Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kein Mensch will mehr über den Krieg reden. Schon seit mehreren Jahren sagt man es und wiederholt es immer.
Aber solange das alte Gesetz wirksam ist, nach dem dieselben Ursachen dieselben Wirkungen hervorbringen, darf der Krieg nicht als historische Angelegenheit behandelt werden, sondern als gegenwärtiges oder zukünftiges Ereignis. Auf jeden Fall gilt das für die Ursachen eines Krieges.
Um zu meiner Geschichte zu kommen: obgleich sie vom Kriege handelt, wird sie doch die Offiziere interessieren, die eines Tages beim friedlichen Kaffee zusammensaßen, in der bekannten gesättigten Atmosphäre, die Kaffeedunst und Tabakrauch erzeugen.
Es war vor einigen Jahren in Antibes, als die Stadt, eine der schönsten und malerischsten der mittelländischen Küste, noch nicht durch die Einteilung ihres Bodens in Parzellen verunstaltet war, als ihre alten Mauern noch nicht niedergerissen waren und das Fieber der Spekulation noch nicht in ihr wütete.
Einer der Offiziere, Leutnant Béranger vom 3. Infanterieregiment gedachte gerührt seiner Kriegserlebnisse und erzählte den beiden Hauptleuten, die mit ihm am Tische saßen. Ein gewisser Stolz sprach aus der Erzählung Leutnant Bérangers. Er rühmte sich, deutsche Verwundete mit einem Gewehrkolben totgeschlagen zu haben.
Aber der Bataillonschef Mathis, der Garnisonkommandant von Cagnes, hatte zwei Tressen mehr als der Leutnant Béranger; also war es natürlich, daß er etwas Besseres zu erzählen wußte.
Und der andere Hauptmann – er gehörte einem ganz anderen Menschenschlag an – hat den Bericht aufgezeichnet.
»Ich stand,« erzählte Mathis, Hauptmann und Kommandant eines Bataillons, »während der Februaroffensive bei Fleury. Wir machten in der Schlucht von Poudrière zweihundert deutsche Gefangene. Nach dem Gefecht ließ ich die entwaffneten Gefangenen in zwei Reihen antreten; zwanzig ließ ich dann aus dem Glied treten und befahl den einhundertachtzig anderen, wieder in den Graben zu steigen. Die sollten zigouilliert werden. Meine Leute wollten erst nicht recht, aber auf meinen ausdrücklichen Befehl stürzten sie sich auf die Gefangenen …«
Hier unterbreche ich die Erzählung, um einmal nachzudenken, und ein jeder sollte darüber nachdenken, was diese Worte eigentlich bedeuten, die durch das Café von Antibes vom Marmortisch in einer Ecke des Saales schwirrten. Die Tür des Cafés öffnete sich nur selten, ein paar Einwohner saßen im Hintergrund, und ein lammfrommer Kellner ging langsam hin und her und ließ sein beladenes Tablett klirren.
Hauptmann Mathis gebrauchte den Jargonausdruck »zigouiller« wie eine Art Mundmühle. Er soll die genaue Bezeichnung der Schlachthaustätigkeit umschreiben, die er ausübte. Er sagt in Wirklichkeit, daß waffenlose Männer zitternd, mit bestürzten Mienen dastanden; ihr einziges Verbrechen bestand darin, ihren Führern gehorcht zu haben; sie standen in einem Graben – einhundertachtzig Mann bilden eine lange Reihe. Mit Messern und Bajonetten bewaffnete Soldaten sollten über sie herfallen und sie kalten Blutes erwürgen oder abschlachten.
Man kann sich die Szene vorstellen. Der Blutbefehl ist erteilt, aber die Soldaten stehen unschlüssig. Sollen sie diesen großen Trupp junger Menschen, die sie gar nicht kennen, hinmorden – ganz aus der Nähe? Es ist zuviel, es hemmt ihren Willen. Der Kommandant nennt es »sie zögerten«. Seine Ehre verlangte, darüber zu triumphieren. Sein Ansehen wäre erledigt gewesen, wenn sie nicht gehorcht hätten. Sie mußten einfach gehorchen. Er droht ihnen, verspricht. Mit welcher Geste mag er seinen Sieg erreicht haben? Was mag er in diesem Augenblick geschrien haben? Er hat sein Ziel erreicht, ohne ein paar der Zögernden den Abhang hinunterzustoßen: erst ging ein Soldat auf die Deutschen los, riß einem vielleicht die Gurgel heraus oder stieß ihm ein Messer in den Bauch. Auch die andern Soldaten folgten, ließen sich von dem barbarischen gemeinen Rausch anstecken, den die Todesschreie des lebendigen, ausgeweideten Fleisches hervorriefen.
Der Kommandant Mathis fuhr in derselben Weise fort:
»Alle wurden niedergemetzelt. Dann ließ ich die zwanzig Übriggebliebenen zurückführen.«
Mein Oberst fragte mich: ›Ich dachte, sie hätten ein Bataillon Gefangene gemacht?‹
Ich antwortete: ›Ich habe zweihundert Gefangene gemacht, aber einhundertachtzig sind in dem Graben geblieben, aus dem sie nie heraussteigen werden.‹
Der Oberst riet mir mit gelangweilter Stimme: ›Rühmen Sie sich damit lieber nicht, es könnte Sie Ihre Uniform kosten.‹
›Deswegen werden die Orden nicht ausbleiben,‹ habe ich ihm geantwortet.«
Tatsächlich erhielt der Hauptmann Mathis kurze Zeit später eine Auszeichnung. Er ist Bataillonskommandeur geworden – er hatte eigentlich mehr erwartet. Seitdem führt der Hauptmann den Orden der Ehrenlegion in verschiedenen Garnisonen spazieren.
So will es unsere Zivilisation, welche die Welt erobert und wehrlose Völker massakriert, weil sie »Wilde« sind.
Ich habe vor einigen Jahren den Fall veröffentlicht, habe ihn als einen der schändlichsten unserer verfluchten Zeit in der Presse gebrandmarkt. Der Progrès Civique hat sich gerührt, und die Liga für Menschenrechte hat sehr erschüttert getan.
Beide Organisationen fanden, solche Zustände seien unerträglich, und es müßte eine unbarmherzige Untersuchung stattfinden. Entweder Kommandant Mathis oder der verleumderische Schriftsteller müßte bestraft werden.
Die Liga für Menschenrechte übernahm es, den Fall zu klären. Viel hatte ich mir nie davon versprochen. Ein paar Jahre später habe ich die Liga um Auskunft über die Affäre gebeten. Sie hat mir geantwortet, daß sie sich mit dem Fall lieber nicht beschäftigen wolle, wenn ich nicht noch andere Zeugen namhaft machte; ich hätte nur einen zitiert, und ein lateinischer Spruch stelle richtig fest, daß ein einziger Zeuge nicht genüge: Testis unus, testis nullus. Wohl antwortete ich, daß der genannte Zeuge von besonderer Wichtigkeit sei, weil es sich um einen Offizier gleichen Ranges handle, der die Worte, die der Beschuldigte selbst erzählte, wiedergegeben habe, und daß der Veröffentlichung seines Berichtes kein Dementi gefolgt wäre.
Ein würdiges Schweigen war die Antwort. Das kennzeichnet die Liga.
Wie lange wird es noch dauern, und Leute vom Schlage dieses Mathis werden wieder die Mörder kompagnieweise zur Verfügung haben?!