungeduld beschwichtigt hatte und mit stiller, sanfter Freudigkeit ihren Pflichten nachgehen konnte. Nie hatte sie ihrer Großmutter eine innigere Liebe, eine zärtlichere Fürsorge gewidmet als in dieser Zeit der Anfechtung, in der ihre Seele erstarkte und aus dem schüchternen Kinde eine hochgesinnte Jungfrau wurde.