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Rother stattete seinen Besuch in dem schwarzen Hause noch am selben Abende ab.
Schon bei seinem Eintritt muthete es ihn seltsam an. In dem langen, schmalen Gemache, welches nur nach der Straßenseite sehr niedrige Fenster hatte, die auch am hellsten Tage kaum das Licht bis in den Hintergrund zu senden vermochten, nahmen sich jetzt am Abend alle Gegenstände so düster und geheimnißvoll aus. In ihrer Einfachheit und ihrem alterthümlichen Zuschnitt trugen sie einen patriarchalischen Charakter, der nicht unangenehm berührte: das alte Ledersopha mit dem mächtigen Tisch davor, der sonderbar geformte Kachelofen, die gewundene siebenarmige Lampe, die von der Decke herabhing, das schwerfällige Uhrgehäuse mit dem bunten Zifferblatt. Dazu paßte die originelle Gestalt des Hausherrn mit seinen grotesken Zügen und der alten Jetta braunes, verwettertes Antlitz.
Auch für das eigenthümliche Kind mit der fast grellen Schwärze von Haar und Brauen war es keine übele Folie. Dennoch mußte Rother an Velden's Urtheil denken, als er das schmale, gelbliche Gesichtchen mit den scharfen Zügen vor sich sah, das zuerst etwas scheu zu ihm aufblickte.
Recht fremdartig nahm sich in dem altväterischen Gemach das neue Instrument aus, das in seinem modernen Glanz so gar nicht dahin zu passen schien und doch den hervorragendsten Platz einnahm. Rother wußte nicht, daß gerade sein Erscheinen die fast dreißigjährige Ordnung umgestoßen hatte. Daniella hatte nämlich, als ihr die Aussicht auf seinen Besuch eröffnet worden, ziemlich gebieterisch für das neue Instrument den besten Platz in Bezug auf Klang und Licht erheischt. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt, obschon Jetta die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen ob solcher Neuerung, und auch Daniel Veitel diesem Eingriff der »Bildung« in sein Reich nur schwer sich gefügt hatte. Seiner Enkelin aber widersprach er fast nie, so durchdrungen war er von dem Wunsche, ihr den Aufenthalt an seinem Herd möglichst behaglich zu machen.
Ein wortreicher Empfang von Seiten des Alten blieb Rother nicht erspart. Auch Jetta konnte nicht unterlassen, ihre Bekanntschaft mit dem jungen Verwandten geltend zu machen. Die gute Alte that das mit etwas steifer Bescheidenheit, die aber weichen mußte vor dem herzlichen Entgegenkommen Rother's, der sichtlich erfreut war, diesen Anknüpfungspunkt zu finden.
Daniella war indessen ziemlich still und zurückhaltend geblieben; die Erinnerung an jenes Straßenerlebniß wirkte bei dem Wiedersehen noch herabstimmend auf die Hauptperson desselben. Sie schien erst aufzuleben, als sie auf des Großvaters Aufforderung, der ihr Licht gern wollte leuchten lassen, und auf Rother's Bitten an ihrem Instrumente Platz nahm. Von dem Augenblicke an aber vermochte Rother kaum mehr zu denken, daß das dasselbe kleine Wesen sei. Sie hatte ein Recht gehabt, in dieser Beziehung siegesgewiß zu sein, so sicher wußte sie schon das Instrument zu beherrschen; ihr Spiel verrieth ein Talent und eine Technik, die weit über ihre Jahre gingen. Ihr Großvater hatte nicht zu viel von ihr gesagt: er hatte wirklich mit ihrer Ausbildung und den theuern Lehrern etwas prunken dürfen.
Zu des Alten Entzücken sprach Rother seine Bewunderung in der lebhaftesten Weise aus; er wußte kaum genug zu rühmen, wie Daniella's Leistungen seine Erwartung überstiegen. »Sie werden hier kaum Jemand finden, der Ihnen noch Unterricht ertheilen könnte,« rief er ganz enthusiastisch.
Daniella nahm anscheinend ganz gleichgültig das gespendete Lob hin; nur bei den letzten Worten Rother's heftete sie ihre Augen mit eigenthümlichem Blick auf ihn; es war wieder jener dunkele Strahl, der ihn an Murillo'sche Augen erinnerte.
Aber auch an ihn kam die Reihe, seine Leistungen zu zeigen, und er ließ sich kaum darum bitten. Der Ton des Instrumentes hatte ihn mit Entzücken erfüllt. Herr Hirsch hatte fürwahr für sein Töchterlein nicht gekargt und etwas ganz Vorzügliches zur Förderung ihrer Bildung ihr geschickt. Rother war überhaupt wenig verwöhnt; in Burghof wie hier hatte ihm nur sehr Mittelmäßiges zu Gebote gestanden. Ein wahrer Durst, wie nur der echte Künstler ihn zu empfinden vermag, lockte ihn, den Anschlag zu prüfen, sich selbst auf diesem Instrumente zu versuchen.
Als er nun vor dem Clavier saß, begeisterten die volltönenden Klänge ihn immer mehr. Wenn er auch in technischer Beziehung noch vieles zu lernen hatte, so war sein Spiel darum nicht weniger reizvoll, da jene Kunst, die das Herz so besonders zu fesseln vermag, die unmittelbar aus dem Geiste des Spielenden hervorgeht, ihm eigen war. Rother hatte in hohem Maße die Gabe freien Phantasirens. In seinem Spiel lag ein Funke schöpferischen Genie's, der selbst dem ungebildeten Ohr verständlich wurde, und Frau von Velden war bedacht gewesen, ihm eine möglichst gründliche und tüchtige Grundlage dafür zu geben.
Wie sehr Veitel und Jetta dem Mädchen zu lieb ihrem Spiel gelauscht und es bewundert hatten, die zierlichen Läufe und ihre verwickelten Lösungen waren ihnen doch nur wie ein krauses Durcheinander erschienen; jetzt aber saßen sie wie gebannt.
Daniella war ganz hingerissen von Rother's Spiel; weit über das Instrument gebeugt, gewannen ihre Augen immer wundersamern Glanz. Rother, angeregt durch die seltsame Umgebung, durch die Bewunderung, die er so sichtlich erregte, entrollte Tongemälde auf Tongemälde; er selbst ahnte nicht, wie licht sein jugendliches Antlitz vor echter Künstlerfreude strahlte. Danielles Auge aber ruhte darauf, und das mochte wohl dazu beitragen, sie alles vergessen zu machen und sie wie in einen Zauberkreis zu versetzen. Die Klänge trugen einen so eigenthümlich ernsten und feierlichen Charakter, daß es sie ganz geheimnißvoll anwehte. Ihre Kenntniß der modernen Musik war keine geringe für ihr Alter; doch was sie jetzt hörte, traf ihr Ohr so fremd, daß sie vergeblich nach Aufschluß dafür suchte. Für Rother hingegen waren es naheliegende Themata. Bei seinem Streben nach musikalischer Ausbildung hatte er früh das Bedürfniß gefühlt, auch der Orgel mächtig zu werden. Die Töne des Instrumentes, das er jetzt spielte, hatten in ihrer vollen und mächtigen Reichhaltigkeit viel Orgelartiges, und unwillkürlich verwebte der Jüngling in seinen freien Vortrag jene Harmonieen, die ihm geläufiger waren als andere Tonschöpfungen. In einem ruhigern Augenblicke würde er sich über sich selbst gewundert haben, daß er gerade hier seinen Phantasieen die feierlichen Klänge der kirchlichen Musik zu Grunde legte, die von seinen Hörern wohl nur Jetta erkannte.
Daniella aber hatte kaum den letzten Ton verrauschen hören, als sie zu ihrem Großvater eilte und sich wie flehend vor ihm niederwarf: »Großvater, sag' du es ihm, sag' es ihm, daß er mich unterrichte. Bei niemand anders hier vermag ich mehr zu lernen, niemand anders kann mich so spielen lehren wie er!« So rief sie fast athemlos, ihr Gesicht in des Großvaters Schooß. bergend, der kaum wußte, was er dem ungestümen Kinde antworten sollte.
»Wie werd' ich sagen können dem Herrn Rother, dir Unterricht zu geben? Wie werd' ich es zumuthen können einem so feinen Herrn?« beschwichtigte vorsichtig Herr Veitel, mit ängstlichem Blick abwechselnd auf das Kind und auf Rother schauend. Betroffen von dem Effect, den sein Spiel gemacht, war dieser noch kaum aus seinem Musikrausch erwacht und hatte des Mädchens Worte nicht verstanden.
»Schick' mich wieder fort von hier, wenn er es nicht will; schick' mich wieder heim, Großvater, fort aus dieser häßlichen alten Stadt!« fuhr sie leidenschaftlich fort. »Ich würde mich hier todt jammern, wenn du mir die eine Freude nicht machen wolltest, die eine Freude, daß er mich die Musik lehrt, wie er sie gelernt hat.«
»Wie soll ich dir machen können die Freude?« meinte Herr Veitel, verlegen vor des Kindes Heftigkeit. »Wie soll ich dir machen können die Freude, Kind meiner Seele, wo es nicht liegt in meiner Kraft? So es ging, wollt' der alte Veitel es reich aufwiegen mit Gold, zu lohnen dem Herrn Rother, wenn er dir den Unterricht geben wollt'. Aber was hilft's mit dem Golde! Der Herr Rother ist selbst ein feiner Herr, der nicht nöthig hat das Geld vom alten Veitel. Der ist viel zu stolz, zu kommen hierher, den Musiklehrer zu spielen, wo er immer lebt mit die vornehme Leut' und umgeht mit Grafen und Barone! Was sollt' bieten der Veitel ihm dafür, oder wie könnt' er ihn bitten um solche Gefälligkeit!«
Rother war das Blut heiß zu den Schläfen gestiegen bei der Rede des alten Juden; jetzt verstand er erst, was das Mädchen gewollt und was der Alte meinte. Des Juden Anspielung auf seinen durch den Umgang mit vornehmen Leuten sich angeeigneten Stolz kränkte ihn fast eben so sehr, wie des Kindes leidenschaftliche Bitte ihn bewegte.
»Warum sollte ich nicht kommen wollen und Fräulein Daniella bei ihrem Spiel in etwa unterstützen?« meinte er einfach. »Warum sollte ich das nicht wollen? Wir sind ja Nachbaren, und ein Sprung führt mich herüber. Ich werde sie freilich wenig lehren können; aber vielleicht kann es uns beiden helfen, wenn wir zusammen etwas Musik treiben.«
»Ich kann alles noch von Ihnen lernen!« rief Daniella, sich aufrichtend, und ihre Augen flammten ihm entgegen. »O, wenn Sie es thun wollten,« bat sie fast flehend, »wenn Sie es thun wollten! Es ist so traurig hier im alten Haus, und ich hab' nichts wie die Musik! Aber sagen Sie nicht ja und vergessen es dann, oder bleiben aus und wollen nicht mehr,« fuhr sie fort; »das wäre noch schlimmer. Lieber sagen Sie nein; dann reise ich gleich ab.«
Rother mußte fast lächeln über die Volubilität, mit der sie sprach, über all' die Emotionen, die ihr dabei über das Gesicht flogen, von der weichsten Bitte bis zum trotzigsten Ausdrucke, wie er nie Aehnliches gesehen. »Aber ich habe ja schon gesagt, es würde sehr leicht gehen,« erklärte er. »Ein Stündchen am Abend habe ich wohl immer übrig, und Musik zu Zweien getrieben gewährt größere Anregung. Es wird uns gegenseitig fördern. Herr Veitel hat meinen Vater ja gekannt; es wird mich freuen, wenn ich ihm einen Gefallen thun kann.«
»O, er will's thun!« jubelte aufspringend das Mädchen; »er will's thun, er will's thun!« Und in toller Freude tanzte sie durch's Zimmer, daß die schwarzen Locken ihr um den Kopf flogen; sie stürmte auf den Großvater zu, ihn umarmend, und fiel dann der alten Jetta um den Hals, die eben mit Wein und Gebäck hereingetreten war und nicht wußte, was dieser Jubel bedeuten sollte. »Und Sie kommen alle Tage, alle Abende um diese Zeit?« rief sie endlich, mit glühenden Wangen vor Rother stehen bleibend, dem ganz eigens zu Muthe ward bei der Aeußerung so wilder Freude.
»Jeden Abend ist viel,« meinte er lächelnd.
»Wie kannst sagen alle Tage?« zürnte der Großvater. »Weiß Gott, wenn der Herr Rother das thun will, wenn er dir widmen will was von seiner kostbaren Zeit, wird's der Veitel ihm Dank wissen sein Leben lang. Mag es der Herr Gott ihm segnen, und mag die Zeit kommen, wo 'mal wieder wäscht eine Hand die andere,« setzte er hinzu, des jungen Mannes Hand ergreifend und sie mit jener Rührung schüttelnd, die beim Alter immer doppelt Ergreifendes hat.
»Die Abende der freien Nachmittage kann ich immer kommen, und ab und zu auch öfter; ich werde meine Geige mitbringen und wir werden Concerte haben können nach unserm Belieben.«
»Also Sie versprechen es wirklich und für ganz sicher, und werden sich nicht abhalten lassen von Ihrem Freunde?« meinte das Mädchen, plötzlich mißtrauisch. »Der Herr, der so groß ist und so streng drein sieht, er wird's nicht wollen!« – Daniella sprach das Mißtrauen aus vollster Seele aus; denn Velden's Blick und Ton hatten ihren Hochmuth empfindlich berührt, und sie hielt es ihm nach, trotz der Hülfe, die er ihr geleistet.
Sie hätte aber keinen geschicktern Schachzug thun können, als diesen Zweifel in die Unabhängigkeit Rothens zu äußern. Man ist wohl nie eifersüchtiger auf seine Selbständigkeit, als in den Jahren, in welchen Rother stand, und sie angezweifelt zu sehen, befestigt dann stets den Entschluß, sie zu behaupten.
»Baron Velden ist mein liebster Freund, aber in unserm Thun und Lassen hindern wir uns gegenseitig nie. Was ich ein Mal verspreche, pflege ich auch zu halten,« sagte er fester und entschiedener, als er gewöhnlich sprach.
Danielles große, dunkele Augen sahen dankend zu ihm auf, und ihre kleine Hand streckte sich ihm langsam entgegen.
Er verstand die Meinung und schlug lächelnd ein. »Also auf gute Künstlergemeinschaft!« sagte er.
»Auf gute Künstlergemeinschaft!« wiederholte sie. »Sie werden ein großer Künstler werden,« setzte sie dann ordentlich feierlich hinzu.
»Ein großer Künstler,« sagte auch Veitel, »so einer, von denen sie in die Zeitungen schreiben, die gefeiert werden schlimmer wie Könige und Kaiser, und das Geld verdienen scheffelweis, mehr in einem Abend, als unser Einer, wenn er sich quält das ganze Jahr.«
Rother lachte lustig über diese Prophezeiung, die seinem Ziele und seinen Gedanken so fern lag.
Der alte Veitel aber schenkte jetzt Wein ein und bat Rother, daß er ihm die Ehre anthun möchte, bei ihm zu trinken. Es war kein schlechter Tropfen, den er seinem Gaste vorsetzte. Rother mußte auch von dem Gebäck essen, das Jetta präsentirte; es dünkte ihm alles von so eigenem, fremdartigem Geschmack, – doch das paßte ja zum Ganzen.
Es war schon spät geworden, als Jetta ihm endlich über den dunkeln Flur hinausleuchtete, nachdem er sein Versprechen, bald wiederzukommen, erneut hatte.
»Nun, ist's gut geworden? Ist's recht so? Nun hast deinen Willen doch wahrlich bekommen,« sagte der Alte zu dem Kinde, das wie träumerisch wieder an dem Instrument saß, nachdem Rother sie verlassen.
»Was für einen Willen?« frug Jetta, die den Tisch abräumte und die vorhergehende Verhandlung nicht gehört hatte.
»Daß der Rother kommen will dem Mädchen Unterricht ertheilen in der Musik,« sagte der alte Veitel. »Er hat gehört, wie schön sie schon spielt, das hat's ihm angethan. Nun, wenn er ist auch jetzt ein feiner Herr, weiß der Veitel doch, wo er von her ist, und daß es nicht zu viel ist, wenn er herüber kommt. Hätte sein Vater sein Lebtag können Abschreiber bleiben, wenn der Graf Asten ihm nicht geholfen, und ißt er doch auch fremder Leute Brod,« setzte der Jude geärgert hinzu, als er Jetta's ungläubige, unzufriedene Miene sah.
»Ich sage ja nicht, daß er zu vornehm dazu sei,« gab die Alte zurück. »Aber wie wird der kommen können zum Unterricht? Wird schön Zeit dafür haben, wo er so viel zu studiren hat und sich mit nächstem schon vorbereiten muß zu dem Stande, den er sich erwählt.«
»Zu was für einem Stande?« frug Daniella.
»Nun, für was sollte er sonst herübergekommen sein und hier studiren auf der lateinischen Schule?« sagte Jetta. »Was soll er anders werden wollen als geistlich, ein Priester unserer Kirche? Und sie sagen, er hätte den rechten Kopf dazu; seine Mutter selig hat's mir schon gesagt, wie er noch ein kleiner Junge war, – so hoch nur. Deshalb helfen ihm die Veldens auch zum Studiren. Hast nicht gehört heut' Abend, wie alles, was er gespielt, geistliche Lieder waren, daß es einen ordentlich erbaute. Wie wird er dabei Zeit haben für andere Dinge!« setzte sie hinzu. Jetta, obgleich sonst das gutherzigste Geschöpf der Welt, und dem Mädchen, dessen Mutter sie noch als Kind gekannt hatte, im Grunde sehr zugethan, schien doch etwas schadenfroh über das enttäuschte Gesicht der Kleinen, der diese Eröffnung als Mißklang in ihre stolze Freude fiel.
Doch Daniella ließ sich nicht so leicht beugen. »Er hat's mir aber versprochen, und mir wird er's halten,« erklärte sie so selbstbewußt, daß Jetta das Wort vom hoffärtigen Kinde unwillkürlich wieder auf die Zunge trat.
Gut aber mochte es gewesen sein, daß Daniella sich das Versprechen so feierlich hatte geben lassen. Als Rother am andern Morgen etwas nüchterner darüber nachdachte, kam ihm selbst der Entschluß ganz eigen vor, und bei Velden stieß er auf mehr Widerstand, als er geglaubt. Dieser sah, wie Jetta, eine Art Herabsetzung darin, erklärte es für eine Künstlergrille, für den barsten Unsinn, und trotz aller Mühe, die Rother sich gab, konnte er ihn mit dem Gedanken nicht aussöhnen.
Aber stichhaltige Gründe konnte er doch nicht dagegen aufbringen, da Daniel Veitel immerhin allgemeine Achtung genoß, sein Haus ein sehr stilles war und Rother's leichte Auffassungsgabe ihm nach Beendigung seiner Arbeiten freie Zeit zur Genüge ließ. Anton's Gutherzigkeit würde sich aber auch dagegen gesträubt haben, sein Wort zu brechen und dem Kinde dadurch Kummer anzuthun.
Den geringen Zwang, der seiner Freiheit damit auferlegt war, wog der Genuß auf, den ihm diese Musik-Abende boten. Der Prüfstein echter Begabung ist die Fähigkeit, das Schöne überall heraus zu finden und Genuß daraus zu ziehen. Für Rother lag ein gewisser poetischer Schimmer auf diesen Stunden; das alte Gemach wurde ihm bald heimisch.
Das Unterrichten einer so befähigten Schülerin verlangte ein tieferes Eingehen in die Kunst, als dies gewöhnlich beim Musik-Unterricht üblich ist. Der scharfe Verstand des Mädchens, womit sie eine gewisse Originalität der Auffassung verband, gab ihr in des Jünglings Augen etwas Räthselhaftes: bald vergaß er, daß sie Kind war, bald freute es ihn, ihrer Frühreife entgegenzutreten.
In dem Interesse für alles, was die Kunst betraf, stimmten die beiden überein; in mancher Beziehung war das Mädchen ihm sogar voraus, da sie durch das Leben in der Residenz, den Unterricht, den sie dort genossen, die Concerte, woran sie ungeachtet ihres jugendlichen Alters schon theilgenommen, manche Gesichtspunkte gewonnen hatte, welche Rother in seinem einfachen Land- und Studentenleben fremd geblieben waren. Ganz begeistert konnte Daniella werden, wenn sie von großen Künstlern und ihrer Laufbahn sprach, von dem Ehrgeiz, der sie anfeuert, dem Ruhm, den sie ernten; sie schien dieses Thema mit besonderer Vorliebe zu wählen, und Rother vermochte nicht anders als wie gefesselt zu lauschen, wenn sie in ihrer prägnanten, lebhaften Weise ihm diese Schilderungen entwarf.
In die Plaudereien wie in die Töne des Instrumentes aber mischte sich stets das leise Schnurren des Spinnrades. Denn mit einer Art von Duenna-Miene behauptete Jetta ihren Platz in dem Zimmer, so lange der junge Mann da war, indeß Daniel Veitel nur ab und zu erschien, um sein Entzücken über »die Künstlers«, wie er sie hartnäckig nannte, auszusprechen.
Jetta aber wurde außer durch ihr Duenna-Amt noch durch anderes in dem Zimmer zurückgehalten. Sie hatte selbst Freude an den Besuchen ihres jungen Verwandten, welcher der Alten stets in seiner gewinnenden Weise entgegenkam und meist nach dem Unterricht ihr noch ein Viertelstündchen widmete, was sie sehr hoch aufnahm.
Vielleicht um ein Gegengewicht zu all' den »Künstler-Anspielungen« zu bieten, die Jetta ein Greuel waren, benutzte sie diese Zeit zu besonders erbaulichen Gesprächen, wohl um Anton daran zu erinnern, was eigentlich seines Amtes sein sollte. Jetta verlangte dann ganz ausführliche Berichte über die kirchlichen Feste und Andachten, welche die altbischöfliche Stadt zur Genüge bot, und mit freundlicher Gefälligkeit ging der junge Mann stets darauf ein. Frau von Velden hatte den beiden Knaben früh einen religiösen Sinn eingeprägt, so daß sie nichts, was auf das Hohe und Heilige Bezug hatte, nüchtern und gleichgültig auffaßten. Jetta konnte daher in dieser Beziehung ganz zufrieden mit Rother sein, und daß sie es war, bewies sie dadurch, daß sie die Fäden des Gespräches unermüdlich fortspann und sich immer von ihm etwas auslegen ließ, wie sie es nannte.
Ob Daniella damit einverstanden, wäre schwer zu sagen gewesen; gewöhnlich kauerte das Mädchen nach beendetem Unterricht vor dem großen Kachelofen nieder, dessen Thüre weit aufsperrend, daß sie Glanz und Gluth des Feuers recht genoß – ein zweifaches Verbrechen in Jetta's Augen, die es »ein ganz unziemlich Gebahren für ein Frauenzimmer« nannte.
Aber Daniella kümmerte sich nicht viel um Jetta's Reden. Rother hingegen sah das Bild gern, welches sie dann darbot vor dem Feuer – Flamme und Gluth waren ja ihr Element. Wenn die grellen Lichter spielend über des Mädchens Antlitz flogen, gewann es wunderbar, besonders da das Kind nach wie vor einen gewissen phantastischen Putz liebte; selten fehlte das feuerige Band im Haar oder irgend ein glänzender Schmuck, wie er zu dem orientalischen Charakter paßt.
Wenn Jetta und Rother im Gespräch solch' für Daniella fremdes Gebiet berührten, verhielt sie sich stets durchaus schweigsam, anscheinend nur in das Spiel der Flamme vertieft; vielleicht horchte sie mehr dem Ton der Stimme, als dem Gegenstande, der behandelt wurde. Aber ein anderes Thema gab es, bei dem der dunkele Kopf sich mit Interesse umwandte, und oft lenkte eine Frage, eine Andeutung ihrerseits das Gespräch in diese Bahn.
Jetta war auch aus Asten gebürtig und hatte, wie das Landvolk dort zumeist, große Verehrung und Anhänglichkeit für die Gutsherrschaft. Wurden auch alle die Fäden, welche sonst den Edelmann mit der Landbevölkerung verbanden, im Laufe der Zeit gelöst, so knüpfen doch das Leben auf der gleichen Scholle, die oft Jahrhunderte alten gemeinsamen Erinnerungen und tausendfältige Beziehungen stets ein neues Band. Schöneres wie Schloß und Park zu Asten gab es in Jettes Augen nicht leicht, und vor dem Mädchen, das oft so ruhmredig mit der Residenz und mit dem Reichthum des Hauses Hirsch prunkte, redete sie vielleicht doppelt gern davon.
Auch Rother war stets lebhaft angeregt, wenn er von Asten reden konnte. Auf dem Schloß hatte er sich stets heimischer gefühlt als bei seinen Großeltern, etwas steife alte Leute, die einst die Verbindung ihrer Tochter mit dem aus viel geringerm Stande stammenden Rother sehr ungern gesehen hatten und auch den Kindern immer eine gewisse Kälte zeigten. In jedem Stande überwinden sich ja solche Eingriffe in die Standesansichten schwer. Dagegen waren Graf Asten, dessen Schwägerin Fräulein Christiane, die nach dem Tode der Gräfin die Hausfrau-Stelle dort versah, Gräfin Helene und Gräfin Henny, der kleine Herbert, ja selbst der alte Diener Ebert alles Gestalten, die mit Rother's Leben verwachsen waren.
Die jungen Mädchen, als im Alter ihm am nächsten, beschäftigten Rother zumeist, da er mit ihnen in den Vacanzzeiten stets alle Spiele und Unterhaltungen getheilt hatte.
Comtesse Helene besonders war für ihn ein unerschöpfliches Thema; ihren Verstand und ihre Bildung hob er stets hervor, auf ihr Urtheil bezog er sich, und von der Liebenswürdigkeit und der Herzensgüte, mit der sie sich der Armen und Leidenden des Dorfes annahm, wußte er viel zu erzählen, oft auf Jetta's besondere Veranlassung, die dann, ganz gerührt, ähnlicher Züge ihrer Mutter gedachte.
Daniella gewann so allmälig eine ziemlich genaue Kenntniß von dem Leben und Treiben der Bewohner zu Asten – ein ihr vollkommen fremdes Bild im ganzen Thun und Lassen, in allem Denken und Trachten. In verhältnißmäßig engem Cirkel sich bewegend, wie das Landleben ihn bietet, wurde man doch den Ansprüchen der Welt und allem geistig Fördernden dort vollkommen gerecht. Der Grundton des Hauses wie der der Erziehung beruhte auf den Anschauungen, die ernster Glaube und warme religiöse Auffassung in's Herz legen. Daniella staunte oft über das, was Rother erzählte; es lag ein großer Reiz für sie darin, von der Art und Weise eines so vornehmen Hauses zu hören. Freilich war dabei die kindliche Neugier wohl die Haupttriebfeder. Zu erfahren, was die Comtessen thaten, wie sie sich kleideten, war ihr besonders interessant, so daß Rother mit seiner Kenntniß der Damen-Toiletten oft nicht ausreichte, um ihr erschöpfend zu antworten. Dann lächelte er, wie damals, wo Danielles erste Frage ihrem Hut und Muff gegolten hatte. Ungeachtet dieser echt weiblichen Neugier aber brach sie oft auch ungeduldig ab, wenn sie ihn so ganz von Astener Erinnerungen eingenommen sah, wenn sie bemerkte, daß alles dort ihm von solcher Wichtigkeit dünkte. Ein etwas schnödes Wort ihrerseits machte dann der Unterhaltung wohl ein plötzliches Ende.
Schwer verzieh sie ihm, daß er eines Tages sehr spät gekommen und hastig wieder davon geeilt war, »weil die Comtessen in der Stadt,« und er gar nicht bemerkt hatte, wie sehr sie darüber schmollte. Von da an frug sie nicht mehr nach den Astens.
So war der Winter ziemlich gleichförmig zu Ende gegangen. Was Daniella eigentlich trieb außer ihrer Musik, wäre schwer zu sagen gewesen; auf weitern Unterricht hatte sie nicht mehr gedrungen, und nur gelegentlich, nach Neigung und Laune, beschäftigte sie sich mit Büchern über Gegenstände, auf die irgend ein Wort oder eine Anregung von Rother sie hingewiesen. Ueber den Aufenthalt in der kleinen Stadt klagte sie nicht mehr, und Jetta mußte anerkennen, wie leicht das Mädchen sich in das stille, einfache Leben im Hause ihres Großvaters gefunden, scheinbar nach nichts weiter verlangend.
Jetta wußte nicht, daß bis zum völligen Erwachsen jeglicher Luxus dem Menschen überhaupt so leicht entbehrlich, den Kindern meist mehr hinderlich als erfreulich ist. Die häuslichen Arbeiten, die sich vor Daniella abwickelten, ohne sie selbst zu belästigen, erfreuten sie mehr als die langweilige Einsamkeit, die im Hause ihres Vaters unter einer gleichgültigen Dienerschaft ihr Theil war.
Eine kleine Episode jener Zeit kennzeichnete sie in ihrer ganzen Art und Weise.
Rother hatte seit jenem ersten Abend nie mehr kirchliche Musik in Daniel Veitel's Haus vorgetragen. Daniella hatte nie danach gefragt, obschon die Erinnerung daran ihr geblieben. Jenes Wort, das Jetta daran geknüpft, hatte ihr die Sache verleidet. Dagegen äußerte sie plötzlich einen Wunsch, welcher der guten Alten einen wahren Graus einflößte. In Jetta's Gesprächen mit Rother spielte seit einiger Zeit ein kirchliches Fest eine große Rolle. Ein älterer Freund Rother's, der Sohn einer mit Jetta befreundeten Familie, war in den geistlichen Stand getreten und sollte in der nächsten Zeit zum ersten Mal das heilige Opfer darbringen: ein Tag, der dem Priester wie dessen Familie immer ein hoher Freuden- und Ehrentag ist. Jetta hatte nicht ermangelt, das stets zu betonen und geflissentlich einfließen lassen, wie sie sich freuen werde, auch bei Rother den schönen Tag zu erleben.
Rother, dessen schöne Stimme und musikalische Fertigkeit oft in Anspruch genommen wurde, sollte bei der Feier mitwirken, den Gesang vorzugsweise leiten. Danielles Wunsch und Willen war nun, der Feier beizuwohnen.
Die gute Alte mochte bei ihren frommen Gesprächen mit Rother manchmal den Gedanken genährt haben, daß ein Körnlein davon in des Kindes Herz sich senken möge, obwohl Daniella stets die äußerste Gleichgültigkeit verrieth. Die Anwesenheit des Judenkindes gerade bei dieser Feier aber wollte ihr gar nicht in den Sinn. Es sollte nur ein kleiner Kreis von Bekannten und Verwandten anwesend sein, und Jetta fühlte sich durchaus nicht stichfest gegen all' die fragenden Blicke, die sich auf sie richten würden: der Ungebildete hat solche Scheu vor etwas Ungewöhnlichem, tritt so ungern der Sitte, dem Gewohnten entgegen.
Jetta hatte zuerst, wie jeder, welcher Nein sagen will, hundert Gründe dagegen gehabt. Gab es doch so viele andere gemeinsame kirchliche Feierlichkeiten, bei denen viel mehr zu sehen, die Kirchen viel schöner geschmückt waren! Aber Daniella schüttelte zu allem den Kopf. Gerade diese Feier wünschte sie mitzumachen. Sie schwieg zwar, aber das Schweigen war der Alten so unheimlich; sie konnte nicht aus dem Mädchen klug werden, wenn es so plötzlich abbrach und die trotzigen Augen doch genugsam sagten, daß es sein Vorhaben nicht aufgegeben habe.
Der Vorabend des Festes war gekommen. Es war still an dem Abend in Veitel's Stube: nicht allein die Musik, auch Jetta's Spinnrad feierte; die Alte hatte sich ganz ungewöhnlicher Weise an den Tisch gesetzt, mit einer Arbeit beschäftigt, die ihr viel Kopfzerbrechen zu machen schien. Sie mochte darüber wohl des Mädchens Bitte betreffs der morgigen Feier vergessen haben; jedenfalls mußte sie in nicht sehr nachgiebiger Stimmung sein, denn die Falten ihres Antlitzes schienen verdoppelt, wie sie sich so stumm und schweigsam über die Arbeit beugte.
Daniella saß an ihrem gewohnten Platz am Feuer und beobachtete die Alte, indeß ein ironisches Lächeln sich dann und wann über ihre Lippen stahl.
»Nun, Jetta,« meinte sie endlich, »wie ist es? Nimmst du mich morgen mit zu der Feier, wovon ihr so viel geredet? Oder darfst du kein Judenkind mitbringen?« setzte sie spitz hinzu. »Werden wir gesteinigt, wie ehemals, wenn wir über das Judengitter hinausgehen?« fuhr sie fort, in der bewußten Absicht, die Alte aus ihrer Ruhe aufzustacheln, die vor dem aufreizenden Wort nicht Stand halten würde. Aber die Alte antwortete nicht; sie war entweder in ihre Arbeit ganz vertieft, oder die Frage war ihr zu peinlich, daß sie so hartnäckig schwieg. Doch Daniella's Geduld war nicht von langer Dauer. »So antworte doch!« rief sie nach einer kleinen Pause ziemlich heftig. »Wenn der Rother hier ist, kannst du gut genug reden, und jetzt thust du schon seit einer Stunde den Mund nicht auf.«
»Jes', Maria, Joseph! was ein ungeduldig Kind,« sprudelte die Alte. »Kann man reden, wenn man den Mund voll Nadeln hat? Als ob du nicht recht gut wüßtest, und dir der Rother nicht auseinandergesetzt hätt', was es ist mit den Gittern da draußen, daß du solch' Zeug sprichst. Warum machst mir den Kopf warm und willst grad' morgen dahin gehen? Ist mir so schon kraus genug zu Sinn von all' dem Plunder.« Erzürnt schob sie die Spitzen und Bänder zurück, die der Anlaß ihrer Sorge waren. »Nu, sei nicht bös, Kind,« setzte sie gutherzig hinzu, als habe sie schon zu viel gesagt.
»Als ob ich nicht wüßte, Jetta, was dich so unwirsch macht!« rief Daniella, lachend auf sie zuspringend. »Hab' ich es dir nicht längst angesehen? … Deine geliebte Putz-Dörthe hat deine Prachthaube zurückgeschickt, ohne sie fertig gemacht zu haben.«
»Fertig gemacht!« eiferte die Alte wieder; »in Stücken hat sie mir sie zurückgeschickt, wie ich vor vierzehn Tagen sie ihr hingetragen, und erst heute, – das nichtsnutzige Ding!«
»Gib sie einer andern,« meinte Daniella tröstend.
»Daß die mir ein so neumodisch Ding aufbauen sollte? Gott soll mich bewahren. Jetzt, wo es schon so spät ist, hab' ich's selbst versuchen wollen – hab' mich aber mein Lebtag nicht für's Putzmachen ausgegeben. Nun können wir uns nur beide getrösten, daheim zu bleiben,« schloß sie rachsüchtig.
»Aber, Jes', Maria! was machst du, Kind? Schneid' mir nichts entzwei!« rief sie gleich wieder, als sie sah, wie Daniella kaltblütig das mühsam begonnene Machwerk mit der Scheere auflöste.
»Weißt du was?« schlug das Mädchen ihr ruhig vor, trotz Jetta's Ausruf in ihrem Zerstörungswerk fortfahrend, »laß mich dir die Haube aufmachen: dann gehen wir morgen beide hin. Willst du?«
»Jes', Maria! was ein eingebildt' Ding!« rief die Alte. »Du und so eine Haube aufbauen, du, die kaum jemals eine Nadel zur Hand nimmt und die Händ' so viel müßig in den Schooß legt, wie es ein rechtschaffen Frauenzimmer nie thun sollte! – Da auf dem Clavier magst was können, über so was …«
»Ich kann, was ich will,« gab Daniella kaltblütig zurück, indeß ihre Finger schon wie spielend eine Schleife schlangen, die gegen Jetta's schwerfällige Versuche sichtlich abstach und der Alten augenscheinlich zu denken gab. »Ich kann, was ich will. Und nun, wie ist's?« fuhr das Mädchen fort. »Läßt du mich deine Haube aufbauen und nimmst mich morgen mit, wo ich den Herrn Rother will singen hören oder nicht?« Dabei machte sie eine Bewegung, als ob sie sich in ihren Ofenwinkel zurückziehen wolle.
»Meinethalben, mir soll's recht sein,« brummte die Alte, der in ihrer Verlegenheit die Sache doch des Versuches werth schien. »Wirst was Schönes zu Stande bringen, du,« meinte sie aufstehend und das Zimmer verlassend, als halte sie es unter ihrer Würde, mit einem andern Worte ihre Zusage zu geben, indeß Daniella anscheinend mit der alten Ruhe den Platz am Tische einnahm. Aber wenn Jetta auch hinausgegangen, sie vermochte doch ihre Neugier nicht zu bezähmen und sah über ein Kurzes wieder nach dem Mädchen.
Die sonst immer müßigen Hände waren jetzt so eifrig beschäftigt, als seien sie kaum andere Arbeit gewohnt. Des Mädchens Wangen glühten von dem ungewohnten Eifer, die schwarzen Locken fielen tief über die Stirne herab, und zwischen den dunkeln Brauen stand ein Zug fester Entschlossenheit.
»Wenn das kein Hexenmädel ist!« brummte die Alte, die Thüre sachte wieder zuziehend, und sie machte sich in der Küche so eifrig zu thun, als fürchte sie ordentlich, wieder hinein zu schauen.
Nicht allzu lange nachher aber hörte sie Daniella's Schritte aus dem Wohngemach kommen. »Sie wird es nicht fertig gebracht haben,« dachte die Alte grimmig und wußte kaum, ob es ihr lieb oder leid sei; doch da zogen schon zwei Hände neckend ihr das Kopftuch ab, und ein mächtiges Gebäude von Band und Spitzen ward ihr aufgestülpt.
»Jes', Maria, Joseph!« Die Alte wußte nicht, wie ihr geschah: wirklich und leibhaftig thronte das große Werk auf ihrem Scheitel. Die Kleine stand vor ihr und zupfte und bog noch daran herum mit wahrer Kennermiene, als ob sie ihr Lebtag nur dem Putzmachen obgelegen.
Jetta fand erst ihren Redestrom wieder, als sie drinnen vor dem Spiegel sich bewundern konnte. »Wie hast du das fertig gebracht, wie hast du das gekonnt?«
»Sagte ich dir nicht: ich kann, was ich will – und ich thu' auch, was ich will,« meinte Daniella, schon wieder müßig in ihrer Ofenecke kauernd. Etwas seltsam Schneidendes lag in der Stimme des Mädchens, so daß die Alte fast erschrocken sich umwandte.
»Jes', Maria! sag' das nicht, Kind, – kein Mensch soll das sagen in seinem Uebermuth: das straft Gott.«
»Aber ohne das wären wir morgen beide nicht hingegangen, und nun gehen wir doch,« meinte Daniella dagegen, worüber die Alte den Kopf schüttelte und erklärte, das sei eine Gesinnung, die zu keinem christlichen Gottesdienst passe.
Am andern Morgen suchte die Alte vergeblich in des Mädchens Zügen die Gesinnung zu erforschen, die sie dem Gottesdienst entgegentrug. Aeußerlich erschien sie vollkommen kalt, und es wäre schwer zu errathen gewesen, was für einen Eindruck das Gotteshaus mit seinem Schmuck, die Orgel mit ihrem brausenden Klang, die Ceremonien mit ihrer erhabenen Einfachheit auf sie hervorbringen würden. Auch während des Gottesdienstes zeigte sie keine Bewegung, obschon ihre Augen gespannt der Handlung folgten.
Etwas Hochzeitliches liegt in der Feier eines ersten heiligen Meßopfers, vom Kranz, der den Neugeweihten schmückt, bis zu den weißgekleideten Kindern, die ihn, einem Bräutigam gleich, zum Altare führen. Alles weist darauf hin, wie er sich der Kirche vermählt.
Daniella's orientalisches Blut gab ihr Empfänglichkeit und Verständniß für die hohe Bildersprache des katholischen Gottesdienstes, welche der neue Bund mit dem alten teilt, und auch das gänzliche Uebergehen und Aufgehen des Priesters in seinem heiligen Amte wurde ihr klar. Aber es war eigen und mochte wohl eine Folge von Jettes frühern Reden sein: obschon der Priester am Altare in nichts Rother glich, konnte Daniella sich der Vorstellung nicht erwehren, als sehe sie ihn dort, so daß es sie unheimlich bedrückte.
Ordentlich erleichternd wirkte es auf sie, als Rother's Stimme aus dem Gesange sich löste, der die Handlung begleitete, bald ernst erhebend, bald voll Jubel preisend. Keine andere Musik gibt es neben der kirchlichen, wo Wort und Ton so in einander fließen, der Ton gewissermaßen dem Sinn des Wortes entspringt, sich demselben unterordnet, um ihn dann erst zur rechten Klarheit zu bringen, – das macht sie so sehr ergreifend.
Von all' den Gesängen brachte gerade der einfachste auf Daniella den größten Eindruck hervor. War es um deswillen, was ihm vorherging, lag der Grund vielleicht eben in seiner unsäglichen Einfachheit, oder war es, daß sie sich entsann, wie Rother an jenem ersten Abend gerade diese Töne in seine Phantasieen verwebt hatte?
Rother hatte an den Stufen des Altares seinen Platz, und mit den assistirenden Priestern intonirte er den Gesang, den Daniella in ihrer Kunstsprache ein Recitativ würde genannt haben. In wenig Tönen bewegte er sich nur, in dreifach ergreifendem Ausdruck sich steigernd. Rother's Haupt neigte sich tief dabei: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa! hallte es in mystischen Worten deutlich durch den weiten Kirchenraum, um dann recitativartig zu schließen.
Ein eigentümlich banges, fast widerstrebendes Gefühl erfaßte das Mädchen, so sehr war es von der Macht des Gesanges ergriffen.
Ein leiser Schauer durchbebte sie, als sie dann alle zu dem heiligen Mahle hinzutreten sah und sie fast allein fremd und verlassen zurückblieb.
Im Grunde war sie froh, als der Gottesdienst beendet war und sie das Gotteshaus verlassen durfte. Aber die Worte wollten ihr nicht aus dem Sinn, die Klänge hallten in ihr wider. Sie glaubte, Rother's Stimme habe nie so ergreifend geklungen.
Als sie daheim wieder angekommen war, konnte sie sich nicht enthalten, Jetta's Gebetbücher durchzustöbern, um wo möglich Aufschluß über die Worte zu erhalten – aber sie vermochte sich nicht darin zurecht zu finden. Besser gelang es ihr später, die Töne auf dem Clavier wiederzugeben.
Rother überraschte sie noch bei dem Versuche. Er hatte sie in der Kirche erkannt und war erstaunt und erfreut gewesen, sie dort zu sehen. Nun kam er, zu hören, welchen Eindruck sie davon getragen, und es war ihm wohlthuend, sie noch damit beschäftigt zu finden.
Daniella empfand ein Gefühl der Erleichterung, als sie den Freund in seiner gewöhnlichen Erscheinung vor sich stehen sah; er war ihr in der Kirche so mit dem Priester identificirt erschienen, als habe er schon selbst den gleichen Schritt gethan. Ihre erste Frage war natürlich nach dem Sinn jener Worte seines Gesanges. Rother staunte, daß gerade diese Stelle am nachwirkendsten gewesen. Auch auf ihn, sagte er, übe sie stets eine gewaltige Macht, schon durch ihren Inhalt.
Rother war sehr angeregt durch die Feier; er trug noch das Verständniß in seiner Seele, wie es so lebendig in uns ist, wenn wir inmitten der Unterrichtsjahre stehen, und jene Begeisterung uns erfüllt, die den Frühling des Lebens als schöne Zugabe begleitet.
Die sprechenden Augen des Mädchens auf sich gerichtet fühlend, gab er die Erklärung jener Worte feueriger, eingehender, als er sonst wohl gethan haben würde, fast vergessend, wie weit das Verständniß seiner Zuhörerin dafür reichte.
»Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!« Dies Bekenntniß der Schuld, welches das Geschöpf seinem Schöpfer ablegt, diesen Inbegriff der demüthigen Unterwerfung, nannte Rother den Schlüssel aller Gottesverehrung, alles christlichen Gottesdienstes. Das Bekenntniß der Schuld, die Erkenntniß menschlicher Ohnmacht zur Sühne und die Anrufung der göttlichen Gnade, sagte er, sei die Vorstufe jeder Anbetung, der erste Act des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Denn nur Dem, den man als höchsten Richter gläubig erkenne, bekenne man; nur auf Den man hoffe, an Den wende man sich um Barmherzigkeit; und allein wer Ihn liebe, vermöge Reue zu fassen, nachdem er die Schuld erkannt, – die Schuld, die das menschliche Ich nur so ungern zugesteht, die überhaupt nur besteht, wenn man ein Verhältniß der Unterordnung einem Höhern gegenüber annimmt. Deshalb beginne auch die Kirche fast jede gottesdienstliche Handlung mit diesem Akt. Jene Anrufung der Heiligen, die sich an das Schuldbekenntniß schließt, erklärte er, sei das schöne Band der Liebe, das durch das Mittel der Verdemüthigung Himmel und Erde verbinde.
Rother sprach mit Innigkeit und Feuer, wie es in Wahrheit der tiefste Grundton seiner Seele war.
Die Augen aber, die anfangs mit so viel Spannung auf ihm geruht, verfinsterten sich allmälig. »Ich mag diese Worte nicht, ich mag diese Auslegung nicht!« unterbrach ihn Daniella plötzlich in ihrer leidenschaftlichen Weise. Doch, als fühle sie ihre Unfähigkeit, sich näher zu erklären, wandte sie sich im selben Augenblicke ab.
Rother begriff nicht, was in seinen Worten sie könne verletzt oder beleidigt haben – vergebens versuchte er ihr mehr zu entlocken, vergebens die Ursache zu erforschen.
Ihr fast störrisches Schweigen verletzte ihn, da er nur eine Laune darin sah; er war noch zu jung, um in ihrem launenhaften Schmollen einen Reiz zu finden.
Erst als er aufstand, das Zimmer zu verlassen, gab das ungestüme Kind plötzlich nach.
»Ich kann nicht dafür, daß ich nicht zu denken vermag wie Sie. Dies Schuldbekenntniß finde ich häßlich; es klingt so feig für einen Mann!« rief sie mit blitzenden Augen. »Ich mag nie mehr sehen, daß Sie Ihren Kopf so beugen vor all' den Menschen.«
Daniella hatte echt weiblich seine Worte nur persönlich aufgefaßt. Rother mußte unwillkürlich lächeln, trotz ihrer Heftigkeit. Aber etwas in der Offenheit, mit der sie sprach, heimelte ihn an; ein wenig schmeichelte es ihm, daß sie für seinen Mannesstolz so lebhaft eintrat. Vertraulich, wie es dem Kinde gegenüber auch am Platze war, zog er sie an sich heran, sie zu beschwichtigen und ihr seine Erklärung deutlicher zu machen.
Aber Daniella schien kaum darauf zu hören; ihre Augen blieben trotzig zu Boden gesenkt.
»Wollen Sie auch Priester werden?« frug sie plötzlich, den Blick fest und forschend auf ihn gerichtet.
Rother hatte ihre Hand erfaßt, als er mit ihr sprach, – unwillkürlich ließ er sie jetzt los, glühende Röthe bedeckte sein Antlitz. Er wußte selbst nicht, warum, – er stockte bei der Frage, die er früher sich selbst so oft beantwortet, für die er aber in diesem Augenblick kein entscheidendes Wort zu finden wußte.
Aber Daniella kam ihm zuvor, ehe er sich noch gefaßt. »Sie brauchen gar nicht zu antworten,« sagte sie ganz ruhig; »ich meinte es nur, weil Jetta so oft davon redet, und weil Sie stets alles zu erklären wissen. Aber die Worte mag ich doch nicht! Daß ich Schuld habe, werde ich nicht sagen, wenn Sie mir auch bös werden. Aber wenn ich größer bin, werde ich über all' das, was Sie sagten, noch mehr lesen,« fügte sie einlenkend bei, »und dann kann ich darüber urtheilen.« Das kam so eigenthümlich selbstbewußt aus ihrem Munde. »Aber bös sind Sie mir doch nicht?«
»Bös,« das klang kindlich, und er konnte ihr nur sagen, wie er dazu gar keinen Grund habe. Aber es ward ihm doch beinahe unheimlich bei diesen raschen Uebergängen, den dunkeln Augen gegenüber, die bald so heiß und bald so kalt blicken konnten. Er war unzufrieden mit sich, so viel und doch vielleicht nicht das Rechte gesagt zu haben.
Daniella blieb noch lange allein nach Rother's Fortgang. Der Großvater saß die ganze Zeit über auf dem Comptoir. Jetta kam erst spät, als es schon dunkelte, von dem Fest zurück und konnte nicht genug erzählen von dem materiellen Theile der Feier: dem Essen, Nachmittags-Kaffee und all' den Kuchen und Torten.
»Jetta, dürfen euere Priester wirklich niemals heirathen?« frug das Mädchen ziemlich rücksichtslos dazwischen.
»Nein, was das Kind für Gedanken hat! Ein Priester und heirathen! Nicht mal denken soll er an ein Frauenzimmer in der Weise.«
Aber Daniella umschlang schon Jetta's Hals, sehr zum Schaden der Prachthaube, die in bedenkliches Schwanken gerieth. »Dein Rother wird aber doch kein Priester!« raunte sie der Alten in's Ohr, welche meinte, eine kleine Schlange zische ihr das zu.
»Was geht's dich an und was weißt du davon?« zürnte die Alte. »Wie der Herrgott es fügt, wird's kommen. Als ob er schon dazu gehöre, sah er aus diesen Morgen, wie er das Confiteor sang, so schön wie ein Engel.«
Dies Mal aber war es Daniella, die kopfschüttelnd aus dem Zimmer sprang.