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Geschichten von Krieg


Bruder Lustig

Der Martin machte immer solch drollige Späße, die alle Welt zum Lachen reizten. Aus einem kleinen vergitterten Käfig heraus verkaufte er dem Publikum Briefmarken und verbrachte die beste Zeit vor den horizontal und vertikal geteilten Fächern; stets übte er seinen Beruf in guter Laune aus. Der junge Mann richtete sein Augenmerk auf das Komische an den Dingen und verstand es, kleine Besonderheiten an Menschen und Ereignissen geschickt darzustellen. Er brachte es zuwege, daß von dem kleinen Verwaltungsposten ein fröhliches Lachen in die Stadt hinausging. Und jedermann war froh darüber: die alten Leute, die jungen Mädchen und die verheirateten Frauen. Er genoß großes Ansehen. Selbst die seriösen Herren, die Beamten und Kaufleute nahmen seine Eigenart nicht übel und sagten manchmal: »Ein lustiger Kerl!« Der Prokurator versetzte ihn zum inneren Dienst, denn er erkannte die Klugheit Martins.

Im Gegensatz zu vielen schlechten Elementen und Nörglern, deren übelsten Typ der Lampenhändler Joël darstellte, erfreute sich Martin allgemeiner Achtung. Ich sagte schon, daß die Frauen für seine Art sehr empfänglich waren; und da er sie mit seinen Späßen zum Lachen brachte, kamen sie ihm oft sehr willig entgegen.

Joël war ein Schwarzseher, Martin ein Optimist. Joël suchte nach den Verdrießlichkeiten und den schlechten Seiten des Lebens, ohne zu bedenken, daß ihn diese Verbitterung in die Arme des Anarchismus und der roten Krankheit werfe.

So lagen die Verhältnisse in der kleinen Stadt – Prototyp für alle Städte der Welt –, als die Kriegserklärung die Menschen aufschreckte. Das geschah im August 1914, wie mancher sich vielleicht erinnern wird.

Joël und Martin wurden zusammen eingezogen. Sie gehörten derselben Altersklasse an und dienten bei der gleichen Waffe. Natürlich tobte Joël gegen das Schicksal und bezeichnete den Krieg als eine Metzelei. Martin war froh, seinem engen Bureau entronnen zu sein; die Leute sagten: »Der sieht aus, als ob er auf Urlaub ginge.«

An der Front blieb das genau so. Inmitten von Gefahr und Schmutz, während Granaten, Patronen und spitze Waffen heimtückisch auf Menschenleiber gerichtet waren, blieb Joël dabei, den Massenmord zu verfluchen, der als Patriotismus angesehen wird. Er ging sogar so weit, zu erklären, die Großen und die Minister seien auch nichts Besseres als andere Menschen.

Martin blieb unentwegt der Bruder Lustig. Joël galt bald als schlechtes Subjekt, auf das die Offiziere scharf aufpaßten: denn das war ein Mensch, der die Ereignisse ernst nahm, dem die Soldaten leid taten und der sie auf Dinge stieß, an die sie sonst nie gedacht hätten. Aber wenn er gesprochen hatte, machte Martin Joëls Jeremiaden mit ein paar guten treffenden Witzen zunichte und verhinderte damit, daß die Soldaten an ihre Haut dachten. Man verglich die beiden miteinander: der eine war stets verdrießlich und verbissen, während der andere zur Erheiterung der armen Soldaten beitrug.

Ein Soldat wie Martin, der viel Lachen um sich verbreitete, war sehr wertvoll für die Haltung der Truppe. »Der ist Gold wert!« sagte der Kapitän Maqueron. »Er könnte das Vieh noch auf der Schlachtbank zum Lachen bringen,« meinte der Lieutenant Eckenfelder, der in seinem Zivilberuf Fleischer und Viehhändler war.

Eines Tages erhielt Martin einen Kopfschuß. Der erstickte die Hälfte eines Witzes in der Kehle. Aber wenn er auch nach dem Schuß eine Weile still blieb, so doch nicht für immer. Er überstand die Verwundung. Und sogar sein lauter Frohsinn blieb erhalten.

Doch hatte er sich ein wenig verändert. Der Schuß hinterließ in seinem Denkvermögen Löcher, Lücken und eine gewisse Unregelmäßigkeit. Zuweilen erzählte er mitten in einem Witz große Katechismusstellen oder Stücke aus der französischen Geschichte, die ihm gerade aus dem Unterbewußtsein auftauchten. Im Lazarett sprach er mit sehr viel Gesten, machte Luftsprünge, schnitt Grimassen und vollführte affenartige Bewegungen, die die anderen, ans Bett gefesselten Kranken, sehr belustigten. Und manchmal wurde der Chefarzt gerufen, der sich das auch ansehen und sich darüber freuen sollte. »Er ist meschugge!« erklärte der Arzt und setzte auseinander, wie in diesem Hirn allein die Lust zum Scherzen und zur Komik übriggeblieben sei und den Körper für kurze Zeit zu seinen tollen Bewegungen antreibe. Wahrscheinlich brauchte man um diese Zeit gerade höllisch viel Kanonenfutter, denn er wurde wieder an die Front geschickt.

Als er mit seinem kleinen runden Deckel auf dem Kopf ankam (unterwegs hatte er große Aufregung hervorgerufen, als er auf einem Bahnhof plötzlich Akrobatenkunststücke vollführte), stellten die Kameraden fest: »Bei dem ist eine Schraube locker!« und meinten, es wäre besser gewesen, ihn nach Bicêtre in die Irrenanstalt zu schicken.

Aber bald bedauerten sie nicht mehr, daß es nicht geschehen war, denn Martin unterhielt sie im Lager und in den Schützengräben mit seinen tollen Einfällen. Er lachte und brachte die andern zum Lachen. Trotz seiner schweren Verwundung – oder eigentlich ihretwegen – sprudelte er über von guter Laune und lustigen Possen. Mehr als einmal erwies er sich als ein ausgezeichnetes Mittel gegen die flaue Stimmung der Truppen. Er wurde deshalb von den Offizieren sehr geschätzt, im Gegensatz zu Joël, der immer mehr auf den Krieg schimpfte und deswegen als übler Bursche galt. Auch sonst war Martin mit seiner wiedergewonnenen Kraft ein sehr brauchbarer Soldat.

Eines Tages erfolgte ein Angriff. Martin stürmte befehlsgemäß vor, an seiner Seite Joël, der unter Fluchen und Schimpfen sein Gewehr schleppte.

Als der Mann mit dem zerschossenen Hirn sah, wie sein Bataillon im starken feindlichen Feuer lag, Mauern von Granateinschlägen rings um ihn entstanden und er ein furchtbares Fauchen hörte, das immer näher kam, da versagte der armselige Rest seines Hirns. Er bekam Angst und verkroch sich in ein Granatloch, wo man nichts von dem grauenvollen Schauspiel sah und auch weniger hörte. Der Angriff scheiterte vollständig. Er war unüberlegt, ohne alle Vorbereitungen und genaue Erkundungen über die Stärke des Feindes unternommen worden, als ein Ausfluß schlechter Laune des Brigadekommandeurs. Schließlich flutete das übriggebliebene Drittel des Bataillons in voller Auflösung in die eigenen Gräben zurück.

Bei dem Appell war Martin nicht da und wurde als »vermißt« eingetragen. Aber in der nächsten Nacht fand ihn eine Patrouille in seinem Granattrichter. Er schnitt fortgesetzt Grimassen. Der Patrouillenführer ließ ihn mitnehmen. Bei der Rückkehr hopste Martin wild herum und spielte den dummen August.

Der Angriff hatte üble Folgen: die höheren Stäbe hatten von der Sache Wind bekommen. Der Korpskommandant erteilte dem Brigadekommandanten einen Verweis. Und der schob natürlich die Schuld auf den schlechten Geist der Truppe. Die beiden Generäle waren in Meinungsverschiedenheiten geraten und sie beschlossen, Strafen zu verhängen.

Martin wurde wegen Verletzung seiner Bürgerpflicht eingesperrt; denn er hatte sich feige, drei Schritte vor der Grabenlinie, verkrochen. Ebenso erging es Joël; der war zusammen mit den anderen vorgegangen und zurückgekehrt, aber er wurde für den schlechten Geist der Truppen in diesem Frontabschnitt verantwortlich gemacht.

Beide mußten sich vor einem Kriegsgericht verantworten. Joël war verbittert, wütend und eigensinnig, und er wagte, von den »Verantwortlichen« zu reden. Martin machte nur zusammenhanglose Bemerkungen und lachte frech vor sich hin, worüber die Offiziersrichter sehr böse wurden. Der Jüngste von ihnen stellte die Frage: »Ist denn Martin zurechnungsfähig?« Wie ein Mann bejahten das alle übrigen. Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, wurde ein Generalarzt als Sachverständiger gehört. Dieser Arzt, der alle Tage mit dem Brigadekommandeur frühstückte, gab die Erklärung ab, daß es sich in diesem Falle zweifellos um einen Simulanten handle. Das Kriegsgericht verurteilte die beiden zum Tode. Übrigens fällte das Gericht dieses Urteil auf Befehl des Generalstabes, der es für unbedingt notwendig erachtete, den Brigadekommandeur vor jeder Kritik wegen des unglücklichen, schlecht vorbereiteten Angriffs zu schützen. Außerdem tut es immer seine Wirkung, ein Exempel zu statuieren. Im übrigen ist ja bekannt, daß während der vier Kriegsjahre die Sitzungen der Kriegsgerichte immer so verliefen. Stets stand der Befehl vor den Tatsachen und taktische Fragen vor der armseligen Wirklichkeit.

Martin begriff den Fall nicht. Soweit er nicht daran gehindert wurde, spielte Martin in dem früheren Tanzsaal, wo jetzt das Kriegsgericht tagte, weiter den Hanswurst und ließ davon auch nicht ab, als er und Joël nach der Urteilsverkündigung ins Gefängnis zurückgeführt wurden.

Und doch verwandelte sich in diesem Augenblick zum erstenmal der Gesichtsausdruck Martins. Zum erstenmal in seinem Leben schien er über das Nächstliegende hinaus etwas zu verstehen und nach der Ursache zu forschen. Ein seltsamer Schimmer huschte über seine Augen, die stets nur von allzu vielem Lachen geweint hatten; zum ersten Male prägte sich Angst und Niedergeschlagenheit darin aus.

Nur ein Zeuge bemerkte das: denn man hatte die beiden Gefangenen in einer Zelle gelassen.

Ich habe schon erzählt, daß sie sich gegenseitig früher nie leiden mochten. Joël hob sein Rebellengesicht und sah, wie das verstörte Lächeln seines Leidensgefährten einem Ausdruck vollständiger Ratlosigkeit wich.

Martin stammelte halb lachend, halb weinend:

»Was ist denn eigentlich? Ich verstehe gar nichts.«

Da kam dem Anarchisten Joël ein guter Gedanke, und er antwortete:

»Siehst du denn nicht, daß alles nur Spaß ist?«

Martin glaubte es, und sein Mund suchte ein Scherzwort zu formen. So blieb ihm die traurige Wahrheit zunächst verborgen.

Aber bald fragte er wieder mit dem Eigensinn eines Irren:

»Warum werden wir aber eingesperrt?«

»Ja, hier sieht es fast wie in einem Gefängnis aus,« erwiderte Joël leichthin und brachte es fertig, seine Worte mit einem schwachen Lächeln zu bekräftigen. »Aber du mußt wissen, daß alles nur zu unserem Schutz geschieht.«

Das genügte, um das kleine Kind, zu dem der König der Possenreißer geworden war, für den Augenblick völlig zu beruhigen.

Wie eine Mutter widmete Joël die letzten Stunden seines Lebens dem armen Geschöpf, das die menschliche Gerechtigkeit mit ihm zusammen vernichtete.

Unablässig gab er auf ihn acht und war mit allen Fasern seines Herzens bei dieser freiwilligen Aufgabe: so wurde er, der klar die Verhältnisse übersah und unschuldig war, zum Retter dessen, der blind ins Verderben ging und auch unschuldig war.

So wenig auch Martin seine Lage übersehen konnte, war er sich doch dessen bewußt, nichts Schlimmes getan zu haben. Das erleichterte die kleine und doch großartige Komödie sehr, die sich in diesem Winkel des verruchten Krieges abspielte.

Am nächsten Morgen wurden die beiden mit großer Feierlichkeit abgeholt. Sie marschierten in der Mitte der Kolonne.

»Warum tragen alle Kameraden ihre erste Garnitur?« fragte Martin mißtrauisch und verfiel wieder in traurige Gedanken.

»Es soll ein Fest gefeiert werden. Siehst du's nicht? Bist du blind?«

Martin sah groß um sich.

»Es wird ein großes Fest, Freundchen,« wiederholte Joël, um ihn zu überzeugen, und seine Stimme klang ganz natürlich. Er mußte sich sehr dazu zwingen.

Auf einem Feld stand das ganze Regiment, davor zwei Offiziere: der Oberst und Eckenfelder, der Fleischerlieutenant. Beide waren besonders sorgfältig angezogen und schienen sehr stolz auf ihren schönen Beruf zu sein.

»Was wird da vorgelesen?«

»Eine Rede, du Ochse!«

»Sie sprechen von uns. Hörst du nicht?«

»Weil wir tapfer die Gefahren bestanden haben.«

Der Geistliche war an die beiden herangetreten. Er hörte die Unterhaltung und verstand ihren Sinn. Da blieb er beiseite stehen und sagte gar nichts. Heilfroh, seine Mitwirkung abkürzen zu können, begnügte er sich mit einem leisen »Amen« und blickte weg.

Als man ihnen einige Uniformknöpfe und die Achselklappen abgerissen hatte, bemerkte Joël:

»Sie schicken uns nach Haus. Für uns ist der Krieg zu Ende.« Das war keine Lüge.

Nun interessierte sich Martin für die Aufstellung und den Aufmarsch der Truppen.

Schließlich trennte man sie. Joël hatte gerade noch Zeit, seinem Kameraden zuzurufen:

»Sie wollen dir bloß danke schön sagen, weil du ihnen soviel Spaß bereitet hast.

Martin glaubte das gern.

Joël rief noch einmal mit lustigem Augenzwinkern hinüber:

»Na, pass' nur auf, gleich wird's losgehen!«

Und tatsächlich spielte sich eine furchtbare Posse ab, so, wie er es gesagt hatte.

Joël kam zuerst an die Reihe.

Eine Feuerlinie blitzte auf und wehte ihn um wie ein Stück Papier.

In dem Augenblick vielleicht ahnte Martin etwas von dem wahren Gesicht des Krieges und der Welt überhaupt. Aber sicher ist das nicht, und es währte bestimmt nicht lange.

Denn wie ein Stein fiel er nieder, als ob er sich in die Erde einbohren wollte.

Als wir nachher vorbeimarschierten, habe ich seinen verkrampften Körper liegen sehen. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Und dennoch lachte es. Ja, man sah deutlich die Fetzen eines Lachens. Und dies Lachen blieb für immer auf seinen formlosen, blutbeschmierten Gesichtsfetzen haften, war zu etwas Schicksalhaftem geworden. Es lebte fort als furchtbares Wahrzeichen der Fröhlichkeit des Volkes.

Sie warfen seine und Joëls Leiche in eine große Grube, in der schon von deutschen oder französischen Kugeln zerfetzte Leiber französischer Soldaten lagen.

Vielleicht wurde gerade er wieder ausgegraben und liegt heute als »unbekannter Soldat« unter dem Triumphbogen. Vielleicht schreiten über ihn die vielen Boten des Ruhmes und die Minister, die von der hohen, menschheitsbeglückenden Kultur Frankreichs sprechen und vom heiligen Krieg. Und seine Grimasse wird ewig in die dunkle Hölle lachen, die ein Hohn auf alle Kultur ist.


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