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Fünfzehntes Kapitel.
An der Grenze des Königreichs

(Blätter aus Gabrielens Tagebuch.)

Es flieht das trauernde Königspaar
Bis zu des Landes Marken,
Wund sinkt herab der Preußenaar –
Wann wird er wieder erstarken?

 

Königsberg, Dezember 1806.

Viele Monate habe ich nichts in mein Tagebuch geschrieben; seit dem letzten Sommer scheinen mir Jahre vergangen, Jahre voll Jammer und Herzeleid, die mich in stillen Stunden nichts tun ließen als weinen und die Hände ringen. Die Dornenkrone, die unsere blinde Maria meiner Luise einst prophezeite, ist zur furchtbaren Wahrheit geworden! O mein Gott, wie hast du uns zerschmettert! Wie hast du uns alle Stützen zerbrochen, auf die wir hofften, und uns in den Staub gelegt! Was hat meine Engelskönigin getan, daß du ihr so namenlos Schweres auferlegt hast? Ach, ich weiß, es ist unrecht, so zu fragen und wider Gott zu murren; ich weiß, daß ein Herrscherpaar oft für die Sünden seines Volkes und seiner Vorfahren büßen muß, daß solche Zeiten tiefsten Elendes dem Schmelzofen gleichen, in welchem böse Gewohnheiten, alte Mißbräuche wie Schlacken durch das Feuer der Trübsal verzehrt und die verborgenen Goldkörner des Guten geläutert werden! Aber es ist schwer, mitten im tiefsten Leid solchen Glauben festzuhalten und auf einen guten Ausgang zu vertrauen. Bis jetzt scheinen die Schalen des Zorns noch immer nicht erschöpft zu sein, fast jede Woche bringt eine neue Trauerkunde, und immer wieder fallen die Hammerschläge eines unerbittlichen Geschicks auf das zuckende Herz meiner Königin!

Werde ich je die Reise vergessen, die wir im Herbst von Thüringen nach Berlin und von dort nach Graudenz machten? – Die letzte freundliche Erinnerung, die ich bewahre, war das Wiedersehen mit meiner teuern Mutter; gleich nachdem sie abgereist war, trat auch an die Königin die Notwendigkeit heran, das Hauptquartier zu verlassen. Wir brachen noch ziemlich ahnungslos von Weimar auf, aber plötzlich ließ uns der Herzog von Braunschweig sagen, wir müßten umkehren, da man in dieser Richtung jede Stunde die Schlacht erwarten könnte! Das war ein furchtbarer Augenblick! Überall schienen wir von Franzosen umgeben zu sein, und in tödlicher Angst und Unruhe um das Geschick der Unsrigen fuhren wir durch den dichten Nebel des trüben Herbstmorgens dahin. Wem sollte die Sonne dieses Tages, die sich mühsam ihre Bahn durch das wogende Wolkenmeer brach, zum Siege leuchten?

An jedem Haltepunkt rief man uns eine andere Nachricht zu, und schwankend zwischen den Bergen der Hoffnung und den Abgründen des Zweifels litt die weiche Seele meiner hohen Freundin Unsägliches. Erst am vierten Tage ereilte uns in der Nähe von Brandenburg ein Feldjäger mit einem offiziellen Schreiben, daß die Schlacht verloren sei – da war es, als wäre die Lawine, die drohend über unserem Wege hing, plötzlich herabgestürzt, um uns zu erdrücken. Welch eine Ankunft daheim! Die königlichen Kinder waren schon fortgeschafft, man erwartete die Franzosen täglich vor den Toren von Berlin; Angst, Entsetzen, Verzweiflung überall! Am nächsten Morgen ging es weiter, ich durfte die Königin begleiten. In Schwedt trafen wir die Kinder, ein verängstetes Häuflein, das unter dem Schutze der Gräfin Voß unverzüglich nach Danzig gehen sollte; in Küstrin fanden wir den König. O mein Gott, welch ein Wiedersehn! Es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke!

Ich begleitete das hohe Paar nach Graudenz, einer starken Festung an der Weichsel, wo wir eine Zeitlang blieben. Wie wir diese Wochen überstehen konnten, in denen jeder Tag eine Schreckensbotschaft brachte, weiß ich selbst nicht. Es war, als hätte die eine verlorne Schlacht das starke Preußen Friedrichs des Großen gelähmt und völlig wehrlos gemacht. Fast alle Festungen haben sich ergeben, der Fürst von Hohenlohe hat mit dem ganzen Überrest seiner Armee bei Prenzlau kapituliert, die Franzosen dringen im Sturmschritt vor und besetzen das Land. Dazu der höhnische Übermut, die ungroßmütige Schadenfreude des Siegers, die Angriffe gegen die reine, erhabene Person der Königin, welche dieser Schändliche mit ruchlosen Schmähungen überhäufen läßt – o mein Gott, wie sollen wir das alles tragen? Herr, vertilge diesen furchtbaren Mann, der sicher der Hölle entstammt ist, gib nicht zu, daß er seinen unheilvollen Siegeslauf fortsetze! Laß, o Gott, nicht das Böse triumphieren und das Gute zugrunde gehen.

Zu dem Jammer um den sinkenden Staat litt meine arme Königin noch unter persönlichen Sorgen; eine Zeitlang schien es, als sollten der zärtlichen Mutter auch ihre Kinder entrissen werden. Fast hoffnungslos klangen die Berichte der Oberhofmeisterin über Prinzessin Alexandrine und den kleinen Prinzen Karl, mit denen sie Danzig verlassen mußte, um nach Königsberg zu flüchten, wo wir endlich am 9. Dezember auch eingetroffen sind. Die Kinder sind, Gott sei Dank, in der Besserung, aber mir ist unsäglich bang um meine Luise; sie hat zu Schweres erduldet, zu viel geweint, ihre körperliche Kraft scheint manchmal erschöpft. Und doch ist sie immer diejenige, welche ihre Umgebung aufrecht hält; oft ruft sie mit dem Heldenmute, welcher aus tiefer Ergebung und wahrer Frömmigkeit fließt, den Zagenden zu: »Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?« Sie hält selbst in diesen dunkeln Tagen den Glauben an eine spätere Erhebung, eine unzerstörbare Zukunft ihres Vaterlandes aufrecht.

 

Königsberg, 1. Januar 1807.

Welch ein Jahr liegt hinter uns! – Und was wird uns das neue bringen?! Wir können nur weinen und flehen: Herr, erbarme dich unser! – Unsere Königin ist sehr krank, Dr. Hufeland kann uns nicht verhehlen, daß sie ein heftiges Nervenfieber hat, daß ihr teures Leben in Gefahr schwebt. O Gott, nur dies nicht! Nimm uns alles, aber verschone sie! Sie ist der gute Engel ihres unglücklichen Gemahls, unser aller – was sollten wir anfangen ohne sie?

Seit mehr als zwei Monaten bin ich ohne jede Nachricht von meiner Mutter, auch weiß ich nicht, ob meine Briefe in ihre Hände gelangt sind. Man erzählte mir, mein Bruder sei in dem unglücklichen Gefecht bei Saalfeld verwundet worden – ist er genesen? ist er noch krank? ist er wenigstens nach Hause gebracht? – Diese furchtbare Ungewißheit zermalmt mein Herz. Der Herzog von Weimar ist trotz seiner Parteinahme für Preußen dem Strafgericht Napoleons entgangen; man sagt, die hochherzige Haltung seiner Gemahlin habe den Sieger zur Milde gestimmt. Der Herzog hat sich dem Rheinbunde anschließen müssen – welch ein Gefühl für meine Mutter, daß sie nun unter der Oberhoheit dieses Napoleon steht!

Der kleine Prinz Wilhelm hat heute die Uniform und den Schwarzen Adlerorden erhalten – es war eine ergreifende Stunde. Er vollendet im nächsten März sein zehntes Jahr – was für Umwandlungen wird er in seinem Leben noch erfahren? Gott schütze ihn und lasse ihn, nach der Trübsal seiner Kindheit, um so mehr Glück und Ruhm in späteren Jahren erleben!

 

Memel, 17. Januar 1807.

Wieder haben wir schwere Tage voll bitterer Angst und Not verlebt! Unsere geliebte Königin fing eben an, sich ein wenig zu erholen, als uns die Nachricht erschreckte, daß die Franzosen heranrückten und die königliche Familie in Königsberg nicht mehr sicher sei. Alles brach auf, um sich nach Memel, der äußersten Nordspitze der Monarchie, zu retten. Luise erklärte bestimmt, sie wolle lieber in die Hände Gottes als dieser Menschen fallen; so trug man die Kranke bei fürchterlichem Sturm, bei eisiger Kälte und Schneegestöber in den Wagen und brachte sie zwanzig Meilen weit über die Kurische Nehrung hierher. Drei Tage und drei Nächte dauerte die entsetzliche Reise; der Weg führt zum Teil dicht am Meere hin, dessen stürmische Wellen ihn fortwährend überspülten. In der ersten Nacht lag die Königin in einer Stube, deren Fenster zerbrochen waren, und wo der Schnee bis in ihr Bett geweht wurde. Hat je eine Königin solche Not empfunden? Dennoch hielt ihr frommer Mut, ihr unzerstörbares Gottvertrauen sie aufrecht und belebte und erhob uns alle. Auch erbarmte sich Gott ihrer Pein, und statt sich zu verschlimmern, besserte ihr Zustand sich in der freien Luft. Endlich erblickten wir Memel jenseits des Haffes vor uns, zum erstenmal seit mehreren Tagen brach die Sonne durch und beleuchtete die Stadt. Wir nahmen den milden Strahl unwillkürlich für eine gute Vorbedeutung und fühlten uns etwas getröstet. All unsere Hoffnungen stehen jetzt auf den Russen, die sich um Königsberg zusammenziehen.

 

Memel, 16. Februar 1807.

Vor acht Tagen ist bei Eylau eine blutige Schlacht zwischen Russen und Franzosen geschlagen worden, die unseren Mut neu belebt. Auch ein preußisches Korps war dabei beteiligt, und es hieß zuerst, der Sieg wäre ganz auf Seite der Unsrigen, doch lauten die näheren Nachrichten weniger günstig, denn die verbündete Armee hat sich, trotz vieler eroberter Trophäen, doch zurückziehen müssen. Aber Napoleon hat furchtbare Verluste erlitten und scheint sehr geneigt, Frieden zu schließen.

Man zeigte uns kürzlich sein neuestes Bildnis, das mit allen Abzeichen des Siegers geschmückt war; der Anblick dieses Schrecklichen war uns allen widerwärtig, und die Gräfin M. war so überwältigt davon, daß sie ausspie. »Nicht doch, meine Liebe,« sagte die Königin mit sanftem Vorwurf, »so werden wir nicht fertig mit unserem Schmerz. Heftigkeit drückt den Stachel tiefer, nur Ergebung kann ihn mildern. Wir wollen auf den Heiligen hinblicken, der für seine Peiniger gebeten hat.«

 

Königsberg, 1. Mai 1807.

Ich habe meine geliebte Königin hierher begleitet, während die Oberhofmeisterin mit den Kindern in Memel zurückgeblieben ist. Anfang April kam Kaiser Alexander dorthin, um die königliche Familie zu besuchen; welch ein anderes Zusammentreffen als das vor fünf Jahren an demselben Ort! So blendend schön wie damals habe ich meine Königin kaum jemals gesehen, das vollste Glück umstrahlte sie, und die Anmut und Holdseligkeit ihres Wesens bezauberte den Kaiser und sein ganzes Gefolge. Diesmal trat sie ihm tiefgebeugt entgegen, aus ihren tränenschweren Augen sprach der ganze Gram ihrer Seele. Der Kaiser war voll Wärme und Herzlichkeit, er umarmte den König und rief mit feuchtem Blick: »Nicht wahr? keiner von uns beiden fällt allein? entweder beide zusammen oder keiner von beiden?« Das klang unbeschreiblich tröstlich und erhebend, und meine teure Herrin fühlte sich wie neubelebt.

Hier führen wir das eingezogenste Privatleben, die Königin wohnt nicht einmal im Schlosse, sondern bei ihrer Schwester Friederike, der jetzigen Prinzessin von Solms; sie besucht kein Schauspiel und gibt keine Gesellschaft; ihr ganzes Denken und Sorgen ist nur darauf gerichtet, das Elend dieses furchtbaren Krieges zu lindern und Unglücklichen wohlzutun. Jeder, der ihr naht, empfindet den wunderbaren Zauber, der sie umfängt; die Ergebung, mit der sie das Unglück trägt, dringt an jedes Herz, und jeder muß es bekennen, daß keine zweite Frau auf Erden dem höchsten Ideal edler Weiblichkeit so nahe kommt wie sie!

Ein sehr anziehendes Glied unseres Kreises ist die Frau Prinzessin Wilhelm, die Gemahlin des jüngeren Bruders des Königs. Trotz ihrer Jugend – denn sie zählt wenig mehr als zwanzig Jahre – hat sie schon viel bitteres Leid erfahren. Auf ihrer Flucht im Herbste wurde ihr in Danzig ein Töchterchen geboren, das bald darauf starb; als sie dann, kaum von schwerer Krankheit genesen, vor den nachrückenden Franzosen fliehend, Pillau erreichte, fand sie ihr älteres Kind als Leiche vor! Solche bittere Erfahrungen vertiefen noch den wehmutsvollen Schatten, der in dieser Trauerzeit ohnehin auf jedem Gliede des königlichen Hauses liegt. Sie ist sehr gütig gegen mich, und wir sprechen zuweilen von ihrer geliebten Heimat, Homburg vor der Höhe, an der ihr ganzes Herz hängt, während sie sich in dem glänzenden Berlin nie heimisch fühlen konnte. Sie ist eine edle Natur und in ihrem innersten Denken und Fühlen unserer Königin verwandt, doch fehlt ihr deren holdselige Liebenswürdigkeit, die jeden zu gewinnen weiß.

 

Memel, 18. Juni 1807.

Wir glaubten, das Maß unserer Leiden müsse endlich erschöpft sein, aber Gott hat eine neue, furchtbare Heimsuchung über uns verhängt: Napoleon hat vor wenigen Tagen die Russen bei Friedland völlig geschlagen! Die Franzosen sind bereits in Königsberg eingerückt, das wir erst kürzlich verlassen haben. Meine Königin ist in Verzweiflung, der König völlig gebrochen. Wie lange werden wir noch hier bleiben können? Der furchtbare Mann, dessen Waffen mit Unbesiegbarkeit gefeit zu sein scheinen, rückt uns immer näher, er hat sein Hauptquartier nach Tilsit verlegt, und nur die Memel trennt uns noch von ihm! Man spricht von Waffenstillstand und Frieden – aber was könnte in diesem Augenblick tiefster Niederlage ein Friede uns bringen? O mein Gott, warum hast du uns so verlassen? Wann wirst du dem Siegeslauf dieses Schrecklichen ein Ziel setzen?

Ich hatte heute eine stille Aussprache mit der Königin, weinend lag ich zu ihren Füßen und sagte ihr, daß ich es nicht ertragen könne, sie so zerschmettert zu sehen. Da legte sie ihre milde Hand auf meine Stirn und sprach tiefbewegt, aber ohne jede Bitterkeit: »Tröste dich, Gabriele, und glaube nicht, daß Kleinmut mein Haupt beugt. Wie schwer mich diese Schläge auch treffen, so habe ich doch im tiefsten Innern zwei Gedanken, die mich über alles erheben; der erste ist der: wir sind kein Spiel des blinden Zufalls, sondern stehen in Gottes Hand und werden durch seine Vorsehung geleitet; der zweite: wir gehen mit Ehren unter. Es wird Kraft erfordern, wenn der Augenblick kommen sollte, wo ich über die Grenzen des Reiches muß, aber Gott wird mir helfen; ich richte meinen Blick gen Himmel, von woher uns alles Gute und Böse kommt, und mein fester Glaube ist: Er schickt uns nicht mehr, als wir tragen können!«

Ist es nicht, als wäre meine Luise schon verklärt, als hätte sie diese Welt mit all ihrem Jammer schon überwunden? Ach, und doch fühlt sie das Unglück ihres Gemahls, ihres Volkes so tief, und oft zittere ich davor, daß ihr der Kummer das Herz brechen könnte!

 

Den 3. Juli.

Der König ist seit acht Tagen in Tilsit, wo er und Kaiser Alexander mit Napoleon zusammentreffen. Das Herz schnürt sich mir zusammen, wenn ich an den Ausgang dieser Verhandlungen denke! Heute schrieb der König, er wünsche seine Gemahlin dort zu haben, um durch sie auf den Sieger zu wirken; die Oberhofmeisterin, Kammerherr v. Buch und ich sollen sie begleiten. Wir sind alle in Verzweiflung – großer Gott, wie soll das enden? Soll diese erhabene Frau, welche der elende Korse mit Schmähungen und Verleumdungen überschüttet hat, als Bittende vor dem erscheinen, den ihre reine Seele verabscheuen muß? Sie selbst sagte unter heißen Tränen: »Dies ist das schmerzhafteste Opfer, das ich meinem Volke bringe, und nur die Hoffnung, diesem dadurch nützlich zu sein, kann mich dazu veranlassen. Wenn ich gleich diesen Mann nicht hasse, so sehe ich ihn doch als den an, der den König und sein Land unglücklich gemacht hat. Höflich und artig gegen ihn zu sein, wird mir schwer werden, doch das Schwere wird einmal von mir gefordert, und Opfer zu bringen, bin ich gewohnt.« In dieser Stimmung folgte sie den Wünschen des Königs; möchte Gott ihre Worte segnen, damit sie dem Ungeheuer Napoleon das Herz rühren! –


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