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Sie haben gemeutert? Ist es wahr?«
»Ja, mehrere Regimenter, während der Schlacht von Soissons 1917.«
»Und warum?«
»Sie waren schlechte Franzosen, Sie erklärten, sie hätten genug vom Kriege. Überhaupt wären nur die Minister, die Regierungen und die Kapitalisten schuld daran; nun sollten Sie auch allein zusehen, wie sie wieder einig würden – kurz, das richtige Revolutionsgewäsch.«
»Was haben sie eigentlich getan?«
»Sie haben ihre Offiziere gefangengesetzt. Ja, Herr, eingesperrt haben sie sie!«
»Wurden die Offiziere totgeschlagen?«
»Nein. Aber sie wurden in Villen festgehalten. Dann haben die Meuterer alle Autoreifen zerschnitten. Sogar Maschinengewehre zur Verteidigung haben sie aufgestellt, die sie allerdings nicht benutzten. Schließlich gelang es regierungstreuen Truppen, sie zu umzingeln und zu entwaffnen. Zweihundertfünfzig wurden von den anderen isoliert.«
»Warum gerade zweihundertfünfzig?«
»Weil mehr vielleicht zuviel gewesen wären, Sie verstehen, nicht wahr? Und weniger hätten bestimmt nicht genügt.«
Diese zweihundertfünfzig Meuterer waren wahllos herausgegriffen worden. Man bat sie höflich, in große Autos zu steigen. Sie stiegen mit einem gezwungenen Lächeln ein und man fuhr sie den ganzen Tag spazieren.«
»Man fuhr sie spazieren?«
»Das will besagen: man fuhr sie kreuz und quer über Felder, bis sie Richtung und Orientierung vollständig verloren hatten. Erst abends hielten wir …«
»Wie? Waren Sie denn dabei?«
»Natürlich war ich dabei, aber nicht bei den zweihundertfünfzig. Ich begleitete sie. Sie mußten warten. Ein Offizier meinte, man müßte doch die Namen der Leute haben, für später. ›Jeder soll seinen Namen nennen. Wir brauchen das, um Wein fassen zu können,‹ forderte sie ein anderer der Herren auf, der die Menschen wie ein Romanschriftsteller kannte. Sie können sich denken, daß sie ihre Namen genannt haben; aber auf das Viertel Wein warten sie noch immer.
Als es Nacht geworden war, führte man sie quer über weite Felder; manchmal mußte ein Graben übersprungen werden, der voll von Menschen und Bajonetten war. Als die Gräben aufhörten, ließ man sie noch ein Stück vorgehen. Dann wurde ein Kommando im Flüsterton gegeben: »Halt!« Sie sollten sich niedersetzen, einer dicht neben den anderen: »Setzt euch!« lautete der Befehl. »Ellenbogen an Ellenbogen! Keiner darf sich rühren.«
Man ließ die Reihe entlang die Order passieren:
»Seht vorwärts! Paßt gut auf!«
Der letzte Befehl wurde erteilt, um sie nicht merken zu lassen, wie ihre Führer sie verließen und vorsichtig kriechend dahin zurückkehrten, von wo sie gekommen waren.
Schweigende Einsamkeit umgab die Menschen, deren zweihundertfünfzig Augenpaare nach vorn gerichtet waren. In der Ferne leuchtete das wirre Feuerwerk der üblichen Bombardements.
Beim Stab blieb man nicht untätig. Nur ein paar Telephongespräche mußten geführt werden. Unsere Batterien erhielten den Befehl, sich auf die Gruppe – da und da gelegen – nahe der ersten Linie, einzuschießen. Übrigens bezeichneten hübsche helle Leuchtraketen ihnen sehr genau die Stelle.
Es genügten ein paar Feuerstreifen, ein paar Einschläge fauchender Granaten, Minenwerfer, Schrapnellregen, der starke Dächer durchsiebt hätte, und Streufeuer eines Maschinengewehrs, das die Reste niedermähte – um aus den zweihundertfünfzig Mann einen Klumpen von Fleisch, Knochen und Stoffetzen zu machen; denn sie hatten ja keine Waffen.
Die Offiziere denken an alles; mit großer Vorsicht wurde die Affäre geheimgehalten, und wir alle mußten unbedingtes Stillschweigen schwören. Wir schwuren und hielten den Schwur: entweder man hat Ehre oder man hat keine.
Hundert solcher Episoden hat es gegeben; niemals werden die Greuel bekannt werden, welche die französischen Offiziere zu begehen wagten. Das sind die Heldentaten der Bestien, die uns kommandiert haben und manche von ihnen werden uns ohne Zweifel wieder kommandieren, wenn der Tag kommt.
Der bestialische Sadismus eines Attila oder Tamerlan hat sich den Jahrhunderten des Fortschritts angepaßt. Man hat nicht nur die Maschinen vollkommener gestaltet, sondern auch Gemeinheit und Niedertracht.
Ich weiß schon lange von dem Verbrechen. Einem Freunde war die Geschichte glaubwürdig erzählt worden, der sie mir mit allen Einzelheiten über die Persönlichkeit seines Gewährsmannes und die Vorgänge selbst berichtete. Er hatte mich gebeten, sie nicht zu verwerten. Heute darf ich es, im Mai 1924, zu den Kammerwahlen.
Einige Politiker waren über den Fall erschüttert. Sie spuckten Gift und Galle. Doch waren sie Wahlkandidaten und hatten andere Sorgen im Kopf. Sie erklärten, an sich halten zu müssen, um ihrer Empörung nicht Ausdruck zu geben. Aber: später, wenn sie nur gewählt würden, dann wollten sie schon zeigen …
Sie wurden gewählt und zeigten …, daß die Deputierten nichts mit den Kandidaten gemein haben. Manche (ich werde sie eines Tages nennen) haben sich überhaupt nicht um die langweilige Geschichte gekümmert; denn das hätte ja zu einer Untersuchung über die Frage der Verantwortlichkeit und zu Beschuldigungen hochgestellter Persönlichkeiten führen können. Kurz, sie sind stumm geworden, die Herren Parlamentarier, gerade da, wo sie es nicht durften. Nach der erfolgreichen Wahlkandidatur geschah gar nichts mehr.
Aus diesem Grunde übernehme ich die Aufgabe jener gewissenhaften Leute. Denn solche Fälle müssen bekannt werden.
Ganz allgemein möchte ich sagen, daß die besten, treuesten Helfer der Verbrecher in Uniform und der Scharlatane der Demokratie ihr seid, wenn ihr ruhig bleibt und zu allem Ja und Amen sagt, ihr anderen, ihr »ehrlichen Leute« und »guten Bürger«!