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Der nackte Mann

In der Skuptschina wurde eines Tages der lebendige Widerschein des weißen Terrors gesehen.

Alle Parlamentssäle Europas sehen einander gleich, wenn man sie in der Sitzungspause besucht. Diese grauenhaften Räume des »Volkes« sind stets kleiner, als man sie sich vorgestellt hat. Sie haben hohe gewölbte Decken und auch Gänge, Foyers und Draperien, wie ein Zirkus. Aber die Bänke, die in parallelen Kreisen angeordnet sind, haben, wenn sie nicht besetzt sind, etwas Drohendes an sich. Ihr dekorativer Pomp läßt die Leere besonders leer erscheinen. Denselben Duft nach Sakristei und Ungerechtigkeit, den kahle, eben unbenutzte Amtsstuben ausstrahlen, atmet man auch hier und empfindet dieselbe unklare Angst an dieser zentralen Stätte, wo das Zeitgeschehen mit leeren Worten verarbeitet wird.

Alle Parlamente gleichen einander auch, wenn der Lärm einer Sitzung tobt. Mit großem Aufwand und vielen Worten werden die ungeheuerlichen Vorfälle des Lebens erledigt und man könnte manchmal glauben, daß eine wirkliche Diskussion stattfindet. Aber alles ist schon vorher festgelegt nach einem genauen Plan; der einzige Unterschied zwischen einem offen despotischen Regime und einer Parlamentsherrschaft liegt darin, daß die Parlamentsherrschaft viel zeitraubender ist.

So glich auch die jugoslawische Skuptschina in jeder Beziehung den gepriesenen Parlamenten der Alten Welt; nur der Name ist ein anderer: sie heißt Skuptschina und nicht Reichstag, Reichsrat, Sobranje, Sejm, Haus der Gemeinen oder Chambre des Députés.

Eben saß Herr Maximovitsch, der Minister des Innern, auf dem Armensünderstühlchen. Man hatte ihn wegen erwiesener Terrorhandlungen und betrügerischer Wahlmanöver zur Rede gestellt, die seine Regierungsbeamten oder Gendarmen während der Generalratswahlen begangen hatten. Die Tatsachen lagen offenkundig und erwiesen zutage und ließen sich nicht ableugnen. Sie bestätigten wieder einmal die bekannte Wahrheit, daß jugoslawische Wahlen ein methodisch angewandtes Mittel der Regierung sind, unter Ausübung brutalen Zwanges möglichst viel Stimmen für die Regierungsparteien zu erhalten.

Herr Maximovitsch, der sich nicht verteidigen konnte, antwortete mit dem Brustton der Überzeugung:

»Das ist nicht wahr! Ein Irrtum kann überall unterlaufen. Aber nirgends, in der ganzen Welt nicht, gibt es eine so liberale, so nachgiebige Regierung.

Gewalt? Im Gegenteil, bei uns herrscht eine vollkommene Freiheit, wie sie nirgendwo sonst zu finden ist.«

Wenn man ihn reden hörte, schien kein Kabinett der Erde so rein, keines in so demokratischer Gesinnung dazustehen wie das, dem anzugehören er die Ehre hatte. Und er schlug sich an die Brust und sprach wie ein wahrer Minister des Völkerbundes.

»Aber an dem und dem Tag,« rief man ihm von den Bänken der Opposition zu, »ist das und das passiert …«

»Das ist nicht wahr! Alle diese Tatsachen sind falsch. Sie sind der alten Geschichte entnommen oder der Geschichte eines Nachbarstaates. Bolschewisten sind es, die solche Gerüchte in Umlauf setzen, um den jugoslawischen Staat vor der Welt in Mißkredit zu bringen. Dieser Fall? Na, er ist doch kaum auf den Fuß getreten worden. Sie meinen jenen? Der Kerl hat ja den armen Gendarmen zuerst geschlagen.«

Während Davidovitsch, der Führer der demokratischen Partei und Sprecher der Opposition, sich mit den formellen Beweisen in der Hand abquälte, und seine Stimme zeitweise in dem Mißbilligungsgemurmel der Regierungsmehrheit unterging, wurde ihm eine Nachricht überbracht:

»Kommen Sie sofort in den Klub der Demokratischen Partei.«

Er begab sich dorthin und fand inmitten einer Menschengruppe auf einem Stuhl ein in sich zusammengesunkenes Wesen, das etwa einem Menschen glich. Der Mann war übel zugerichtet, zerschlagen und zerbeult und, wie man sagt, gerade noch am Leben. Man umringte ihn, suchte ihm zu helfen; wenn man ihn berührte oder sein Rücken an die Stuhllehne anstieß, schrie er vor Schmerzen.

Die Umstehenden berichteten Davidovitsch, daß diese beklagenswerte Figur Jovan Ristitsch, ein Steuerbeamter aus Toptschider, einem Orte bei Belgrad, sei.

Sokolovitsch, der Polizeikommissar von Toptschider, hatte ihn eigenhändig so zugerichtet, weil er es während der Wahlen an Eifer für den Regierungskandidaten fehlen ließ. Jemand kam auf den Gedanken, den wimmernden Mann, der fortwährend seine Stellung auf dem Stuhl wechselte, als ob er auf glühenden Kohlen säße, zu entkleiden. Sein Körper war blau von Stockhieben und mit Blutstriemen bedeckt.

»Er muß zum Parlament gebracht werden!«

Sie trugen das lebendige Stück Fleisch, vorsichtig, wie eine zerschossene Fahne.

Sie gingen zur Skuptschina, traten unauffällig ein und legten den Abgeordneten den lebendigen Beweis für die Methoden der Regierung vor. Sie stellten Ristitsch auf wie eine Vogelscheuche. Er war halb nackt, damit man seine jammervolle Tätowierung und die verschmutzten Spuren der Schläge gut sehen könnte. Auf seinem verfallenen Körper saß ein verstörter Kopf; die Augen waren geschlossen und die Haare klebten an seiner schweißigen Stirn.

Alle Abgeordneten sprangen von ihren Plätzen auf und schrien durcheinander. Er bekam Furcht, schlug die Augen auf und zitterte an allen Gliedern, die ein königlicher Polizeikommissar zerschunden hatte.

Er glaubte, die Qual, der er eben entronnen war, beginne von neuem. Sollte er noch einmal geschlagen werden? Sein ängstlicher Blick wirkte wie eine neue Wunde an seinem Körper.

Als die Opposition das Opfer erblickte, dessen Haut die Kennzeichen der Wahlen trug, ging ein Sturm der Entrüstung durch ihre Reihen, und wie ein Mann schrieen ihre Abgeordneten: »Mörder! Mörder!«

Das richtete sich gegen Maximovitsch, seine Helfer und seine Herren, denn Ristitsch trug auf seinem Leib die Spuren ihrer Pfoten, vom Polizisten angefangen bis zu Seiner Majestät.

Aber einige Deputierte – ihre Zahl wuchs mit der Zeit – ärgerten sich über etwas anderes und schimpften:

»Das ist ein Skandal!«

Es ist auch ein Skandal, einen nackten Mann vor ein ehrwürdiges Parlament zu bringen und die Wunden eines Märtyrers zu zeigen, die das herrschende System ihm schlug. Der Lärm darüber übertönte die Entrüstungsschreie der Opposition. Zweifellos war die Affäre Herrn Maximovitsch peinlich und dauerte ihm sichtlich zu lange. Aber er opferte sicher den Polizeikommissar Sokolovitsch gern, der zu Unrecht die Wunden – oder den Mann – bestehen ließ und ohne Diskretion und Vorsicht seiner Amtspflicht nachkam; er wurde abgesetzt, und man leitete ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein.

Den wohlanständigen Leuten, die weit gewichtiger und angesehener als die üblen Wahrheitsfanatiker sind, wurde in der Skuptschina ein schwerer Schlag versetzt.

So etwas gehört sich nicht. Denn nichts kann den Frieden der Bourgeoisie mehr stören als das Zerreißen von Schleiern und die Entkleidung eines Wesens, damit seine wahre Gestalt zu sehen sei. Ein nackter Mann am Kreuz kann nur als stummes, blindes Kruzifix von ihr geduldet werden. Auch ein bißchen Schwindel darf ruhig getrieben werden; nur böse Radikale bezeichnen dies als Verbrechen. Aber mit der Hand das Übel zu greifen, den Anzug und sogar das Hemd vom Gerippe eines Mannes aus dem Volke zu reißen, um auf seiner Haut die Spuren der sozialen Wahrheit zu demonstrieren, das ist ein gemeiner, unerhörter Skandal!


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