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Als Freiwilliger reiste er mit dem Schiff nach Marokko ab. Es war am 1. Oktober 1925, als er mit vielen anderen den französischen Hafen verließ. Seitdem sind noch mehr nachgefolgt – verführt von den glänzenden Versprechungen der offiziellen Werber, der Akquisiteure der Heeresverwaltung, von den Schilderungen der Kriegsberichterstatter, die überall und im besonderen in Marokko die französische Zivilisation vertreten.
Der kleine Soldat Olivier Bonnoron war nicht interessanter als all die anderen kleinen Soldaten, die sich in dem Gewimmel des Transportes herumdrückten. Aber weil wir in diesem Augenblick ihn allein betrachten und unser Augenmerk auf ihn richten, verstehen wir ihn besser und lieben ihn mehr als einen anderen.
Weil er jung, ehrlich, nett und unschuldig war, verkörperte er so recht den Typ des kleinen Soldaten, der freiwillig in den Krieg geht, weil er noch keine Zeit gehabt hat, über Tod und Leben nachzudenken und die große Lüge zu erkennen.
Das Transportschiff »Haïti« der Transatlantischen Kompagnie verließ also die französische Küste mit seiner Fracht frischen Menschenmaterials. Neben den vielen jungen Leuten gab es aber auch ein paar alte rohe Soldaten, unter denen besonders ein Sergeant des dritten Kolonial-Infanterieregiments auffiel. Er gehörte zu jenen schmutzigen Tieren, die man im Stab und im Ministerium schamhaft »energischer Unteroffizier« nennt. Er war ein wüster Kerl, ein Säufer, ständig und stets betrunken. Es ist bekannt, daß die Kolonialtruppen sehr oft der Gewalt solch irrer Fieberkranken ausgeliefert sind.
Dieser Sergeant lief auf dem Deck des Schiffes umher, das wir als einen Frachtdampfer bezeichnen können. Die Küste Frankreichs versank langsam in Dunst und Dämmerung; es war achteinhalb Uhr abends.
Viele Soldaten waren auf Deck gegangen, um frische Luft zu schnappen und im letzten Dämmerschein noch einmal Frankreichs Küste zu sehen, die zwischen Meer und Himmel verschwand. Auch der kleine Soldat Bonnoron war aus der Kajüte gekommen. Er stand in der frischen Brise und sah mit nachdenklichem Blick, der über Gedanken das Gesehene nicht bewußt werden läßt und sonderbare Verbindungen herstellt, vor sich hin.
Der Sergeant stolperte von Gruppe zu Gruppe. Er war vollständig betrunken, und das zerbeulte Käppi saß verkehrt auf dem Kopf; wutschnaubend und wild um sich blickend, rannte er umher. Er packte die Soldaten, einen nach dem anderen, und knurrend wie ein wütiger Hund fragte er sie: »Bist du's?« Der Narr suchte jemanden. Er hatte sich am Morgen mit einem Sergeanten aus Martinique gezankt, und ein paar Schnäpse hatten in seinem verkalkten Schädel die fixe Idee reifen lassen, den Mann aus Martinique zu töten. Nach einem solchen Streit ist doch eine andere Lösung gar nicht möglich, nicht wahr? Und nun suchte er, durch das Dunkel tappend, den schwarzen Sergeanten und stieß, den Revolver in der Hand, schreckliche Drohungen aus. Wirre Bilder tanzten vor seinen Augen, und er glaubte schließlich, den verhaßten Kameraden zu sehen. Er hob den Arm und drückte los.
Olivier Bonnoron sank aufstöhnend zusammen.
»Ich hab' mein Teil. Meine arme Mama!«
Es waren die letzten Worte des kleinen Soldaten. Bald wurde er bewußtlos und fiel in eine tiefe Ohnmacht. Nur noch das Leiden in ihm lebte weiter, und er selbst war eigentlich schon tot, obwohl sein Herz noch einen Tag weiterschlug.
Die »Haïti« hatte gestoppt und lag auf der Höhe des kleinen Hafens Royan. Der Funkapparat an Bord des Schiffes rief um Hilfe, die Hafenwache kam und holte den jungen zerschossenen Körper, in dem das Leben erlosch.
Wenn der kleine Bonnoron es noch gekonnt hätte, würde er vor Schmerzen geschrien haben. Aber er konnte nur noch sterben. Im Hospital von Royan verschied er nach dreißigstündiger Agonie.
Das alles wurde von zahlreichen Zeugen beobachtet. Für die Aussage der jungen Soldaten, die mir den Vorfall erzählten und bezeugten, kann ich die Hand ins Feuer legen. Sie hießen: Bourdeau, Rolland und Rocheteau.
»Die arme Mama«, die in Angoulème wohnte, war ganz verzweifelt über den Tod ihres Jungen, schrieb einen erregten Brief an den Kriegsminister. Sie verlangte Aufklärung. Was tat nun der Minister, um das Verbrechen eines vertierten Soldaten wieder gutzumachen? Entschuldigte sich der hohe Herr? Sprach er sein Beileid aus?
Der Brief, den Frau Bonnoron vom Kriegsministerium erhielt, das ihr ein Kind von zwanzig Jahren weggenommen und ihr eine Leiche zurückgegeben hatte, lautete:
»Gnädige Frau,
in Bestätigung Ihrer Anfrage habe ich die Ehre, Ihnen das Resultat der Untersuchung mitzuteilen, die ich über die Umstände angestellt habe, unter denen der Soldat Bonnoron am 1. Oktober an Bord des Transportschiffes ›Haïti‹ auf der Reise von Bordeaux nach Marokko verstorben ist.
Als er in das Hospital eingeliefert wurde, hat er folgende Aussage gemacht:
›Ich befand mich auf dem Dampfer »Haïti« der Transatlantischen Kompagnie, als sich ein Streit zwischen einem Sergeanten und einem Schwarzen entwickelte. Da der Schwarze den Sergeanten geschlagen hatte, lief dieser in die Kajüte nach seinem Dienstrevolver, mit dem er den Schwarzen bedrohte. Ich stürzte mich auf den Sergeanten, der gerade in dem Augenblick, als ich ihn gepackt hatte, auf den Hahn drückte. Der Schuß ging los und traf mich in den Bauch.‹
Trotz sorgfältigster Pflege ist der Soldat Bonnoron um zwei Uhr früh im Hospital von Royan gestorben.
Obwohl der böse Vorfall gänzlich unbeabsichtigt geschah, wurde der Täter nach seiner Ankunft in Casablanca festgenommen und der Militärpolizei übergeben. Er mußte sich vor einem Kriegsgericht verantworten.
Die Todesurkunde wurde durch den Herrn Bürgermeister von Royan unter dem 2. Oktober ausgestellt.
Empfangen Sie Versicherung unserer größten Hochachtung usw. …«
Sprechen wir nicht von dem abgenutzten, indifferenten, und, um es richtig zu bezeichnen, groben Ton des Briefes, durch den der liebe Gott der Armee im Stil eines Portiers seine Entschließung kundtut, die er eine Untersuchung nennt.
Hier stehen sich zwei Berichte des gleichen Dramas gegenüber. Einer entspricht den Tatsachen, der andere ist militärisch.
Die Erklärung des Kriegsministers ist nichts weiter als eine Lüge, die davon lebt, daß es gar keine Untersuchung über den Fall gab, auch kein Zeugenverhör, daß etwaige Zeugen irgendwo auf den Riffen Marokkos verbluten, in die man leichter hineinkommt als wieder heraus, daß sich die Tragödie fern auf den Wellen des Meeres zutrug. Der Oberbefehlshaber der französischen Armee kannte die Wahrheit sehr gut, aber er fälschte sie, um das Ansehen der Tressen zu retten. Die »Tatsachen« des Kriegsministers klingen wie ein schlechter Roman; die Wahrheit war ganz anders als der Papierfetzen von der Rue Saint Dominique weismachen will.
Bonnoron hat während des Transportes überhaupt keine Aussage gemacht, weil er ja gar nicht wieder zum Bewußtsein gekommen ist. Ich habe mit drei Zeugen gesprochen: mit drei Soldaten, Kameraden des Ermordeten vom 107. Regiment, die zur selben Zeit in Limoges ausgebildet wurden und mit demselben Transport fuhren. Die genaue Übereinstimmung ihrer Aussagen macht den ministeriellen Betrug zunichte.
Der gemeine Säufer (man erzählte uns, daß Trunkenheit in der Armee als erschwerender Umstand gelte), der bei vollem Bewußtsein einen vorbedachten Mord begangen hat (der Irrtum in der Person tut nichts zur Sache), stand am 13. Januar 1926 tatsächlich vor dem Kriegsgericht in Casablanca. Das Gericht verurteilte ihn mit Strafaufschub zu zwei Monaten Gefängnis und zweihundert Franken Buße, d. h. er wurde eigentlich freigesprochen. Ein derart heuchlerisches Urteil ist sogar schlimmer als ein Freispruch.
Ist es noch möglich, offener zu erklären, daß die Chargen bei den Kolonial- und Heimattruppen ganz recht hätten, die Haut eines Soldaten als Schießscheibe zu benutzen, wenn es ihnen passe. Sie riskieren dabei einen Freispruch, wenn ich so sagen darf.
Wann wird endlich die Arbeiterklasse, heute Schlachtopfer und Kanonenfutter, mit dem traditionellen Kultus der nationalen Armeen, der Kriegsgerichte und Kriegsminister brechen, die allesamt gehenkt zu werden verdienen.