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Dreihundertfünfzig Tote

Auf dem Bahnhof von Modane, dicht an der italienischen Grenze, herrschte in einer Winternacht des Jahres 1917 ein ungewöhnlich starker Verkehr. Die Reisenden auf den Bahnsteigen und in den Wartesälen sahen einander merkwürdig ähnlich. Alle waren sie armselig gekleidet, einer wie der andere gleich jammervoll. Leid lag auf den Gesichtern der meisten, Leid krümmte ihre Rücken, Leid machte ihre Beine schwer. Selbst die Gesichter der Stärksten von ihnen beschattete eine Maske des Schmutzes und der Müdigkeit. Wenige nur sahen aus, wie Menschen sonst aussehen.

Schemenhaft gingen sie auf den steinernen Fliesen auf und ab oder saßen auf dem Boden. Das grelle Licht der elektrischen Lampen ließ ihre Gestalten zur Hälfte ganz hell, zur anderen Hälfte dunkel erscheinen. Daher sahen auch manche Gesichter wie schwarze Löcher aus, andere glänzten wie Lampions.

Dabei schienen sie glücklich zu sein. Sie sprachen laut miteinander, manche sangen oder pfiffen sogar.

Es waren französische Soldaten von der italienischen Front, die nach den schweren Kämpfen am Piave in Urlaub fuhren.

Der Piave. Dies Wort hat in den zehn Jahren seine schreckliche Kraft eingebüßt, ist vergessen worden. Zehn Jahre löschen auch das Furchtbarste im Gedächtnis des Volkes aus.

Damals hieß »Piave«: aufregende, zermürbende Anstrengung, hieß zäher Kampf gegen Soldaten, die anderen großen Herren untertan waren und auch getan hatten, was ihnen befohlen war. Sie waren marschiert, hatten gerastet, waren wieder marschiert, hatten gestürmt, hatten geschossen, sich beschießen lassen; sie hatten Verluste gehabt, und ihre Reihen waren licht geworden. Es ist nicht zuviel gesagt: alle hatten sie Selbstmord begangen, doch nicht alle waren wirklich gestorben.

Schließlich, als sie immer weniger geworden waren, wurden sie aus der Front gezogen. Da fanden diese Soldaten Freude daran, von ihren Kämpfen zu erzählen.

Jetzt waren sie schon in Frankreich, weit vom Piave und konnten das Triumphgeschrei nicht mehr hören, das da unten ihre Tapferkeit auslöste. Sie erwarteten auf dem französischen Grenzbahnhof Modane ihren Zug. Endlich fuhr der ersehnte Zug ein, hielt längs des Bahnsteigs; die Soldaten stiegen ein und alle suchten sich in den Ecken niederzulassen.

Die dem Krieg Entronnenen waren jetzt wieder freie Menschen und mit Herz und Magen schon daheim. Fünfhundert Menschen!

Die Abfahrt verzögerte sich. Der Lokomotivführer war noch nicht auf der Lokomotive, sondern stand auf dem Bahnsteig und führte lange Gespräche mit den betreßten, ordenbehangenen Herren, die den Abtransport beaufsichtigten. Er besaß die Unverschämtheit, nicht einer Meinung mit ihnen zu sein.

Er erklärte ihnen: »Die Abfahrt ist unmöglich.«

Das empörte die Offiziere.

»Wie kann ein Franzose das Wort ›unmöglich‹ aussprechen? Solche dummen Ausflüchte! Unmöglich ist kein Wort der französischen Sprache.«

Der Lokomotivführer erwiderte nur: »Der Zug ist zu schwer.«

In der Hoffnung, sie wüßten es nicht, machte er sie darauf aufmerksam, daß die Strecke voller Kurven und steiler Abhänge sei. Sich auf sie mit einem zu schweren Zug zu wagen, hieß, die Gewalt über die Maschine verlieren. Es ist schließlich nicht zu verlangen, daß hohe Offiziere über solche Kleinigkeiten Bescheid wissen. Doch hätten sie wissen können, daß eine Bahn, die vom Kamm der Alpen in die französische Ebene hinabführt, ein starkes Gefälle haben muß. Aber hier ging es um das Prinzip, daß der Befehl eines Vorgesetzten heilig ist, und daß alle Gründe gesunden Menschenverstandes demgegenüber nicht stichhaltig sind: Der Befehl zur Abfahrt lag vor.

Umsonst suchte der kleine schwarze Kerl mit wilden Gebärden die Richtigkeit seiner Ansicht zu verteidigen und nachzuweisen, daß ihm die Maschine bei dem ersten Gefälle durchgehen würde. Die Vorgesetzten, deren Orden im Lichte der Bogenlampen glitzerten, befahlen die Abfahrt.

Schon wurden die Urlauber in den Abteilen ungeduldig, reckten die Köpfe heraus und fragten: »Warum fahren wir nicht?«

Natürlich weigerte sich der Lokomotivführer trotzdem, abzufahren. Die Furcht vor dem sicheren Verderben war zu groß.

Erst als die Offiziere ihm die Abfahrt formell befahlen, bestieg er die Maschine; der Zug setzte sich in Bewegung und verließ den Bahnhof.

Aber bald kam er ins Rollen. Die Bremsvorrichtungen versagten. Er raste das Tal der Arc entlang. Hier schlängelt sich der Schienenweg an den steilen Felsufern des Flusses vorbei.

Immer rasender wurde die Fahrt, immer mehr kam das Eigengewicht der Wagen zur Geltung. Schon gab der Führer Gegendampf, doch nur immer schneller glitt der Zug und raste wie ein Expreß der Ebene zu.

Hier war Menschenkraft hilflos.

Die Lokomotive kreischte und war in dicke Rauchschwaden eingehüllt. Die Bremsen waren so stark angezogen, daß die Klötze in Brand gerieten. Bald stand der ganze Zug in Flammen und fegte auf den Bahnhof Saint-Michel de Maurienne zu wie ein feuriger Komet.

Die in den glühenden Eisenkäfigen eingeschlossen lagen – die fünfhundert Mann, die glücklich dem Morden am Piave entkommen waren –, wurden sich bald dieses Rennens in den Tod bewußt. Fäuste ballten sich. Beherzte versuchten die Türen zu öffnen, die der Luftdruck sofort wieder zuwarf. Viele sprangen durch die Fenster in den Abgrund, den die Nacht nicht sehen ließ. Nicht einer kam lebend davon; zerfetzte Leichen bezeichneten die Todesfahrt bis zu dem Ort, wo die endgültige Katastrophe eintrat: an einer Brücke hinter einer scharfen Kurve, unweit des Bahnhofs Saint-Michel.

Der feurige Komet mit den Menschen in seinem Innern jagte dahin wie eine Granate und raste, statt der Kurve der Schienen zu folgen, geradeaus weiter.

Die Lokomotive stürzte in den Abgrund und riß die Wagen mit, die über sie geschleudert wurden und sich wirr aufeinandertürmten. Eine Flammensäule schlug hoch.

Nur ein paar wilde Schreie gellten noch aus dem Scheiterhaufen.

In derselben Nacht zog man hundertfünfzig Verletzte aus den glühenden Trümmern hervor. Alle anderen waren verkohlte Leichen: dreihundertfünfzig Soldaten, die frohen Mutes einige Tage Ruhe erwartet hatten, ehe sie von neuem in den mörderischen Kampf ziehen sollten.

Die Zeitungen veröffentlichten am nächsten Tage gräßliche Einzelheiten über das »Unglück« von Saint-Michel de Maurienne. Sie wurden behaglich von Leuten am warmen Kamin gelesen, deren Gewissen genau so rein war wie das der Offiziere von Modane, die den verbrecherischen Befehl gegeben hatten. Niemand zog diese Offiziere zur Verantwortung, und alle sind sie seitdem befördert worden.

Mir erschien es als Pflicht, an das »Unglück« zu erinnern.


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