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Während Henny's harmlose kleine Liebesgeschichte zu Asten spielte, Helene in thätiger Arbeit ihre Geistesruhe wieder zu erringen suchte, und Daniella's kühner Wille die Fäden des Geschicks, das sie regieren wollte, doch weniger geschmeidig fand, wie sie gedacht, waren der Staaten Loose gezogen – ein blutiger, wenn auch kurzer Krieg hatte indessen ein Stück Weltgeschichte gewebt.
Durch die mächtige Erschütterung waren Verhältnisse zu Grunde gegangen, die man bisher für unantastbar gehalten, und neue Verhältnisse geschaffen, die man kaum von der fernsten Zukunft zu hoffen gewagt hatte. So weit die deutsche Zunge klang, war keine Stadt, kein Haus, keine Familie, wo diese jähe Umwälzung nicht fühlbar geworden, wo nicht die gewaltsamen Ereignisse in herben Tönen anklangen und in schneidender Weise gegen hergebrachte Meinungen und festgewurzelte Auffassungen sich richteten. Glücklich bewahrt vor allem Zwiespalt blieb nur der Krieger, dem die Lorbeeren der großen Thaten zugefallen waren.
Hermann Velden war jung genug, um in männlicher Thatkraft sich glücklich zu preisen, daß auch er seinen Antheil daran gewonnen, wenngleich er jetzt in einem kleinen Grenzorte, umgeben von der Verwüstung, welche die häßliche Seuche schuf, die Waffenruhe abzuwarten hatte. Als einziger Offizier der Abtheilung, die er befehligte, lag ihm die Sorge für die Kranken ob und er kam ihr mit jener Aufopferung nach, wie ein warmes Herz sie eingibt, weit über das Pflichtgebot hinaus. Dennoch waren es einsame und verhältnißmäßig auch ruhige Tage im Gegensatz zu den vorhergegangenen, die ersten, welche die Gedanken wieder zu den persönlichen Angelegenheiten zurückkehren ließen; bisher waren diese ganz in den Hintergrund getreten.
Die Erinnerung an jene Abschiedsstunde zu Asten war nicht verwischt; doch die Zeit, besonders eine so ereignißvolle Zeit hat viel Beschwichtigendes und mildert unmerklich die grellen Farben, in denen zuerst ein unliebsames Ereigniß sich einprägt. Die Entstehung jener letzten kleinen Scene vermochte er sich kaum mehr klar zurückzurufen. Seiner eigenen Aufregung maß er jetzt einen großen Theil der Schuld bei. Der Mutter Briefe hatten viel dazu beigetragen, Helenens Benehmen in milderes Licht zu setzen.
In dem Gefühl, daß sie dem Freunde Unrecht gethan, hatte Helene sich nach seiner Entfernung besonders liebevoll gegen Frau von Velden gezeigt, und dem mütterlichen Herzen war es nicht zu verargen, daß es die Freundlichkeit wie die gedrückte Stimmung des jungen Mädchens während der nächsten Tage auf den Sohn bezog. Sie konnte sich natürlich nicht versagen, ihm den kleinen Trost zukommen zu lassen, wenn sie auch nur ganz zarte Andeutungen gab. Anfangs wollte Hermann sich dadurch nicht beirren lassen; aber allmälig machte ihre Ansicht doch Eindruck. Die Liebe ist ja ohnehin ein Kräutchen, das stets gleich wieder üppig emporschießt, sobald nur der kleinste Hoffnungsstrahl es trifft.
Velden begann daher die Zeit bis zu seiner Rückkehr lang zu finden: – ein Wiedersehen, eine persönliche Anwesenheit konnte ja vielleicht die letzten Schatten verscheuchen.
An einem regnerischen, trüben Herbsttage, wie es deren in jenem Jahre so ungewöhnlich viele gab, saß Velden nach Beendigung seiner dienstlichen Geschäfte etwas trübselig in seinem wenig anlockenden Quartier. In einer veralteten Zeitung spähte er sehnsüchtig nach Nachrichten über den Termin des Rückmarsches, als ein Besuch ihm gemeldet ward und gleich darauf Holdern vor ihm stand.
Velden hatte freilich daheim an Holdern wenig Geschmack gefunden und die letzte Begegnung mit ihm war mit einer höchst unangenehmen Erinnerung verknüpft. Aber wenn in der Ferne auf rauhem Kriegspfade ein Gesicht aus der Heimath unerwartet auftaucht, schlägt das Herz ihm warm entgegen – wäre es selbst das Gesicht eines Feindes.
Der Ruf der Ueberraschung, mit welchem Velden den Baron begrüßte, hatte daher etwas Freudiges, und herzlicher, als er es je für möglich gehalten, bot er dem Ankommenden die Hand. Sein Gesicht klärte sich vollständig auf, als Holdern erzählte, er komme eben von Bornstadt und bringe die frischesten Neuigkeiten aus der dortigen Gegend. Velden hatte bei dem Vorrücken in kleinen Etappen die letzten Posten verfehlt; er war dadurch seit langer Zeit ohne Brief und gespannt auf Nachrichten aus der Heimath.
Holdern theilte seine Neuigkeiten nie in rascher Folge mit; gleichsam nur abgerungen gab er sie einzeln, wie jemand, der selbst zu wenig Interesse hat, um bei andern eine wärmere Theilnahme voraussetzen zu können. Henny's Verlobung mit Baron Werthern war das erste, was er meldete und wodurch er Hermann in das grenzenloseste Erstaunen versetzte. Bei seinem warmen Gefühl für die Familie Asten, mit der er sich ganz eins fühlte, wurde er dadurch so erregt, wie es seinem sonst gemessenen Wesen kaum entsprach.
Er durchmaß mit großen Schritten den Raum, seinem Staunen Luft machend und nach allen Einzelheiten fragend. Anfänglich überhörte er die Randglossen, welche Holdern seiner Neuigkeit beifügte. Aber derselbe wußte mit seinem spöttischen Lächeln das Alter des glücklichen Bräutigams hervorzuheben und seine Bemerkung, daß das Plus des Vermögens das Plus der Jahre decken müsse, klang scharf. Auf das lebhafteste bedauerte er Henny, die dem Stolz und den Ansprüchen des Vaters geopfert wurde und bei ihrer Unerfahrenheit und ihrem Gehorsam des Papa's langgehegten Wünschen sich natürlich nicht zu widersetzen wagte.
Velden stutzte; er hatte bis jetzt einfach der großen Vorliebe gedacht, die Henny von Kindheit an für Baron Werthern gehabt. Aber freilich – der Unterschied der Jahre war ein sehr großer. Jung, wie Hermann selbst war, kam ihm derselbe noch gewaltiger vor. Allmälig vermochte er die ungleiche Verbindung kaum mehr zu begreifen und wunderte sich, wie sein Vormund die Einwilligung dazu hatte geben können; er war nicht abgeneigt, in Holdern's Urtheil einzustimmen: diese Verbindung müsse von dem Grafen lange geplant gewesen fein.
Die zweite Neuigkeit: Helenens Aufenthalt bei den Schwestern in Bornstadt, trug Holdern auch in seiner Weise vor und sie gewann eben nicht bei der Beleuchtung. Sie regte Velden noch mehr auf; seine Selbstbeherrschung aber gewann dabei die Oberhand. Gerade vor Holdern hätte er sich nicht verrathen mögen. Absichtlich ließ er dessen spöttisch-skeptische Bemerkungen über den Aufopferungs-Fanatismus der jungen Dame unbeantwortet, und alle Anspielungen, daß dies wohl der erste Act zu fernerer Entsagung sei, nahm er äußerlich ruhig hin. Es gelang ihm sogar, anscheinend unbefangen zu lächeln, als Holdern ihm versicherte, bei seiner Rückkunft werde er Gelegenheit finden, das rührende Wort anzuwenden: »Die du suchest, nahm den Schleier.« Sehr unangenehm aber berührte es ihn, daß Holdern einen geheimnißvollen Beweggrund dabei anzudeuten schien. Ueber den angeblichen Klosterberuf Helenens vermochte Hermann sich in dem Augenblicke keine klare Vorstellung zu bilden; er zitterte vor dieser Möglichkeit, und hätte sich doch nur so ihren Entschluß erklären mögen. Der einzige Trost war ihm, daß Holdern anscheinend so unbefangen über Helene sprach; doch konnte das auch nur Maske sein. Schon um von diesem Thema abzulenken – Velden mochte nicht Helene von Holdern discutirt hören –, hatte Hermann's nächste Frage Rother gegolten, der als sehr schlechter Correspondent sich erwiesen. Im Gegensatz zu Velden's knappen aber pünktlichen Mittheilungen verwickelte er sich in lange Episteln oder sandte gar keine Briefe; in den letzten Wochen waren sie wieder ausgeblieben. Das Lächeln, welches Holderes Züge oft so unheimlich erhellte, zuckte auch jetzt wieder darüber hin. Er versicherte, daß er es sehr natürlich finde, wenn Rother eben jetzt keine Zeit zur Correspondenz habe, da der geistige Einfluß, den er auf eine schöne und geistvolle Dame auszuüben sich bemühe, – was vielleicht auch vice versa der Fall sei – ihn gewiß ganz in Anspruch nehme.
Von Danielles erneutem Aufenthalt in Bornstadt hatte Velden bisher nichts gehört; er mußte sich daher erst berichten lassen, seit wie lange sie dort weile. Die Nachricht war ihm im höchsten Maße unangenehm, da Rother's Schweigen dadurch Bedeutung erhielt. Die Verbindung mit »diesen Leuten« konnte er dem Freunde noch immer nicht verzeihen. Tief verletzt im Sinne seines Freundes fühlte er sich von Holdern's fernerer Bemerkung, daß ein so schöner Mann wie Rother einer begeisterten Dame, wie Fräulein Daniella sei, wohl etwas Taufwasser werth sein werde, wogegen Millionen seinen apostolischen Eifer lohnen könnten. Er würde gern eine kräftige Antwort darauf ertheilt haben, aber doch hatten ihn alle diese Andeutungen fast mißtrauisch gemacht.
Schlimmer als der Carricaturen-Zeichner, wissen einzelne Menschen gesprächsweise das Bild zu verzerren, das sie uns geben. Einen so unerquicklichen Eindruck hatte Velden von all' den Menschen, die er liebte, niemals gehabt, als jetzt, nachdem Holdern nach kurzer Rast ihn wieder verlassen hatte. Sein Vormund, Graf Asten, dessen ritterlich uneigennützigen Sinn er stets so hoch gestellt, sollte seine kaum den Kinderschuhen entwachsene Tochter aus Geldliebe und Stolz dem alten Bewerber hingegeben haben! Rother mit seinem nach den höchsten Idealen strebenden Sinne vergeudete zu den Füßen eines intriguanten Weibes seine Tage und wurde möglicherweise ihrem Mammon oder seiner Leidenschaft zu Liebe all' seinen Principien untreu! Und Helene! Was mochte sie zu diesem Schritt bewogen haben? Eine Neigung zum Ordensstande hatte er nie bei ihr entdeckt; konnte es ein wahrer Beruf sein, der sie so plötzlich dahin zog? Er war überzeugt, daß sie einen solchen Entschluß nie ohne innere Klarheit fassen würde; dennoch fühlte er sich beängstigt und die eben gewonnenen Hoffnungen niedergedrückt. Was Holdern überhaupt dieses Weges geführt, blieb dem jungen Manne unklar; nur sehr unbestimmt hatte er sich über seine Reise geäußert. Er hatte durchblicken lassen, als seien irgend welche samaritanische Zwecke damit verbunden, und auch wieder angedeutet, daß Geschäfte ihn gezwungen hätten, die Zeit des Waffenstillstandes zu benutzen, um nach einer in der Nähe des Kriegsschauplatzes liegenden Besitzung zu sehen.
Nachrichten, welche Velden später über Holdern durch Kameraden erhielt, welche demselben hier und dort begegnet waren, bewiesen jedoch entschieden, daß er einen andern Weg eingeschlagen hatte. Velden kam daher auf die Vermuthung, Holdern habe das eigentliche Ziel seiner Reise verbergen wollen. Er war versucht, sie mit Gerüchten in Verbindung zu bringen, die über allerhand abenteuerliche Anwerbungen in den benachbarten Ländern eben im Schwunge waren. In allem Thun und Lassen des düstern Mannes, in diesem Auftauchen und Verschwinden lag etwas Geheimnißvolles, das Hermann durchaus widerstrebte. Seine eigenen, wenn auch bescheidenen Verhältnisse waren wohl geordnet, und er war gewöhnt, sich dem Umfange seiner Mittel anzupassen, so daß er für diese Art von Freibeuterei des Glücks am wenigsten Verständniß hatte. Holdern befand sich indessen aus jener schwankenden Bahn, auf welcher der Mensch nur wie mit der Balancirstange zu schreiten vermag indem seine Kühnheit und Geschicklichkeit ihn bald hierhin, bald dorthin sich neigen, bald dies, bald jenes erfassen läßt, um sich überhaupt über dem Abgrund zu halten.
In dieser Zeit der Neugestaltung, wo jede Partei den Kopf erhob, lauschend, ob ihre Stunde nicht angebrochen, wo jede versuchte, neue Fäden anzuknüpfen, waren wohl diejenigen am eifrigsten, deren Bestreben tiefes Geheimniß bedingten. Die allgemeine Unruhe bereitete ihnen den Boden, und jedermann war zu sehr beschäftigt, um auf sie zu achten. Holdern war bei seinem Leben im Auslande schon früher vielfach in Berührung mit geheimen Gesellschaften gekommen. Wenn er ihnen auch nicht geradezu angehörte, so zählte er doch viele Freunde darunter. Er hatte ihnen schon Dienste geleistet, und in verzweifelten Lagen eine Stütze dort gefunden. So war er in Verbindung mit ihnen geblieben, und seine letzten Reisen nach London und Paris hatten ihn den Führern wieder näher gebracht, da man in ihm einen gewichtigen Agenten für Deutschland zu gewinnen hoffte. – Es lag in seinem Charakter, sich zu den unzufriedensten Elementen am meisten hingezogen zu fühlen; ihre verneinende Tendenz sagte ihm zu, ihre Bestrebungen waren denen seines unruhigen Geistes analog. Er hatte eben durch sie auch Verbindungen speculativer Art angeknüpft, da viele strebsame und aus dem industriellen Gebiete kühne, erfindungsreiche Geister sich unter den Eingeweihten befanden.
Das Gewagteste lockte Holdern auch in dieser Richtung, wie denn eine abenteuerlich angelegte Natur sich gewöhnlich auf allen Gebieten gleich bleibt. Trotz seines sonstigen Pessimismus setzte er sogar schon große Hoffnungen auf diese Aussichten zur Verbesserung seiner Lage.
Seine persönlichen Angelegenheiten standen übrigens momentan eher gut als schlecht. Gut, insofern es seiner Schwester gelungen war, von Graf Asten jene Bürgschaft bei dem Hause Hirsch zu erhalten. Graf Asten's Lieblingstheorien über die Standesgenossenschaft waren Holdern dabei sehr günstig gewesen. Wenn auch manches an Holdern dem Grafen nicht zusagte, so schien es ihm doch ein erfreuliches Zeichen, daß er sich so nachbarschaftlich erwies. Eine der ältesten Familien des Landes wieder in der Heimath eingebürgert zu sehen, war ihm eine große Angelegenheit, der er gern jeglichen Vorschub leistete. Seine augenblickliche Verlegenheit war daher beseitigt; übler stand es mit der Hoffnung auf einen günstigen Verkauf seiner österreichischen Besitzungen, an welchen in den gegenwärtigen Zeitläuften nicht zu denken war.
Seine Schwester, wenn sie auch die Aussicht auf Hülfe von keiner Seite verschmähte, hätte doch lieber sein Lebensschicksal wieder auf soliderer Basis gegründet gesehen; sie wünschte noch immer nichts sehnlicher, als daß er den verhältnißmäßig günstigen Augenblick ausnutze, um eine gute Partie zu machen.
Carry's nicht zu erstickende aristokratische Gesinnung hatte ihren Blick zunächst auf Helene Asten gelenkt. Waren auch durch die anscheinend vollständige Herstellung Herbert's die Chancen bedeutend gesunken, so vermochte sie doch nicht den Lieblingsgedanken ganz aufzugeben, da sie in der Verbindung mit einer der ersten Familien des Landes immer noch eine große Stütze sah.
Bei weitem gründlicher und rascher wäre freilich die Situation durch eine Verbindung mit Daniella gelöst worden. Der Funke von Interesse, den das pikante Mädchen bei ihrem Bruder erweckt zu haben schien, machte ihn vielleicht zugänglicher. Carry Holdern schlug Daniella wohl zu gering an; ihrer Ansicht nach würde ein Baronstitel immer lockend für sie sein. Das Spiel mit dem »Künstlerknaben«, das ihr Bruder so wichtig hielt, hatte in ihren Augen weiter keinen Werth, als seine Eifersucht zu reizen. Dennoch vernachlässigte sie nichts. Sie beschloß, Daniella's Bekanntschaft zu machen, sobald sie erfuhr, daß dieselbe sich für längere Zeit in Bornstadt aufhalte. Es wurde ihr leicht, sich bei ihr einzuführen, da nicht allein die Bekanntschaft des Bruders sondern auch Daniella's patriotische Thätigkeit einen naheliegenden Beweggrund abgab.
Carry Holdern hatte gehört, daß die »gefeierte Künstlerin, die geistreiche Dame« auch in thätiger Liebe zur Menschheit hervorragend und mit praktischem Verstände sich bewähre; sie kam, um zu bewundern, um zu lernen, um nach Kräften beizutragen zu einem so edeln, wahrhaft humanen Werke.
Daniella's Augen ruhten forschend auf Carry Holdern, deren ganze Erscheinung wie die geschmeidige Zunge sie dem Bruder möglichst unähnlich machten. Etwas stolzer als die Gelegenheit rechtfertigte, nahm sie die Zuvorkommenheit der Baronin hin. Sie wurde nicht wie Helene geblendet und gefangen durch Carry Holdern's süß schmeichelndes Wesen; sie durchschaute ihre Art und Weise. Aber immerhin war sie eine Baronin Holdern und hatte aus der Ferne schon ihr Beachtung erwiesen.
Carry erkannte mit einem stillen Lächeln, wo ihre Macht Daniella gegenüber liege, und wußte diese auszunutzen. Der Verkehr zwischen den beiden Damen wurde schriftlich wie mündlich bald ein sehr reger, wenngleich die Angelegenheiten der Wohlthätigkeit den vorzüglichsten Inhalt bildeten. Allmälig wurde Carry Holdern zutraulicher gegen Daniella. Mit ihrer freien Geistesrichtung vermöge sie zu sympathisiren, versicherte sie; solche Aeußerungen ließen sie wieder aufathmen in diesem Lande, wo die Menschen gewiß vortrefflich wären, aber so eingesponnen in ihre beengenden Ansichten und Vorurtheile, daß man sie für jede freiere Auffassung verloren geben müsse.
Daniella behielt solchen Ergüssen gegenüber äußerlich ihre kalte, reservirte Haltung. Aber was wir im geheimsten Winkel unseres Herzens uns selbst eingestehen, findet stets Anklang, wie Erz dem gleichen Erze einen entsprechenden Ton entlockt. Menschen, die mit unsern innersten Gedanken übereinstimmen, üben stets eine gewisse Gewalt über uns.
Daniella sah sich getäuscht in der Art, wie Rother ihre Hingebung aufnahm. Sie hatte mehr auf persönlichen Eindruck gehofft, wo hingegen er voll und ganz nur den Zweck im Auge zu behalten schien. Daniella hatte weniger Eifer und mehr Entzücken erwartet; sie hatte gewähnt, daß er schon den ersten Gedanken einer Annäherung ihrerseits jubelnd aufnehmen würde.
Dabei fand Daniella die Sache nicht so leicht. Je mehr sie in das Wesen des Christenthums eindrang, desto mehr schienen die Anforderungen zu wachsen. Weiche Gefühlsimpulse genügten nicht; ernste Forderungen des Denkens, des Annehmens, des Unterwerfens traten an sie heran. Wie die meisten rasch denkenden Leute, hatte Daniella sich wenig an das Festhalten und Ergründen eines Punktes gewöhnt. Die Lehre, die Rother ihr vortrug, forderte aber mehr als jede menschliche Philosophie, die dem Geist sich leichter anbequemt. Mag die Philosophie noch so abstract sein, sie stellt dem Menschen doch frei, nur das von ihr anzunehmen, was ihm zusagt. Das Christenthum hingegen fordert vollständige Hingabe oder vollständiges Verwerfen.
Daniella's Geist sträubte sich gegen diese festen Schranken, und darum war der freie Zug in Carry Holderes Gesprächen ihr wohlthuend. Dem innern Widerspruche, den sie empfand, kam Carry entgegen, indem sie von der blinden Bigotterie sprach, welcher die Menschen dieser Gegend ergeben seien und die so anspruchsvoll dem freien Geiste gegenübertrete. Sie schlug eine gleichlautende Saite an, indem sie von dem übermäßigen Einfluß sprach, den das religiöse Element ausübe, indem es alles natürliche Gefühl unterdrücke und durch seine Satzungen die freiesten Geister in Fesseln schlage.
Sie fragte dann so theilnehmend, ob Daniella nicht die Luft hier schon längst zu schwer gefunden, und forschte erstaunt, fast mitleidsvoll nach den Gründen, die sie hier festhielten, wo ihr Geist nie seine volle Entfaltung gewinnen könne, da er ganz anderer Regionen, ganz anderer Nahrung bedürfe. Hatte Daniella noch nie ihre Flügel ausgebreitet, auf weiterm Felde sich zu versuchen? Lockte die Ferne sie nicht? Selbst die nordische Residenz mit all' ihrer Intelligenz war ein zu kleines Terrain für eine Daniella. Kannte sie den Brennpunkt der Cultur des Geistes, den Gipfel der Civilisation noch nicht? Konnte anderes Leben als das einer Weltstadt ihrer Natur genügen?
Carry Holdern's dünne Stimme hatte doch etwas Bezauberndes für Daniella's Ohr, wenn sie diese Bilder ihr zeigte, in solchen Träumen sich wiegte.
Daniella war überzeugt, niemand und nichts könne sie beeinflussen. Stolz saß sie selbst dem Geliebten gegenüber, sich bewußt, daß nicht ein Wort seiner Rede bei ihr Eingang finde, wenn sie nicht wolle. Dennoch löschte das Wort eines Weibes, das sie nicht liebte, heimlich und leise den heiligen Funken aus, der in ihr zu erglühen begonnen hatte.
Carry Holdern hielt ihren Zweck fest im Auge. Sie hatte genaue Nachrichten über den Verkehr Daniella's mit Rother, und das Verhältniß schien ihr doch ernster, als sie zuerst gedacht. Wenn es Rother wirklich gelang, sie für seine Ansichten zu gewinnen, oder wenn sie aus Liebe zu ihm sich denselben beugte, war immerhin alles möglich bei diesem Charakter, der nur den eigenen Willen kannte. Für Carry's Bruder war jedenfalls nichts ungünstiger, als Daniella's Anwesenheit in Bornstadt, wo er sich ihr weniger nähern konnte als irgendwo anders, sowohl wegen der Familie Asten, wie wegen seiner Stellung im Lande. Carry's Theilnahme für Daniella's erweiterten Horizont war also nicht ganz selbstlos.
In Daniella's Herzen aber blieb, seitdem sie Rother's Aufregung über Helenens vermeintlichen Klosterberuf gesehen, das Mißtrauen rege. Manche Andeutungen und Anspielungen Carry Holdern's waren dazu angethan, es zu nähren. Ein Mädchen, welches liebt, hält stets das Gleiche bei ihrer Rivalin für wahrscheinlich, und Daniella konnte kaum begreifen, daß Rother für Helene nur der Freund und Jugendgefährte sein sollte. Ihre Liebe steigerte sich so, daß sie, wenn sie nicht zum Ziele führte, in Haß endigen mußte. Etwas von diesem Gefühle lauerte schon in Daniella's Augen, wenn sie daran dachte, es möchte ihr nicht gelingen, den Geliebten zu fesseln, – ihr, die ihm alles opfern, alles bieten wollte, indeß jene Andere in ihrer schwächlichen Liebe kaum etwas anderes thun werde, als sich und ihn zu kläglicher Entsagung verurtheilen! Ihr Mißtrauen trieb sie so weit, daß sie nicht unterlassen konnte, Rother's Thun und Lassen zu beobachten und zu verfolgen. Namentlich suchte sie zu erfahren, ob er das Krankenhaus, in welchem Helene beschäftigt war, öfter aufsuche. Sie hatte Kenntniß davon bekommen, daß er allmorgendlich eine Kirche in der Nähe des Lazareths besuche, und sie hatte sich seitdem in der Frühe mehrfach dorthin begeben, selbst zu erkunden, ob Helene sich vielleicht ebenfalls dort einfinde.
Aber sie sah nur den jungen Soldaten, der, so oft seine Zeit es erlaubte, mit kindlicher Treue seiner Gewohnheit nachkam, die h. Messe täglich zu hören. Es wehte sie eigen an, wenn sie ihn, den lebensvollen, heitern Mann, in stiller, ernster Andacht erblickte, welche der beste Beweis für die Treue seiner Ueberzeugung war. Der Ausdruck, der dann auf seinem Antlitz zu lesen stand, stritt besser als alle Beweisgründe für das, was er ihr vorgetragen. In solchen Augenblicken war Daniella wie hingerissen; sie vergaß jedes irdische Motiv, und ihre Gedanken schienen den seinen zu folgen, schienen sich gleich ihnen zu erheben zu jenem ewigen Ziel, für welches der Mensch bestimmt ist, zu dem das Leben einzig führen soll. Noch mehr wäre sie wohl ergriffen worden, hätte sie gewußt, wie manches Gebet der junge Mann ihrem Heil widmete und dem Gedanken, daß er dazu beitragen könne, ihr den Weg zu eröffnen, den sie, wie er wähnte, in voller Aufrichtigkeit suchte. Daniella ahnte nicht, daß gerade durch die Gespräche, die sie veranlaßt hatte, der alte Feuereifer in seiner Brust von neuem wachgerufen worden war, daß sie damit ein Spiel begonnen, dessen Ausgang, von ihrem Standpunkte aus betrachtet, gefährlich werden konnte.
Sie kehrte übrigens öfter, wie dahin gezogen, zu dieser Kirche zurück, obgleich sie nicht immer Rother dort erblickte. Eines Tages begegnete Holdern ihr beim Austritt aus der Kirche; trotz des dichten Schleiers, den sie trug, erkannte er sie sofort. Sie wußte kaum, warum ihr diese Begegnung gerade in dem Augenblicke so widerwärtig war, und machte sich aus einen scharfen Waffengang mit ihm gefaßt für die erste Gelegenheit, wo sie ihn wiedersehen würde, wenn er nur die geringste Anspielung auf ihren Kirchenbesuch mache.
Sie schien aber geirrt zu haben. Als der Baron am folgenden Tage sie besuchte, zum ersten Male seit ihrer Anwesenheit in Bornstadt, zeigte er sich in ganz anderer Stimmung als sie erwartet hatte. Nichts von dem neckenden, herablassenden Tone, den er bisher ihr gegenüber stets angeschlagen, war mehr zu bemerken. Seine Haltung, sein Auftreten, seine Worte hatten etwas Gehaltenes; sie hätte es ehrfurchtsvoll nennen mögen. Er frug, ob es wahr sei, was seine Schwester ihm gelegentlich mitgetheilt habe, daß sie geneigt sei, die französische Residenz aufzusuchen? Daniella war frappirt über den Umstand, daß er von dieser nur flüchtig berührten Idee sofort Kenntniß erhalten hatte. Der Entschluß dazu schlug jedoch im selben Augenblick bei ihr Wurzel; sie kam sich fast kindisch vor, daß sie nicht früher daran gedacht hatte, ehe Fräulein von Holdern davon gesprochen. Sie erwiderte, das sei immerhin nur eine Frage der Zeit, da sie den Plan jedenfalls auszuführen gedenke.
Holdern nahm ihre Antwort in der ihm eigenen, dumpf brütenden Weise entgegen. Er meinte, im nächsten Jahre werde ein Aufenthalt in Paris sich vorzugsweise lohnen, indem dann die Welthauptstadt ihre große Ausstellung eröffnen und den Culminationspunkt der Welt-Interessen bilden würde. Holdern schwieg abermals einen Augenblick, und sein Auge ruhte forschend auf Daniella, die jetzt zum ersten Male fand, daß sein Blick etwas Unheimliches habe.
»Wissen Sie, daß ich für Ihre Anwesenheit dort Ihnen eine Mission zugedacht habe,« begann er plötzlich mit der ernsten Bestimmtheit, die keine Widerrede zu dulden scheint, und die eine Frau, selbst wenn sie herb davon berührt wird, doch stets beim Manne achtet, »eine Mission, die nur in die Hände einer Frau und zwar nur einer Frau, die ich kenne, gelegt werden könnte. Es muß eine Frau sein,« fuhr er mit eigenthümlicher Betonung fort, »die einen klaren Geist, eine scharfe Fassungsgabe mit all' der Anmuth verbindet, die sie geschickt macht, die feinen Fäden zu lenken, für die des Mannes Hand zu derb ist. Deutschland hat bisher wenige solcher Frauen oder keine gehabt; es producirte höchstens einige ungenießbare Schwärmerinnen oder Pedantinnen. Aber Frankreich und Rußland haben glänzende Beispiele geliefert, wie die Grazie den Geist so zu verhüllen weiß, daß er nicht durch seine scharfen Ecken zurückstößt, wie die Anmuth die Energie geschickt verbirgt, wie die Augen, während sie bezaubernd leuchten, nie ihre Wachsamkeit verlieren – und die zarten Hände geschickt sind, in die Regierung von Staaten einzugreifen und an ihrer Gestaltung sich zu betheiligen. Sie sehen, Frauen gegenüber, die eine Rolle spielen sollen, bin ich anspruchsvoll – und egoistisch bin ich obendrein, indem ich Ihre Anwesenheit zur Zeit der Weltausstellung wünsche. Eine schöne Frau mehr oder weniger in Paris, was ist das? Aber eine Frau wie Sie für die Weltstadt zu gewinnen, wäre ein Ereigniß. Eine Deutsche muß sie sein, da sie gerade für uns dort wirken soll – Sie würden noch vieles lernen müssen … aber nur Sie sind fähig, eine solche Mission zu übernehmen.«
Er hatte eigenthümlicher Weise das Wort »uns« plötzlich gebraucht, ohne zu erklären, wen er unter dieser Gesammtheit verstehe. Mit richtigem Verständniß für Daniella's Charakter hatte er seinen Vorschlag eingeleitet; das Geheimnißvolle darin erhöhte nur dessen Reiz. Daniella dachte scharf genug, um zu errathen, wohin er ziele. Die Huldigung, die er ihrer geistigen Macht zollte, war für einen Charakter wie der ihrige die größte Lockung, um so mehr, als er sie so einfach gab, von jedem persönlichen Interesse absehend. Eine Bezauberung wie ein schönes Weib selbst dem kältesten Manne sie abgewinnen kann, würde bei weitem weniger Eindruck auf Daniella gemacht haben, als diese Anerkennung ihrer Gaben von Seiten dieses kritisch angelegten Geistes. Wie fähig sie in der That zu solcher Aufgabe war, zeigte am besten die Art, wie sie seine Eröffnung ausnahm. Nichts von der Bewegung, die sie erfaßt, verrieth sich in ihrem Ausdruck. Ein stolzes Lächeln spielte einen Moment um ihre Lippen, – eine kleine Befriedigung über die späte Anerkennung, die ihr geworden. Sie widerlegte seine Worte nicht, sie wies seinen Vorschlag nicht zurück, noch suchte sie ihn zu erörtern. Der schwarze Lockenkopf stützte sich leicht in die Hand und die dunkeln Augen sahen mit ruhig fragendem Ernst zu dem Sprecher auf. Es war wohl die graciöseste Art, sein Vertrauen hinzunehmen und noch mehr zu fordern.
Holdern verstand sie. Er rückte seinen Stuhl ihr näher. Er sprach jetzt flüsternd, knapp und klar. Es war keine Aufgabe kleinlicher Intrigue, keine compromittirende Enthüllung schwarzer Pläne, was er entwickelte – alles erschien unendlich einfach. Durch die Zeitereignisse war Leben und Bewegung in alle Parteien gekommen, besonders auch in jene Partei, welche die sociale Frage hauptsächlich im Auge hatte und in diesem Moment auf einen kräftigen Aufschwung ihrer Sache hoffte. Von England aus war schon die erste Anregung gekommen; im nächsten Jahre gedachte man besonders zu Paris festern Fuß zu fassen, um von dort aus den Impuls zu weltumfassenden Plänen zu geben. Allen Nationen angehörig, hatte die Partei mehr oder weniger überall Wurzel geschlagen. Sie sah einer großen Zukunft entgegen. Die gleichen Principien für die Erweiterung und Befreiung des menschlichen Geistes wie für das materielle Wohl der Menschheit überall verfolgend, ließ sie dennoch Schattirungen nationaler Auffassung zu. Eben nach Deutschland hin Fühlung zu gewinnen, für dort zu wirken, würde die Aufgabe des Aufenthaltes in Paris werden – ein sowohl patriotischer als humaner Zweck. Die Fäden der Verbindung könnten nicht geschickter und harmloser gesponnen werden, wiederholte er, als durch die Hände einer schönen Frau.
Daniella lauschte träumerisch seiner Erklärung; wie eine fata morgana zog es an ihrem Auge vorüber. Eine solche Aufgabe sagte einem Geiste, wie der ihre war, in jeder Weise zu. Das war eine Stellung, wie sie sich ersehnt hatte, zu der nicht Talent, nicht Geist allein führen konnte; und sie war sich bewußt, dieselbe ausfüllen zu können. Ihre innere Anlage sympathisirte mit freien Bestrebungen dieser Art; die Eitelkeit stachelte sie, das Vertrauen zu bewähren, das man in sie setzte. Dennoch blieb der Ernst auf ihrem Antlitz, auch nachdem Holdern ausgeredet, und sie zögerte mit der Zusage. Er hatte diese vielleicht rascher erwartet.
Zwischen ihr und diesem Plane stand nicht so sehr ein Grundsatz wie eine Person. Sie fühlte, daß gerade dieser Weg der Richtung Rother's entgegengesetzt sei. Sie hatte seiner Lehre so viel bereits entnommen, daß sie empfand, sie stehe jetzt geistiger Weise an einem Kreuzwege, vor der Wahl zwischen zwei Richtungen, die sich diametral entgegenstanden. Wie jetzt ihr Blick auf Holdern's finster entschlossenem Antlitz ruhte, traten ihr Rother's Züge gleichsam verklärt entgegen mit dem Ausdruck, den sie an jenem Morgen in der Kirche wahrgenommen. Echt frauenhaft concentrirte sich in dieser Personification ihr augenblickliches Denken. Sie wurde dadurch abgehalten, sofort einen festen Entschluß zu fassen. Sie fühlte, daß sie für das ernstere und tiefere Gefühl alles hingeben könne; eine innere Stimme mahnte sie, daß jene Erkenntniß etwas Reineres und Höheres habe – aber leise schlug Eifersucht und beleidigtes Gefühl die Kralle ein und flüsterte ihr zu: Wenn aber deine Hingebung nichts erringen würde! Ein wilder Triumph lag anderseits in dem Gedanken, zu beweisen, welche Geisteskraft ihr innewohne.
»Lassen Sie mir drei Tage Frist zur Ueberlegung; dann hören Sie meinen Entschluß.«
Bei dieser Antwort zogen Holderes Brauen sich dichter zusammen; doch schien Daniella das nicht zu beachten.
»Eine Reise nach Paris hatte ich schon geplant, sowohl der Ausstellung wegen wie zur Ausbildung meiner Talente. Den neuen Zweck muß ich mir erst zurechtlegen. Ich bin eine freie Natur,« fuhr sie fort, sich anmuthig zurücklehnend. »Wir Künstler find keine Politiker; die mathematischen Berechnungen euerer Systeme sind nicht unsere Sache. Wir lieben nicht, uns fesseln zu lassen.« Ihre Augen blitzten ihn triumphirend an, ihre weißen Zähne lachten muthwillig aus den rothen Lippen hervor, als wolle sie ihre Macht ihm gegenüber prüfen.
Holdern mußte viel Werth darauf legen, seinen Plan durchzusetzen, daß er für ein Mal den ironischen Ausdruck unterdrückte, der sich sonst so leicht bei ihm zeigte. Wenn auch Daniella wähnte, ihre innersten Gedanken verhüllt zu haben, er wußte, warum sie zögerte. »Sie sind mehr wie eine Künstlerin – Sie sind zu ernsterer Rolle in der Welt berufen!« sagte er nur und führte ihre Hand an die Lippen, indem er sich empfahl. Er hatte aber die richtige Saite bei ihr angeschlagen.