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Während wir den Frieden feierten

Langsam ging Samuel Schwartzbard, ein armer stiller Jüngling, ein sanfter Träumer seinem Viertel zu: dem Ghetto von Proskurow in Podolien. Ein schöner ruhiger Winterabend senkte sich über die verschneite Stadt.

Acht Jahre sind es her, und ich bitte euch, über diese Zeit hinwegzusehen. Acht Jahre bedeuten im Leben der Menschen wenig, und ihr und ich, wir sind damals nicht viel jünger gewesen, als wir es heute sind.

Man schrieb den 15. Februar 1919. Ich sagte schon, daß die kleine Stadt mit Schnee bedeckt war. Im dämmrigen Lichte schien es, als ob die Häuser in weißes Papier eingepackt wären. Die Menschen schritten über einen kalten, knirschenden Teppich von Watte und sehr schnell bildeten sich an den Schuhen dicke weiße Filzsohlen.

Samuel kehrte aus der Fremde heim. Er hatte den großen Krieg als Freiwilliger im französischen Heer mitgemacht und war mehrmals an der Lunge verwundet gewesen. Er war ausgezeichnet worden und hatte sich in Frankreich naturalisieren lassen. Nun hatte er Sehnsucht bekommen, die Heimat wiederzusehen: den Ort, die Menschen und die herbe Poesie der ukrainischen Landschaft in ihrem weißen Schweigen zu kosten.

Der Tag war laut und lärmend gewesen. Viele Spaziergänger hatten die Straßen bevölkert, die sich freuten, daß schönes Wetter und Sonnabend war. Denn Proskurow, das fünfundzwanzigtausend christliche und fünfzehntausend jüdische Einwohner hat, feiert zwei Tage in der Woche: den Sonnabend, den Tag des Sabbat, und den Sonntag. Orthodoxe Christen und Juden haben auf diese Weise zwei Feiertage hintereinander.

Die Läden sind geschlossen; die sonntäglich gekleideten Familien gehen in großer Zahl am Ufer des Flusses spazieren. Der Bug, ein echter ukrainischer Fluß, hält darauf, im Februar zugefroren zu sein. Die Kinder haben ihre Schlittschuhe in kleinen Säckchen mitgebracht und gleiten nun pfeilschnell über den glatten Spiegel.

All die Leute, deren Silhouetten sich gegen das reine Weiß des Schnees zugleich im Sonnen- und Mondlicht abzeichneten, waren sich bewußt, daß Krieg war und daß um den Besitz der Ukraine vier Parteien kämpften: Das Direktorium, unter der Führung des Hetman Petljura, die Bolschewiki, die Weiße Armee Denikins und die Polen. Von den Schlachten dieser Heere schrieben die Zeitungen. Auch Neuigkeiten aus Westeuropa standen darin: Schließlich war man nur vier Tagreisen von Paris entfernt, der Hauptstadt der Zivilisation, wo die Sieger am Werke waren, der Welt den Frieden zu geben und das Zeitalter der Gerechtigkeit zu beginnen.

Proskurow stand unter der Herrschaft des Hetman Petljura. Er übte über die ganze Gegend eine absolute Diktatur aus. Erst kürzlich hatte er in die Stadt eine Garnison gelegt, die sich aus einer Brigade Zaporok-Kosaken und dem dritten Haudamaken-Regiment zusammensetzte und von dem Hetman Semessensko befehligt wurde. Dieser General – er zählte erst zwanzig Jahre, hatte blaue Augen und ein weibisches Aussehen und trug zur Freude der Damen einen grünen Dolman mit scharfer Taille, bauschige Hosen und helle Stiefel – war Gouverneur und Herr der Stadt Proskurow.

An diesem Tage eben war er mit seinen schönen Truppen durch die Stadt marschiert. Samuel Schwartzbard hatte sie gegen zwei Uhr die Alexanderstraße entlang ziehen und um fünf Uhr zurückkommen sehen. Das Schauspiel ließ das Herz der jungen Männer und Mädchen höher schlagen und erweckte bei den Kindern helle Begeisterung. Sie sangen und marschierten in strammer Haltung nebenher. Kinder ahmen gerne nach, was ihnen die Erwachsenen zeigen.

Samuel ging die Alexanderstraße entlang. Sie war die Hauptstraße von Proskurow und führte durch den ganzen Ort. Ihre Häuser zeichneten sich durch Größe und Pracht aus. Klavier- und Grammophonmusik drang aus den Fenstern.

Im Ghetto, wohin sich Samuel jetzt wandte, sah es viel bescheidener aus. Das »Viertel der Gänse« (wie es im Volksmund heißt) besteht aus einer langen Reihe armer niedriger Häuser, die von schmalen namenlosen Gassen durchschnitten wird. Sie münden alle in die Soborngia, die Fortsetzung der Alexanderstraße.

An jenem Abend waren viele der jüdischen Häuser erleuchtet, elektrisch erleuchtet! Es war Sabbat und kein Jude darf an diesem Tage eine Lampe oder ein Feuer anzünden. Im »Gänseviertel« legten sie am Freitag so viel Brennholz auf, daß es noch am nächsten Tage in den Zimmern warm blieb. Auch die Lichtschalter wurden am Tage vorher angedreht. Wenn es dunkel wurde, schaltete das Elektrizitätswerk den Strom ein und man hatte Licht, ohne es selbst angezündet zu haben.

Hier steht das kleine Haus von Schenkmann, aus dessen Fenstern warmes Licht dringt. Aber kein Laut ist zu hören, es herrscht eine unheimliche Stille. Samuel will eintreten und findet die Tür weit geöffnet. Am Eingang liegen umgeworfene Stühle und ein zerbrochener Tisch. Im Zimmer steht ein großes Bett. Aus den Kissen sieht ein Kopf hervor. Einen seltsamen Anblick bietet dieser schwarze Kopf mit dem roten Bart; ein schiefes Lachen liegt auf dem Gesicht.

Schwartzbard tritt näher: Der Kopf im Bett ist zerschmettert und schwarz von geronnenem Blut. Im Lichte der Ampel glänzt das langsam sickernde Blut und zeichnet die Bettücher. Schwartzbard erkennt die Züge des Wirtes Schenkmann. In einer Ecke liegt eine dicke zerfleischte Masse auf blutgeröteten Lumpen: Frau Schenkmann. Kosakensäbel haben den Körper durchbohrt und zerstückelt. In der Mitte der Stube liegen zwei Kinderrümpfe – der kleine Moische und seine Schwester. Ihre abgeschlagenen Schädel sind unter das Bett gerollt.

In den anderen erleuchteten Häusern der gleiche Anblick: bei Bleckmann, bei Averbruch, bei Semmelmann, bei Kretschak und bei allen anderen jüdischen Familien. Nur Leichen waren im Lichte der elektrischen Lampen zu sehen, die von selbst aufgeflammt waren. Fünf oder zehn oder fünfzehn, manchmal sogar mehr als zwanzig Tote in einem Hause. Sie lagen zerhackt, verstümmelt oder mit gespaltenem Schädel in seltsamen Verrenkungen da. Kleine Kinder waren vor dem Kamin enthauptet worden. Anderen hatte man den Kopf daran zertrümmert wie ein Ei an einem Stein: Alle Kamine zeigten Spuren menschlicher Weichteile.

Verstümmelte Leichen füllten die Stuben wie ein Schlachtfeld. Bei manchen war noch der Ausdruck des Widerstandes oder des Flehens zu erkennen. An einer Mauerecke lehnte der Körper eines jungen Mädchens – ihr Kopf war an der Mauer zertrümmert worden – sie hielt das Kleid mit ihren blutigen Händen hoch, so daß die zerhackten, zerschlagenen Schenkel zu sehen waren. »Heb' dein Kleid, du wirst jetzt gepeitscht!« hatte man ihr gesagt. Und die Soldaten zerschlugen das lebendige Fleisch mit ihren Säbeln.

Andere Leichen waren aufeinandergeschichtet: Man hatte Kinder, Mädchen oder Jünglinge gezwungen, sich auf ihren Vater oder ihre Mutter zu legen. Dann jagte man den Säbel durch die aufeinanderliegenden Körper und nagelte sie so an der Erde fest.

Samuel Schwartzbard lief aufgeregt und verstört wie ein Trunkener von einem Haus zum anderen. Das ganze Judenviertel war zu einer Totenstadt geworden, die in hartem Lichte dalag. Er sah, wie sich in einem Haus die Vorhänge bewegten: aber als er taumelnd über die Schwelle trat, sprangen Gestalten auf, die sich an den Leichen und den Gegenständen zu schaffen gemacht hatten. Sie flohen: Diebe waren in das Haus gedrungen. Alle oder fast alle Bewohner der Häuser waren tot. Ein furchtbares Schweigen lag über der Judenstadt, und der Geruch frischen Fleisches durchzog sie. Aus den Leichen tropfte noch das Blut und das Auge sah, wie die Lachen allmählich größer wurden. Als Samuel ganz impulsiv Kleider über die nackte verstümmelte Leiche eines wunderschönen Mädchens legte, fühlte er, daß ihr Körper noch ganz warm war.

Das Ganze war leicht zu verstehen: zwischen zwei und fünf Uhr waren die Kosaken Semessenskos und Petljuras dagewesen, die prächtigen Truppen, die er vorhin mit klingendem Spiel hatte vorbeimarschieren sehen. In den erleuchteten Häusern waren alle Bewohner tot, aber in manchen Häusern, die dunkel waren, lebten noch Menschen. Dort hatten sich die Entflohenen zusammengefunden. Aus Trauer, Furcht und Abscheu hatten sie die Lichter gelöscht und sich verborgen.

Samuel trat in eines dieser Häuser ein – er taumelte vor den entsetzlichen Bildern des Elends und Jammers. Einige stöhnten ununterbrochen, andere weinten erschütternd und zitterten wie Espenlaub. Und andere vermochten nicht einmal mehr zu weinen. Nur undeutlich ließen sich ihre Gestalten in der Dunkelheit unterscheiden. Eine leise Stimme erzählte schaudernd unter Flüchen Einzelheiten:

»Hier wurde der Familienvater gemartert und in Stücke zerhauen, mitten unter seinen Angehörigen, die gezwungen wurden, dem furchtbaren Schauspiel zuzusehen. Dann wurden die Frau, die Töchter und auch die kleinen Mädchen vergewaltigt, totgeschlagen und zerhackt. Alles wickelte sich mit militärischer Schnelligkeit ab.

Petljuras Kosaken hatten sogar Mütter gezwungen, ihre Babys selbst mit einem Messer zu erstechen oder ihnen die Gurgel durchzuschneiden. Das gemordete Kind verströmte sein Blut in den Armen der Mutter, die ein paar Minuten später umgebracht wurde. Aber man ließ ihr Zeit, erst alle Verzweiflung zu erleben.

Anderen Opfern hatte man befohlen, sich nackt auszuziehen. Die ganze Familie stand nackt da: die mageren Greise, die fetten Frauen und die zierlichen Töchter zeigten ihre bloßen Körper und vergingen dabei vor Scham. ›Und nun tanzt!‹ Sie tanzten wirklich. Einer nach dem anderen wurde dabei niedergeschlagen und der letzte durfte nicht eher aufhören, bis ihn eine Kugel oder ein Säbelhieb zu den Seinen hinstreckte.

Andere wieder wurden nackt mit den Händen an die Decke gehängt und ein Feuer wurde unter ihnen angezündet. Die Soldaten wetteten, wer mit einem Schlag das größte Stück Fleisch heraushauen könnte. Die Fleischstücke wurden geröstet und andere Opfer gezwungen sie zu essen.

Andere mußten vor dem Tod ihre Kleider aufessen. Ein Alter wurde rasiert und mußte seinen Bart essen. Er wurde dann abgewürgt, als man sich genug mit ihm belustigt hatte.

Der junge Spektor wurde vor den Augen seines Vaters geschlachtet, den man zwang, das Blut seines Kindes zu trinken.

Arme, Beine, Lippen wurden abgeschnitten, Augen ausgerissen und schwangere Frauen ausgeweidet. In den Häusern verwendete man nur die blanke Waffe, auf den Straßen aber schoß man mit Maschinengewehren hinter den Fliehenden her, die aus den Fenstern gesprungen waren.«

Diese Schiffbrüchigen, die auf einem Blutmeer dahintrieben, wußten sehr gut, daß das Pogrom von Proskurow, das in drei Stunden dreitausendfünfhundert bis viertausend Opfer, davon eintausendachthundert Tote gekostet hatte, nur eine Episode der systematischen Ausrottung der Juden war, die im ganzen Lande, seit es unter der Herrschaft Petljuras stand, vor sich ging.

Proskurow, Elisabetgrad, Jitemir, Bar, Petschera, Filchtine und fünfzig andere ukrainische Orte haben die schrecklichsten Metzeleien und ein unsagbares Martyrium erlebt. In den Jahren von 1917 bis 1920 wurden nach den niedrigsten Schätzungen hunderttausend Menschen hingemordet, die alle unschuldig waren. Es läßt sich nicht einwenden, daß dies eine Übertreibung sei. Es existieren Protokolle, es liegen unzählige Berichte und genaue Untersuchungsergebnisse vor, so daß sich an den Tatsachen überhaupt nicht zweifeln läßt. Und sicher ist nur, daß noch viele Schandtaten verborgen geblieben sind.

Es läßt sich nicht einwenden: die Juden waren Unterdrücker. Sie waren friedliche Menschen, die sich überhaupt nicht um Politik kümmerten.

Es läßt sich nicht einwenden: ein Kommandant kann nicht für die Schandtaten seiner Leute verantwortlich gemacht werden. So stark auch der Widerwille gegen Semessensko, Palienko, Anghel, Petrow, Kosyr-Zyrko und die anderen Bestien in Menschengestalt – sie lassen es sich heute vielleicht in irgendeiner großen Stadt gut gehen, wie der Bandit Makno in Paris – sein mag, die alle großen Pogrome während der Zeit leiteten, da Petljura seine Militärdiktatur ausübte, – wir müssen doch feststellen, daß Petljura die alleinige Verantwortung dafür trägt. Denn die Vorfälle waren der Ausfluß eines sadistischen Nationalismus und Antisemitismus. Jegliche Beschwerde wurde abgewiesen: ›Dreckige Juden!‹ Das genügte. Der Hetman Petljura hat von den Exekutionen gewußt und sie gefördert. Hinterher freilich fand er vor dem Volke vornehme Trostworte. Er hat selbst erklärt, die Pogrome seien zur Erhaltung des guten Geistes in der Armee notwendig. Den Überlebenden dieses Massenmordes hat er gesagt: es war unrecht, euch am Leben zu lassen. Und wenn von der Uneigennützigkeit dieses Scheusals gesprochen wird, dürfen wir nie vergessen: fast immer folgten den Metzeleien Plünderungen und schwere Geldbußen. Tatsächlich ist die jüdische Bevölkerung der Ukraine ruiniert und zugleich dezimiert worden. Der Meuchelmörder Petljura war auch ein Dieb.

Darüber sprachen an jenem Abend die armen Überlebenden im jüdischen Viertel, als sie eng beieinander in einem der wenigen Häuser saßen, in denen es noch Bewohner gab.

Vor mir liegt eine Zeitung, in der ich die Nachricht lese:

»In den nächsten Tagen wird vor dem Gerichtshof der Seine die Verhandlung gegen den jüdischen Mörder Samuel Schwartzbard stattfinden. Am 25. Mai 1926 trat Schwartzbard auf den in Paris lebenden Kosakenführer Petljura, der sich gerade in ein Restaurant begeben wollte, zu, fragte ihn, ob er Petljura sei, und streckte ihn darauf mit einem Revolverschuß nieder.«


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