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Die Gegend war schön, in der sie beieinander saßen: eine warme, in blendendes Licht getauchte Landschaft mit Blumen und immergrünen Bäumen, unter der das blaue Meer glatt wie ein Spiegel lag. Auf die Ufer brannte die Sonne. Sie kauerten in einem Winkel des halbfertigen Baues zwischen Gipsstaub, schmutzigem Zement und Ziegelsteinen. Ihre Kleidung war staubbedeckt, ihre Schuhe alt und zerrissen.
Sie sprachen italienisch.
Es waren Italiener. Die barbarischen Methoden der Schwarzhemden hatten sie aus ihrer Heimat vertrieben, aus ihrer Heimat, die nur äußerlich dem schönen Lande gleichsah, das es vor der Gewaltherrschaft war. Jetzt arbeiteten sie an dieser azurblauen Küste, wurden von einem Unternehmer, der ihre Notlage zum Geschäft machte, wie Vieh behandelt.
Sie kannten einander nicht.
Unter diesen italienischen Flüchtlingen waren drei Arbeiter, die anderswoher stammten. Durch ihre grauen Mützen und ihre Halstücher – der eine trug ein blaues, der zweite ein orangefarbenes und der dritte ein schwarzes – unterschieden sie sich von ihren italienischen Kameraden, deren Sprache sie nicht verstanden. Einer von den Fremden – der mit dem orangefarbenen Halstuch – war dick und hatte einen gewichsten Schnurrbart. Er flüsterte immerfort und auch, wenn er zu den anderen nichts sagte, hörte man sein »ssissi«. Er war eigentlich nicht sehr gesprächig; doch verstand er es, lustige Geschichten in einem leidlichen Französisch zu erzählen. Es war Mittagspause – er erzählte und versuchte, etwas Fernes, Fremdes mit der Hand zu verdeutlichen.
»Es war einmal ein kleines Haus, inmitten von Schnee …« Eine große Überzeugungskraft gehörte dazu, in solchem Sonnenbrand einen Begriff von Frost und Schnee zu geben.
Er sah einen nach dem anderen fest an, um jedem einzelnen seine Rede recht eindringlich zu machen.
Er schilderte sein Vaterland:
»Weiß wie ein Stück Papier. Die Bäume kahl wie alte Besen und schneeüberzogen. Ein paar Nadelbäume als grüne Flecken in dem weißen Land. Große schneebedeckte Felsen. Werkzeuge des kleinen Pachtgutes liegen umher, die alle aus Holz sind, selbst der Pflug. In der Ferne ist ein Kirchturm zu sehen.«
Wir glaubten schon, er würde uns eine rechte Mordgeschichte erzählen. Doch nein.
»Kinder spielten dort.«
»Aus welchem Lande stammst du?« fragte ihn einer von uns.
»Schneit es denn dort? Bulgarien liegt doch im Süden?«
Er erklärte ihnen, daß auch in südlichen Ländern auf den hohen Bergen Schnee liegt; dann begann er wieder zu erzählen:
»Der Vater stand auf seinen starken Beinen wie auf Pfählen da und sah dem Spiel der Kinder zu. Dann ging er mit großen Schritten weg.
Die Kinder trugen kleine graue oder schwarze Mützen aus Schafwolle – manche neue, manche abgeschabte, die schon ganz kahl waren. Sie riefen einander mit ihren Namen, wie Mentscho oder Netscho oder Dinkscho.«
»Was spielten die Kinder?«
»Das ist es gerade! Sie spielten Dinge, von denen sie gehört hatten, Dinge aus dem Leben.«
»Kinder sind klüger als Erwachsene,« äußerte lehrhaft ein Mann aus Piemont, der französisch sprach. »Sie machen nicht so viele Dummheiten. Nur einen großen Fehler haben sie: was sie lernen, lernen sie von den Erwachsenen.«
Der Bulgare ließ den Piemontesen zu Ende reden und fing wieder an:
»Ein Jahr später spielten sie Krieg; sie stellten die Armeen dar, die Generäle. Sie ahmten die Kanonenschüsse und die Kriegsgerichtsurteile der rohen, schimpfenden Militärs nach.«
»Bist du Schulmeister?« fragte einer den Erzähler.
»Ja. – – Aber inzwischen fand der Krieg mit fremden Ländern ein Ende und damit auch das Kriegspielen. Da spielten sie Polizei. Das ersetzte ihnen das Kriegsspiel vollständig. Man hatte den Kindern von Bravourstücken und blutigen Racheakten der Polizei erzählt, die in den Städten die Häuser durchsuchte und in den Dörfern wie der Würgeengel der Heiligen Schrift hauste. Drei Kriminalbeamte zeichneten sich vor allen anderen aus: Es waren die drei Schuldigen des Kathedralenattentats, Koeb, Zadgorski und Friedmann. Der berüchtigste unter ihnen war Marko Friedmann, ein großer starker Kerl. – Unzählige waren durch die Bombe getötet worden, welche die Helden der Polizei in die Kathedrale geworfen hatten. Das Attentat konnte nicht photographiert werden, aber die Hinrichtung Friedmanns wurde gefilmt. Das war wie ein großes Fest: mehr als fünfzigtausend Menschen sollen ihr beigewohnt haben. Friedmanns fortgesetzte Unschuldsbeteuerungen vor dem Tribunal, alles, was er seit der Verhandlung gesagt hatte, wurde von der Menge eifrig besprochen. Jede seiner Bewegungen bis zur Strangulierung, die sich unter den Augen des bebrillten Staatsanwalts, des Popen, von Gerichtsbeamten, Offizieren, Soldaten und fünfzigtausend ehrenwerten Leuten vollzog, wurde durch die Apparate eifriger Journalisten aufgenommen.
Die Schlußszene wiederholten die Kinder in ihren Spielen. Staatsanwalt, Pope, Henker und die Hauptperson Marko Friedmann waren vorhanden, nur keine Zuschauer. Der den Marko Friedmann machte, war nicht recht zufrieden, er sah düster drein und runzelte die Stirn. Das nahm sich sehr nett aus. Der kleine ›Staatsanwalt‹ ballte seine Hände, preßte seine Lippen aufeinander und zog seine Stirn in Falten. Er hatte sich eine Brille aufgesetzt, um dem wirklichen Staatsanwalt ähnlicher zu sein. ›Marko Friedmann‹ wurde plötzlich sehr unruhig und fing zu schreien an: ›Ich bin unschuldig!‹
›Schweig, du Bandit!‹ fuhr ihn der ›Pope‹ an und stampfte mit dem Fuß. Um seine Beine nicht in dem ungewohnten Popenkittel zu verwickeln, tat er es nicht zu heftig. Den Platz hatten sich die Kinder ausgesucht, weil Geräte dastanden, die sie für den Aufbau des Galgens brauchten.
›Man hänge ihn auf!‹
Sie hielten sich genau an die Bilder, die sie auf Postkarten, in illustrierten Blättern und im Film gesehen hatten. Oben an einem Haken wurde ein Strick befestigt, der dem Delinquenten dann um den Hals geschlungen wurde. Zuletzt bekam er noch einen Sack über den Kopf gezogen und mußte auf einen Tisch steigen. Das Urteil wurde verlesen. Der ›Staatsanwalt‹ nahm es dem ›Gerichtsdiener‹ aus der Hand und begann mit erhobener Stimme und viel Betonung. Seine Stimme bebte bei Erwähnung der Schwere des Verbrechens. Dann hieß es:
›Zieht den Tisch weg!‹
So ergreifend war der Augenblick, daß sogar der ›Staatsanwalt‹ seine Zigarette wegwarf, die er wie ein Alter geraucht hatte. Der kleine ›Marko Friedmann‹ zappelte in der Luft.
Nach einer Weile ließen sie ihn herab. Aber in ihrer Begeisterung und Freude hatten sie nicht auf den armen Jungen am Galgen geachtet. Er war nur noch eine leblose Puppe aus Fleisch und Knochen. Sein Gesicht war unter dem Sack ganz ruhig und weiß geworden – so weiß wie der Schnee ringsum –, daß sie ihn zur Erde fallen ließen und wegliefen.
Der Vater arbeitete irgendwo weit weg vom Dorfe. Es wurde Abend, ehe jemand etwas merkte.«
Der andere Bulgare, der mit dem blauen Halstuch, nahm das Wort:
»Ich kenne die gleiche Geschichte von einem Jungen, der wirklich gehängt wurde, durch dessen Verwandte. Aber sie hat sich anders zugetragen. Es war Juni oder Juli, und es lag kein Schnee. Sie geschah auf einem Feld in der Nähe von Burgas.«
»Das ist nicht wahr!« unterbrach ihn der dritte, der ein schwarzes Halstuch umhatte. »In einer Vorstadt von Pleven fand man einen kleinen Jungen, steif wie ein Stück Holz, den seine Spielkameraden gehängt hatten, um es den Erwachsenen gleichzutun.«
»Aber warum?« fragte einer von uns.
Sie versuchten, eine Erklärung zu geben. Die des ersten schien richtig zu sein, auch die des zweiten. Doch jedem leuchtete die des dritten ein:
Es hatten mehrere Geschehnisse gleicher Art stattgefunden, die alle mit dem Tod eines Jungen endeten. Die gleiche wahre Geschichte wiederholte sich mehrere Male. Sie ist also mehr als wahr. Und ist ebenso wahr, wie die Barbarei, die Bosheit und der Stumpfsinn, die dieses Land wie eine Epidemie verheeren.