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Weder das, was Daniella glaubte, noch was Rother befürchtete, hatte Helene zu ihrem etwas außergewöhnlichen Schritte bewogen.
Außergewöhnlich hatte man ihn freilich auch zu Schloß Asten genannt, und anfangs hatte man dort kaum weniger darüber gestaunt, als Daniella es gethan. Es ist vielleicht das eine Klippe des allzu geebneten, gleichmäßigen Lebens der höhern Stände, daß man dort so leicht etwas außergewöhnlich findet. Besonders die ältern Leute verstehen eine jugendkräftige Regung schwer. Tante Christiane hatte kaum gewußt, ob sie recht gehört, als eines Morgens ihre schöne Nichte sie in ihrem Privatzimmer aufsuchte und den Wunsch ihr mittheilte, sich für einige Zeit an der Pflege der Verwundeten zu betheiligen. Sie bat die Tante, Vermittlerin beim Vater zu sein, ihr die Erlaubniß zu erwirken.
Tante Christiane war zwar gewohnt, daß, wenn sie des Morgens in ihrem Privatcabinet aufgesucht wurde, meist irgend eine schwierige Sache vorlag, es irgend etwas zu schlichten galt. Man erinnerte sich stets in solchen Fällen zuerst an Tante Christiane. Dieser Wunsch ihrer Nichte aber war ihr so befremdend, daß sie selbst Lust hatte, Schwierigkeiten zu erheben. Dennoch lag in der Art Helenens, in dem Ausdruck ihres Antlitzes, als sie ihre Bitte vortrug, etwas, das Fräulein Christiane stutzig machte. Ihre erste Einwendung, daß solche Thätigkeit gewiß viel zu anstrengend und aufreibend sein würde, wies Helene lebhaft zurück, und es schien ihr aus tiefster Seele zu kommen, was sie hinzufügte: »Ach, Tante, Gedanken können noch viel aufreibender sein,« daß Tante Christiane fühlte, da müsse wohl noch anderes zu Grunde liegen als bloß der Wunsch, den Verwundeten beizustehen. Sie entsann sich jetzt auch, daß Helene in letzter Zeit bleich und abgespannt ausgesehen hatte. Gleich allen andern zu Asten – Henny, welche es besser wußte, allein ausgenommen – hatte Fräulein Christiane Helenens etwas gedrückte Stimmung auf ihre Sorge um Velden geschoben, der, nachdem er noch einige der kriegerischen Actionen mitgemacht, jetzt inmitten der bösen Seuche auszuharren hatte, welche nachträglich noch viele Opfer von den Kriegsheeren forderte. Indessen waren bisher die besten Nachrichten eingelaufen, so daß zu solcher Beunruhigung kein Grund vorhanden war. Auch hätte Helene derselben einfach Ausdruck geben können. Also mußte etwas vorliegen, das Helene in sich durchzuarbeiten hatte, etwas, von dem sie sich frei zu machen suchte. Allerlei Vermuthungen stiegen in Tante Christiane auf; doch kannte sie Helenens Charakter allzu gut, um irgendwie ängstlich darüber zu forschen. Ja, sie war liebenswürdige Tante genug, den Punkt nicht mit einem weitern Wort zu berühren; denn sie hatte die helle Röthe bemerkt, die bei jenen Worten auf Helenens Stirne stieg. Tante Christiane wußte vielleicht aus eigener Erfahrung, daß es Kämpfe im Leben gibt, die der Mensch am besten allein auskämpft.
Tante Christiane wußte aber auch, daß eine tüchtige Wirksamkeit die beste Waffe dabei ist und daß Helene das Rechte ergriff, wenn sie nach einer solchen suchte. Freilich ist die stets am schwersten zu finden in der behaglichen Fülle des Reichthums.
Beschäftigungen können freilich allezeit und überall gefunden werden, und jeder Gebildete vermag sich solche zu schaffen. Aber eine Beschäftigung genügt dann nicht; der Geist muß frisch und frei dazu sein, sonst haben sie keine Macht über ihn. Die zwingende Nothwendigkeit zur Arbeit, hart, wie sie bedrücken kann, birgt unsäglichen Segen, indem sie solch' kräftiges Heilmittel wider die Schmerzen des Lebens ist. Gottes Gerechtigkeit hat dadurch die Ungleichheit in den Lebenslagen seiner Kinder unendlich vollkommener ausgeglichen, als wir meist ahnen.
So seltsam Tante Christiane daher erst Helenens Wunsch geschienen, verstand sie ihn von diesem Gesichtspunkte aus und sie hatte, ohne den Grund zu kennen, recht gerathen: Helene wollte in der That sich von dem Gefühl frei machen, dessen Macht sie so ausschließlich zu beherrschen drohte. Schon an jenem Abend, als die Stärke des Gefühls sich ihr offenbarte, hatte sie den Entschluß gefaßt, sich nicht so willenlos demselben hinzugeben. Ihr zartes weibliches Gemüth schreckte schon zurück vor dem Bewußtsein, ein solches Gefühl zu hegen, besonders da sie gar nicht wußte, in wie weit es erwidert werde, und zweifelte, ob es ihres Vaters Billigung finden würde. Der Kampf war schwer, und sie hatte dabei die Erfahrung machen können, wie die gewohnten Beschäftigungen nicht ausreichen, wenn keine ernsten Anforderungen dazu treten. Immer wieder ertappte sie sich, wie der Pinsel müßig in der Hand ruhte, während ihre Träume und Gedanken sie weit weg führten. Sie würde gern versucht haben, sich mehr den Ihrigen zu widmen, sich ihnen nützlich zu machen. Aber es lag niemals weniger Bedürfniß und Veranlassung dazu vor, als eben jetzt. Alles ging seinen ruhigen, sichern Gang, wie es das Vorrecht eines wohlgeordneten, stattlichen Haushalts ist. Ihr Vater war eben jetzt ungemein beschäftigt und thätig, so daß er nur wenig daheim war. Der Krieg hatte ihm die besten Kräfte seiner Verwaltung entführt, und er hatte selbst die Oberaufsicht übernommen, die ihn fast den ganzen Tag in Wald und Feld hielt.
Helene würde vielleicht eine Beruhigung darin gefunden haben, ihn auf diesen Ausflügen zu begleiten; aber das war Henny's lang eingebürgertes Recht, und zwei Reiterinnen hatte der Papa sich stets kategorisch verbeten. Henny war dabei bedeutend fermer in der edeln Reitkunst, als ihre Schwester, und ihr praktisches Köpfchen hatte stets Blick und Sinn für alle wirthschaftliche Thätigkeit gehabt, indeß Helene nie viel Interesse dafür bewiesen. Henny bezeigte auch so große Freude an diesen Reitpartieen, daß ihre Schwester sie darin nicht beeinträchtigen mochte. Helene aber blieb dadurch noch einsamer.
Seit einiger Zeit kehrten überdies die Reiter meist mit einem dritten zurück, indem Baron Werthern fast täglich sie heimbegleitete. Werthern's Ländereien stießen zum Theil an die Astener Gemarkung, und bezüglich seiner Verwalter und Förster war er augenblicklich in derselben Lage wie der Graf, und hatte gleichfalls die Aufsicht selbst übernommen. Er widmete diese aber augenscheinlich mit großer Bevorzugung jenen Stellen seines Eigens, wo es mit dem Asten'schen Besitzthum zusammenstieß, und wußte es so einzurichten, daß er hier fast regelmäßig dem Grafen und seinem Töchterchen begegnete; dann schloß er sich ihnen an, obschon ihn das entschieden von seiner wirthschaftlichen Thätigkeit ablenkte.
Kamen die Drei nun nach Asten, so waren sie, ganz erfüllt von ihrem Thun und Treiben da draußen, nur mit einander beschäftigt, und auch Henny schien in diesem Interesse ganz aufzugehen, obschon es noch einen andern Grund haben mochte, daß Henny und Werthern stets so eifrig zu verhandeln hatten. Jedenfalls kam Helene sich sehr überflüssig dabei vor. Wenn man sich nicht recht glücklich fühlt, hält man sich ohnehin leicht für überflüssig, wohingegen der Glückliche sich überall am rechten Platz findet.
Helene fühlte sich täglich weniger glücklich. Der Kampf gegen ihre Liebe war angreifend, und die Liebe selbst hatte etwas Unbefriedigendes, etwas Quälendes. Holdern war seit jenem Tage nur selten gekommen und alsdann kühl und gemessen gewesen; jetzt kam er seit geraumer Zeit gar nicht mehr. Seine Schwester hatte Helenen zwar mitgetheilt, er sei in Geschäften abwesend; aber sie konnte den Eindruck nicht überwinden, ihn selbst zurückgestoßen zu haben. Eine unruhige Sehnsucht machte sich alle Tage mehr geltend, ließ sie immer auf ihn hoffen, um desto bitterer enttäuscht zu sein, wenn die Hoffnung sich nicht erfüllte. Das hatte in Helene den Wunsch wachgerufen, irgend etwas zu thun, um sich aus diesem Zustande herauszureißen. Die Bewegung, die allgemein zur Hülfe der Verwundeten eintrat, der Mangel an pflegenden Kräften, der überall erörtert wurde, einige Besuche Helenens bei den Pflegeschwestern zu Bornstadt, für welche sie die Gaben der Umgegend gesammelt, alles das hatte ihre Gedanken darauf gelenkt und schließlich den Entschluß gezeitigt.
Ihr gesunder Sinn hatte sie jegliches Excentrische vermeiden und das Einfachste finden lassen, um sich wirklich nützlich zu erweisen, indem sie sich unter den Schutz und die Leitung der frommen Schwestern stellen wollte.
Tante Christiane mußte zugeben, daß ihr Entschluß verständig und klar erwogen war, und sagte ihr nach einigem Nachdenken ihren Beistand zu, obschon sie einen Kampf mit ihrem Schwager voraussah.
Sie gab Helene den Rath, ihre Angelegenheit zuerst persönlich dem Vater vorzutragen; aber sie wußte doch, wo die Sache werde durchgefochten werden müssen.
Ihre Ahnung hatte das Rechte getroffen; die erste Folge von Helenens Besprechung mit dem Vater war, daß Tante Christianens Zimmer abermals einen Besucher sah, und zwar dies Mal einen sehr erregten – viel erregter war der Graf, als die Tante erwartet hatte. Asten hatte bei seiner Tochter Gesuch anfangs sehr befremdet dreingeschaut; er hatte fast geglaubt, sein »kluges Töchterchen«, wie er sie so gern nannte, treibe einen Scherz mit ihm. Als sie ihm aber voller Ernst alle Einzelheiten ihres Planes vortrug und mit bewegter Stimme um seine Einwilligung bat, war eine ganz andere Wirkung erfolgt. Starr hatten seine Blicke auf ihr geruht; er war sehr bleich geworden, und ohne ein Wort zu erwidern hatte er sich plötzlich abgewandt, um zu Tante Christiane zu eilen. Auch dort hatte er sich kaum zu fassen vermocht. Seiner sonst so rücksichtsvollen Art ganz zuwider, riß er stürmisch die weiten Fensterflügel auf, als ringe er nach Luft, um reden zu können. »Christiane! Hat Helene Klostergedanken? Will sie in einen Orden eintreten?« ging es fast wie Angstschrei über seine Lippen, und seine Heftigkeit verrieth, wie sehr der Gedanke ihn erschreckte.
»Helene in's Kloster?« Tante Christiane staunte fast, daß ihr selbst der Gedanke nicht gekommen, der bei der Bitte und Helenens innerlicher Natur wohl nahe lag. Aber in Helenens Art und Weise hatte etwas gelegen, das gerade diesen Gedanken am wenigsten aufkommen ließ.
Frauen haben scharfen Blick in solchen Dingen. Christianens völlig ungläubiges Gesicht, ihr fast unwillkürliches, aber sehr bestimmtes Kopfschütteln waren für den Grafen der beste Trost; hatte er doch gefürchtet, in der Tante eine Eingeweihte zu finden. Trotz seiner aufrichtigen Frömmigkeit war es ihm entsetzlich gewesen, als dieser Gedanke ihn gefaßt hatte; seine schöne Helene, sein ältestes Kind, die Krone seiner Familie, wie er sie heimlich wohl bezeichnete, ganz Gott opfern, dem klösterlichen Leben sie hingeben zu sollen, würde ihm unsäglich schwer gemacht worden sein. Bei der Schwächlichkeit seines Sohnes hatte er für den Fall, daß er ihn verlieren sollte, alle seine Hoffnung auf die älteste Tochter als Repräsentantin der Familie gesetzt.
Seine Frage, was denn das Mädchen auf einen so befremdlichen Einfall gebracht, klang schon mehr ungeduldig als erschüttert, und sein Staunen ward nur von neuem groß, als er seine so ruhige, allem Außergewöhnlichen abholde Schwägerin auf Seiten jenes Einfalls fand. Sie meinte, es sei nicht so unnatürlich, wenn in solcher Zeit ein thätiger Geist auch etwas zu leisten, sich an der allgemeinen Regsamkeit zu betheiligen wünsche. Helene sei jung und gesund; wozu die Kräfte immer ängstlich schonen und sie nicht einmal anstrengen Gott zu Ehren und dem Nächsten zum Nutzen? Den Thätigkeitstrieb und Gemeinsinn habe sie ja von ihrem Vater ererbt. Helenens Plan mache ihrem Herzen und Verstande alle Ehre; er sei vernünftig, jedes Aufsehen vermeidend. Werde es ihr zu anstrengend, so könne sie jeden Augenblick heimkehren.
Das klang alles sehr einfach und beruhigend; Fräulein Christiane, die sich einmal vorgenommen, die Sache für Helene zu führen, war eine kundige alte Tante in dem, was sie sagte. Sie wußte, daß der Graf nichts lieber habe, als daß seine Kinder einen tüchtigen, strebsamen Sinn zeigten: die kleine Schmeichelei für ihn, aufrichtig, wie sie gemeint, war auch wohlthuend. Nichtsdestoweniger war der Graf nicht gesonnen, sogleich nachzugeben; er murrte: er finde keinen rechten Sinn darin; Beschäftigungen gebe es stets für den, der welche suche; wenn Helene pflegen wolle, könne sie hübsch daheim bleiben, die Alten zu pflegen; Klostergedanken würden, wenn nicht schon da, doch in Bornstadt sicher kommen.
Seine Schwägerin erwiderte zwar auf die erste Hälfte des Satzes lächelnd, es sei Gott Dank mit dem pflegebedürftigen Alter so weit nicht her, und Helene werde hoffentlich noch viel anderes leisten können, bis diese Pflicht an sie herantrete. Sie wurde dann aber ernster und meinte, selbst wenn Helene die Gedanken hege, die er voraussetze, werde er ihr kaum entgegentreten können; sie sei in den Jahren, welche der Jugend die Entscheidung für das Leben brächten; dem einen werde dieser Beruf klar, dem andern jener; ihrer Ansicht nach sei es sogar ein Glück, wenn man für den einen oder andern Lebensweg bestimmt sich entscheide, und selten sei es wohlgethan, einem Menschen bei seiner Berufswahl hinderlich zu sein.
Der Graf war nun so galant, darauf zu erwidern, wie er nichts mehr wünsche, als daß seine Töchter ihren Lebensweg so ruhig und so segensreich gingen, wie ihre Tante, welche den besten Beweis liefere, wie gut ein weibliches Wesen, auch ohne einen bestimmten Beruf zu wählen, sich in der Welt nützlich machen könne.
Aber damit ließ die Tante sich nicht aus dem Felde schlagen. Sie entgegnete, die Pflichten würden nicht immer so einfach und angenehm vorgezeichnet, als es ihr geschehen. In der Welt mit allen vereint zu leben, und doch niemanden ganz anzugehören, sei wenigen gegeben; die einen würden dadurch verbittert, die andern zu kleinlichen Egoisten gemacht, und die dritten endlich kämen auf allerhand wunderliche Einfälle, um für das Bedürfniß der Thätigkeit ein Ziel zu gewinnen. Dagegen fände sie es viel segensreicher und sicherer, selbst rein weltlich aufgefaßt, einem bestimmten Beruf unter festem Schutz und sicherer Leitung sich zu widmen. Fräulein Christiane sagte das in der weisen Voraussicht, daß verschiedene Möglichkeiten eintreten könnten, fügte aber vorsichtig hinzu, bei Helene glaube sie an so etwas am wenigsten. »Im Gegentheil!« schloß sie mit bedeutsamem Nachdruck. Nach einer kleinen Pause sprach sie dann die Meinung aus, in ein junges Herz könne ja auch mancherlei andere Unruhe sich einschleichen und dessen Gleichgewicht stören. Schon seit einiger Zeit habe sie Helene bedrückt gefunden, doch sei es beruhigend, wenn der Mensch dann selbst sich das Heilmittel suche; sei nichts Tadelnswerthes dabei, so könne man jeden seinen Wünschen folgen lassen.
Bei dem Worte »im Gegentheil« hatte der Graf aufgehorcht und in seinem unmuthigen Auf- und Abschreiten Halt gemacht. Er überlegte sich wohl, was alles unter dem »Gegentheil« von Klostergedanken verstanden werden könne. Aber auch das schien ihn nicht zu erfreuen; denn die Falte auf seiner Stirne wurde noch tiefer. Er hatte überhaupt keine Lust, seine Töchter schon fortzugeben, weder auf die eine noch auf die andere Art. Die Andeutung der Tante ließ dabei auf etwas Unerfreuliches schließen.
Allerhand Vermuthungen stiegen bei Graf Asten auf, und wider Willen kam ihm die Erinnerung, wie sehr Rother bei seiner letzten Anwesenheit sich mit Helene beschäftigt hatte.
Rother war schön und anziehend – junge Herzen sind oft schon thöricht gewesen. Ganz unbehaglich wurde dem Grafen zu Muthe; nichts wäre ihm mehr zuwider gewesen, als solch eine unerquickliche Herzens-Geschichte.
Laut frug er zwar nur, ob die Tante in irgend etwas eingeweiht sei, ob vielleicht Velden eine Veranlassung zu der Verstimmung Helenens gegeben habe. Obschon Tante Christiane beides verneinte, vermochte der Graf seine geheime Furcht nicht abzuschütteln, und jedenfalls stimmte dieselbe ihn unwillkürlich milder für Helenens Wunsch. Wenn er auch noch einige Einwendungen erhob, gab er doch allmälig nach – und Helenens Wunsch ward schon wenige Tage später erfüllt. Der Vater brachte sie selbst nach Bornstadt, sie bei den Schwestern zu installiren und suchte sie später noch öfter dort aus. Durch das Lob, das die Schwestern ihr wegen ihrer Thätigkeit und Tüchtigkeit, spendeten, ward er bald ganz mit ihrem Entschlusse ausgesöhnt und war stolz daraus, daß eines seiner Kinder in vielfordernder Zeit sich so bewährte. Er vergaß darüber die Unruhe, die er erst empfunden, um so mehr, als Helene wirklich um vieles frischer und heiterer schien.
Wären Vater und Tante in jener Zeit nicht gar so ausschließlich mit Helenen beschäftigt gewesen, so hätten sie vielleicht bemerkt, daß auch mit Henny eine Veränderung vorgegangen war. Schon kurze Zeit ehe Helene nach Bornstadt übersiedelte, hatte Henny's Vorliebe für die täglichen Reitpartieen sich plötzlich verloren; sie fand stets neue Entschuldigungen, um sich davon auszuschließen. Ihr wirthschaftliches Interesse schien ebenfalls ganz unter Null gesunken, selbst Stips und Schnips konnten über Vernachlässigung klagen. Ihr Vater hatte die Unlust seiner sonst so getreuen Begleiterin ziemlich gleichmüthig hingenommen – ein anderer aber hatte sie entschieden schwer empfunden: Baron Werthern hatte zum ersten Mal Ursache, über die Veränderlichkeit der Launen seiner kleinen Freundin Beschwerde zu führen. Es währte eine geraume Weile, bis er sie darin zu verstehen vermochte; dann aber verstand er sie vielleicht allzu gut.
Der Sommer war gar gefährlich gewesen für Philipp Werthern. Nie hatte Henny so vorteilhaft ausgesehen, als wenn sie, das Hütchen keck auf die Locken gedrückt, daher gesprengt kam und ihr lachendes Antlitz schon von ferne den Entgegenkommenden grüßte. Nie war sie weiser und vernünftiger, als wenn sie zwischen dem Vater und dem Freund dahin ritt und so ernst auf deren sachkundige Reden lauschte. Allerliebst wußte sie auch daran Theil zu nehmen; an jedem Felde, jedem Baume zeigte sie ein Interesse, das kaum geringer war als das ihrer Begleiter. Sie dehnte dieses Interesse in uneigennützigster Weise auch auf Wertherns Besitzthum aus. Er fand stets an ihr die willigste Zuhörerin, wenn er sie von seinen Plänen und den Verschönerungsprojecten für Werthernhaus unterhielt. Klein Henny konnte stolz darauf sein, daß sie so oft dabei zu Rathe gezogen wurde.
Wirklich fühlte Henny sich geschmeichelt. Die meisten Menschen beharrten dabei, sie neben ihrer Schwester noch als Kind zu behandeln; das Vertrauen, welches der viel ältere Mann ihr schenkte, seine stets fast ehrfurchtsvolle Huldigung that ihr daher doppelt wohl.
Ueberdies war Werthern mit seiner kräftigen Gestalt, seinem ritterlichen Wesen noch immer eine Erscheinung, welche gefallen konnte. Trotz der schlimmen Zeiten lag jetzt ein gar heller Sonnenschein auf seinem Antlitz, und er machte einen durchaus jugendlichen Eindruck, wenn er einem gewissen Paar blauer Augen zu Ehren sein Rößlein auf das eleganteste courbettiren ließ. Den blauen Augen war aber Werthern auch nie untreu geworden; Velden, Rother, Holdern hatten mehr oder weniger alle Helene umkreist, indeß er der unerschütterliche Verehrer klein Henny's blieb.
»Verehrer!« Trotz ihrer siebenzehn Jahre war Henny über den Punkt sich vielleicht schneller klar geworden als Werthern selbst, der sich fast ahnungslos von einem schönen Traum umspinnen ließ. Für Henny war der Gedanke auch gar nicht unangenehm – besonders seit jenem Gespräche mit Helene, wo sie oft Holdern mit Werthern verglich, in dessen biederer, fromm einfacher Weise so gar nichts unklar war.
Aber ist schon jemals ein schöner Traum ganz ungestört geblieben? Nicht bloß alte Tanten und strenge Väter sind es, die dabei gefährlich werden. Tante Christiane saß ahnungslos hinter ihrem Stickrahmen, und Graf Asten freute sich eben so ahnungslos des nachbarlichen Eifers seines Freundes, als schon scharfe Mädchen-Augen allerhand bemerkt haben wollten, und spitze Mädchen-Zünglein eifrig in Bewegung darüber waren. Der nachbarliche Kreis war in Asten während dieses Sommers ziemlich eng begrenzt gewesen; doch zählten Henny und Helene manche gute Bekannte und Freundin auf den umliegenden Gütern. Auch auf dem Lande wissen trotz der größern Entfernungen die Gerüchte schnell ihren Weg zu finden. Baron Werthern war ein Mann, für den man oft schöne Pläne gemacht, und man war gegen ihn nicht nachsichtiger darum, weil er alle Wünsche bisher vereitelt hatte. Man hatte seine Aufmerksamkeit für Henny bemerkt und glaubte bei ihrer Jugend wohl nicht an den Ernst seiner Bewerbung; etwas grausam neckte man sie daher mit ihrem »alten« Verehrer. Die losen Mädchen pflegten ihn nie anders zu nennen, vielleicht gerade, weil dies Henny zu reizen schien. Einige Mal hatte die Kleine diese Neckerei ziemlich stoisch hingenommen, bis eines Tages eine »Freundin« ihr gar den gehässigen Rath zuraunte, sich doch pudern zu lassen, um ihrem »silbernen« Ritter analoger zu erscheinen. Nun war im Grunde kein Spott weniger zutreffend als dieser; denn des Freiherrn noch volles blondes Haar zeigte kaum einen Anflug des silbernen Scheins. Dennoch fühlte Henny sich durch diese Anspielung und das darauf folgende Gelächter tief gekränkt. Zum ersten Mal trat sie mit Entschiedenheit gegen all' das Gerede auf; heftig leugnete sie alles und ging sogar auf den Scherz über das Alter des Freundes ein, wie sehr ihr Herz sie dafür strafte. Ein Verehrer, über dessen Alter man lachen und spotten konnte, war doch zu entsetzlich! Henny hatte bisher nie an Werthern's Alter gedacht; sie hatte zu ihm aufgeschaut, wie sie als Kind gethan, und nie den Unterschied der Jahre empfunden. An dem Abende aber zog sie ganz heimlich den genealogischen Kalender zu Rathe, um sich darüber in's Klare zu setzen. Da wurde ihr nun freilich klar, daß der Baron in Wahrheit achtundzwanzig Jahre mehr zähle als sie. Achtundzwanzig Jahre! Heiß trat eine Thräne ihr in's Auge, und zürnend stieß sie das Buch zurück: er schien ihr plötzlich in das Greisenalter versetzt.
Von jenem Tage an war mit Henny jene Veränderung vorgegangen. Vergeblich sah der Baron sich nach der kecken Reiterin um; vergeblich versuchte er ihren Entschuldigungen zuvorzukommen und alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die sie möglicher Weise zurückhalten könnten. Er stellte seinen ganzen Marstall zu ihrer Verfügung; er versuchte sie zu locken mit seiner allerneuesten Acquisition, einem wahren Prachtroß, das nur ihrer Begutachtung harre; er hatte die schönsten Vorschläge in Bereitschaft, er suchte sie für den herrlichen Rosenflor in Werthernhaus zu interessiren, den er auf ihren Rath hervorgezaubert; und eben so vergeblich sandte er die schönsten Exemplare hinüber.
Henny blieb hartnäckig. Sie hatte zu allem den Kopf geschüttelt, weder die berühmte Stallnovität noch der Rosenflor hatte anscheinend ihre Neugier gereizt. Sie war gleichgültig und abweisend geblieben, endlich aber ein wenig schnippisch geworden, wie das alles für solche Fälle in dem Codex junger Damen steht, die alle diese Reihenfolge sehr gut einzuhalten wissen, ohne jemals eine Anleitung darüber bekommen zu haben.
Der Baron hielt das zuerst nur für eine flüchtige Verstimmung; doch plötzlich schien er ihre Meinung verstanden zu haben. Ein tiefer Schatten, wohl der erste in diesem Sommer, war über sein Antlitz gezogen, als er sich bei dieser Erkenntniß von ihr abwandte. Henny aber hatte von da an nicht mehr zu fürchten, daß ihr »alter« Verehrer ferner Anlaß zu einer Neckerei gebe. Werthern hatte auf einmal sehr dringende Geschäfte daheim bekommen, so daß er nicht mehr kam, und der Graf fand Anlaß zu der Klage, er verfehle ihn auch draußen jetzt immer. Bald tauchten Gerüchte auf, daß der Freiherr genöthigt sei, in nächster Zeit eine größere Reise zu unternehmen, die ihn für längere Zeit von Werthernhaus entfernt halten werde.
Der Graf war eine Zeit lang durch Helenens Angelegenheit allzu sehr in Anspruch genommen, um des Freundes Fernbleiben zu beachten. Bei dem langjährigen nachbarlichen Verkehr waren ohnedies stets nach Gefallen und Umständen solche Pausen eingetreten. Henny indessen fand sich unbehaglich. Seltsam war es: sie hatte sich nie vorgestellt, daß auch der Baron sich ändern könne; jetzt empfand sie es durchaus nicht leicht. Die Tage waren so eintönig ohne jene muntern Ausflüge, und nun auch dieser Gast fortblieb, merkte sie erst, wie leer überhaupt das Haus geworden. Ungewohnt kam es ihr auch vor, wieder in die Rolle des Kindes des Hauses zurückzusinken, nachdem sie diese ganze Zeit hindurch sich wenigstens Einem gegenüber als Mittelpunkt und kleine Königin gefühlt.
Dieser schroffe Unterschied war wohl angethan, Henny ernst und nachdenklich zu machen, und sie bekam plötzlich Lust, über den Beruf des Lebens zu grübeln, von welchem Tante Christiane so ernst geredet an dem Tage, wo Helenens Angelegenheit zur Sprache gekommen war.
Henny hatte das Gespräch zwischen dem Vater und der Tante belauscht. Die Zimmer des alten Fräuleins lagen im Parterre, und unmittelbar unter ihnen erstreckten sich Beete von Rosen und Reseda, deren Duft sie besonders liebte. Henny hatte eben dort gestanden, in trotziger Laune sich selbst einen Strauß pflückend, da von Werthernhaus keiner mehr für sie kam. Durch das geöffnete Fenster waren die Worte zu ihr gedrungen. Helenens Wunsch hatte sie nicht gerade überrascht, denn Helene hatte ihr schon eine Andeutung darüber gemacht. Es mochte ja gut sein, – Helene vergaß vielleicht endlich den »schrecklichen Mann«, wie Henny stets Holdern bezeichnete. Freilich fand sie einen solchen Entschluß entsetzlich. Klein Henny war keine heroische Natur. In dunkele Krankenzimmer sich einzusperren und fremde Verwundete zu pflegen, das war nicht nach ihrem Geschmack. Jemand zu pflegen, den sie liebte, und für ihn zu sorgen, ja, das war etwas anderes, das konnte sie sich recht gut denken. Doch das alles war nichts gegen das, was die Tante außerdem über Lebensberuf gesagt. Daß sie keinen Klosterberuf habe, fühlte sie merkwürdig klar; und was der Papa gemeint und Tante Christiane – das war gewiß sehr nützlich und gut, aber Henny seufzte doch unwillkürlich dabei. Und zum ersten Mal kam Henny der Gedanke, warum denn wohl Tante Christiane so einsam geblieben sei.
Die Jugend nimmt das Leben der Menschen, die sie vorfindet, stets als vollbrachte Thatsache hin; sie grübelt nicht weiter darüber nach – aber jetzt kam dem jungen Mädchen der Gedanke nicht mehr aus dem Sinn.
Die Tante war gleich ihr die jüngere Tochter eines vornehmen Hauses; sie war gewiß einst recht hübsch gewesen, viel hübscher als Henny's Aufrichtigkeit erlaubte, von sich zu denken; dabei war sie so klug und gut, daß jeder sie noch heute als liebenswürdig pries. Warum war sie so allein geblieben? Still an ihrem Stickrahmen arbeitend, ohne daß man sich viel um Tante Christiane kümmerte, so lange man ihrer nicht bedurfte, – so hatte Henny schon zu Lebzeiten ihrer Mutter sie gekannt.
Es überfiel Henny eine Art Graus dabei. Sie liebte gar nicht, still und allein zu sein, und schätzte es sehr, wenn man sich um sie kümmerte. Sie wußte auch jemand, der es bisher allezeit gethan – ob denn nie jemand sich um die Tante gekümmert hatte?
Henny konnte ihren Gedanken ziemlich ungestört nachgehen, so still war es zu Schloß Asten; der ganze muntere Kreis war ja zersprengt: Velden fort, Rother fort, Helene nun auch nicht da. Der armen Henny fehlte aber noch ein anderer am meisten – sie begriff gar nicht, wie der Vater das Ausbleiben des Freundes so gut zu ertragen schien. Im öden Salon hielt sie es nicht aus und rettete sich mit ihrer Arbeit in Tante Christianens trauliches Zimmer. Wenn sie nun dort still und ungestört saß, beschlich sie ganz unheimlich die Empfindung, als sei sie auf dem besten Wege, der guten Tante gleich zu werden. Diese begann allmälig sich über ihrer kleinen Nichte plötzlichen Fleiß und über ihre Schweigsamkeit zu wundern; sie meinte, die ernste Zeit übe selbst auf die Jugend ihren Druck aus.
Eines Nachmittags jedoch, da Henny wieder anscheinend so in ihre Stickerei versunken da gesessen hatte, flog plötzlich die Arbeit zur Seite, und ehe Tante Christiane sich dessen versah, kniete eine kleine Gestalt vor ihr und zwei Arme umschlangen sie. Das Stumpfnäschen richtete sich ein bißchen naseweis zu ihr auf und eine Stimme bettelte: »Ach, Tante, liebste, beste Tante, nimm es mir nicht übel – aber bitte, sage mir einmal, warum du nur Tante Christiane geblieben bist?«
Da war es endlich heraus! Tante Christiane sah freilich etwas ernst auf die kühne, kleine Fragerin, die jetzt ob ihrer Keckheit beschämt das glühende Gesichtchen in der Tante Schooß barg. Aber Fräulein Christiane lächelte schon wieder. »Weil zwei dazu gehören, wenn es anders kommen soll,« sagte sie in halbem Scherz und strich den krausen Lockenkopf vor ihr; »weil zwei dazu gehören, mein Kind, und auch selbst dann nicht immer alles sich so fügt, wie man es wünscht.«
Henny's Blicke waren jetzt wieder groß und fragend auf sie gerichtet; Tante Christiane verstand die Frage und erzählte ihre kleine Geschichte, eine Geschichte, wie wohl jedes Frauenleben sie hat. Fräulein Christiane konnte jetzt davon reden, denn es war lange her, daß sie geliebt hatte und geliebt worden war. Auch Lieb' und Leid, Töne, die einmal so mächtig anklingen, verwehen ja im Laufe der Zeit. Hindernisse hatten sich ihren Wünschen entgegengestellt und eine Einigung verhindert; sie hatte manches Jahr nothwendig gehabt, den Schmerz zu überwinden. »Aber Gott hatte mir ja andere Pflichten aufbewahrt und ließ mich hier meinen Beruf und in ihm auch mein Glück finden,« setzte sie liebreich hinzu, indem sie einen Kuß auf die Stirne ihrer Nichte preßte.
Henny hatte voll Theilnahme gelauscht, war aber sichtlich von dem Schlusse nicht befriedigt. »Und die andern, Tante, die dann noch kamen?« fragte sie nach einer kleinen Pause fast ängstlich. »Fandest du niemand darunter, der dich den ersten konnte vergessen machen, niemand, der dir wieder gefiel?«
Die Tante lachte: »All' die andern, meinst du? Nun, so dutzendweise, Herzchen, findet sich solche Gelegenheit nicht, besonders nicht in unsern Ständen, wo beiderseitig viel Ansprüche erhoben werden und selten alles so paßt, wie man wünscht. Wir lebten auf dem Lande innerhalb eines kleinen Kreises von Bekannten; da erscheinen die Freier nicht in hellen Haufen, wie ihr jungen Dämchen meint. Einige Jahre beschäftigte mich jene Erinnerung, und dann – man wird geschwind alt, mein Kind, geschwinder, als man in deinen Jahren denkt!«
Henny wehrte sich gegen die letzte Insinuation. Sie wisse nur allzu gut, wie geschwind sie altern würde, behauptete sie; Blondinen verblühten stets rasch, würden kupferig. Ihr Gesicht würde einschrumpfen, prophezeite sie, die Nasenspitze roth werden, wie Herbert ihr täglich vorhalte; im Umsehen würde sie wie ein altes Mütterchen aussehen. Das wußte sie genau.
Tante Christiane lachte noch herzlicher bei dieser tragischen Beschreibung und meinte neckend, es könne wohl so kommen, und es sei weise, sich zeitig darauf vorzubereiten. Dann aber hielt sie eine hübsche kleine Rede, wie man das alles dem lieben Gott überlassen müsse und wie Seine Fügungen allzeit das Beste seien; man könne überdies auch im einsamen Leben sehr glücklich werden, besonders wenn man lerne, seine Kräfte und sein Herz denen zu widmen, die dessen bedürftig seien.
Henny hörte ganz andächtig zu und fand alles sehr schön und wahr; was aber Gottes Fügungen anbetraf, so war sie sich bewußt, schon etwas eigenmächtig da hineingepfuscht zu haben. Hatte Gott es nicht schon so schön gefügt und ihr jemand geschickt, von dem sie die volle Gewißheit hatte, daß alles so paßte, wie man es nur wünschen konnte? Tante Christiane hatte gesagt, das fände sich so leicht nicht, und die Gelegenheiten kämen nicht oft. So viel war gewiß: es war sehr zweifelhaft, ob jemand wieder kommen würde, der so stattlich, so gut und so schön sei wie Baron Werthern, und den sie so gern haben könne! Nun aber hatte sie ihn zurückgestoßen, bloß um einer dummen Neckerei willen, hatte ihren besten Freund gekränkt in Folge des spöttischen Lächelns einiger loser Mädchen, – die ihn selbst allzu gern nehmen würden, wie Henny rachsüchtig hinzusetzte. Sie fühlte sich unbeschreiblich melancholisch bei dieser Betrachtung.
Vielleicht um ihre Melancholie zu überwinden, entschloß sie sich, die folgenden Tage wieder ihren Vater zu begleiten. Wenn sie aber die stille Hoffnung gehegt, auch den andern Begleiter anzutreffen, so hatte sie sich getäuscht. Baron Werthern schien seine Felder und Forsten jetzt ihrem Schicksal zu überlassen, und das Gerede, daß er eine weite Reise angetreten habe, verbreitete sich immer mehr.
Endlich ungeduldig über die Ungewißheit der Nachrichten und des Freundes so vollkommenes Schweigen, schlug Graf Asten eines Morgens ganz unvorhergesehen den Weg nach Werthernhaus ein, ungeachtet der Schwierigkeiten, die sein Töchterlein sehr zu seinem Staunen erhob. Graf Asten meinte, wenn Werthern auch nicht daheim sei, werde er doch endlich erfahren, was sein polizeiwidriges Verschwinden eigentlich für einem Grund habe.
Ja, den Grund, den hätte wohl niemand besser angeben können als eben Henny; centnerschwer lag das Bewußtsein ihr auf dem Herzen, wie sie jetzt stumm und muthlos dem Vater folgte – indeß Werthernhaus schon groß und freundlich vor ihnen auftauchte. An Werthernhaus knüpften sich für sie seit ihrer Kindheit so viele Erinnerungen; jeder Stein, jeder Fleck hatte sie stets mit dem größten Interesse erfüllt, sie hatte es fast wie ihr Eigen betrachtet … Das war nun alles aus! Wenn Werthern wirklich abgereist war, konnte es niemals mehr werden wie früher; dann hatte sie eine unglückliche Liebe, wie Helene – das war schrecklich.
Des Reiters Stimmung theilt sich stets dem Rößlein mit; Henny's Pferd war wohl nie so lässig einhergeschlichen, und Stips und Schnips folgten in ähnlicher Verfassung. Aber plötzlich schlugen die beiden letzten einen lauten Freudenton an und setzten in einem mächtigen Satze über den nahen Graben. Fast erschrocken fuhr Henny aus ihrer Träumerei auf … Drüben hinter dem Graben auf einem Bauplatz stand eine Gruppe von Arbeitern und dazwischen eine Gestalt, die von Stips und Schnips freudentoll umkreist wurde … Das war zu viel für klein Henny's Fassung; sie wußte nicht, hatte sie ihrem Vater zugerufen, wer dort sei, oder nicht – aber ihr Pferd flog schon in ungestümem Sprunge über den Graben fort, mitten zwischen Schutt und Bauholz hinein.
Gut war es, daß der Baron, durch die Hunde aufmerksam gemacht, sich sofort umwandte; denn der kecken Reiterin Pferd bedurfte seiner festen Hand, um es zur Ruhe zu bringen; Henny schien auf einmal alle Macht über ihr Thier verloren zu haben. Dafür bekam der Baron aber den vollen Sonnenschein zu sehen, der aus den blauen Augen ihm entgegenstrahlte. Der Athem war der jungen Dame bei dem kühnen Sprunge wohl ausgegangen; denn Worte schien sie nicht finden zu können, wie bewegt auch der Ausdruck des Gesichtchens war. Auch der Baron fand anscheinend keine Worte, wenigstens wollte die Begrüßungsformel nicht recht über seine Lippen. Gar lahm war auch seine Vertheidigungsrede, als jetzt Graf Asten, bedächtiger nachkommend, den Freund mit Scheltworten begrüßte, sein unverantwortlich unnachbarliches Benehmen ihm vorwerfend. Henny's Pferd nahm in dem Augenblick noch dringend die ganze Aufmerksamkeit des Barons in Anspruch, und mit einer gewissen einsilbigen Zurückhaltung sprach er dann von einer Reise, die nothwendig geworden, von dem Neubau, der ihn bis jetzt davon zurückgehalten, und von der in den nächsten Tagen bevorstehenden Abreise. Etwas gezwungen, gar nicht in seiner gewohnten Weise, klang auch die Einladung, man möge bei ihm einkehren und sich erquicken. Zögernd fragte er, ob er Henny's Pferd des Weges leiten solle – die junge Dame aber gab sehr willfährig ihre Einwilligung. Die Freude des Wiedersehens wurde jedoch gedämpft durch den andauernden Ernst und die Absichtlichkeit, mit der Baron Werthern sich mehr zu dem Vater als zu ihr wandte. Sie dachte in dem Augenblick gewiß an nichts weniger als an jene tückischen achtundzwanzig Jahre; im Gegentheil, nachdem sie Werthern so lange nicht gesehen, dünkte seine männliche Erscheinung ihr besonders schön, obwohl nicht zu leugnen war, daß der Baron eben heute nicht vortheilhaft aussah. In der Kleidung hatte er sich vernachlässigt, wie man es sonst an ihm nicht gewohnt war, die Züge erschienen schärfer, und ein Ausdruck von Schwermuth prägte ihm einen ältern Charakter auf.
Henny bemerkte diese Stimmung des Barons mit einiger Zerknirschung. Sie wäre noch zerknirschter gewesen, wenn sie gewußt hätte, wie er die letzten drei Wochen verbracht hatte. Als Henny's plötzlich verändertes Wesen ihn so rauh aus dem Traume geweckt, in welchem er seit einiger Zeit unbewußt sich gewiegt, war er nicht schonend mit sich umgegangen. Es hatte nicht viel bedurft, ihm die Augen zu öffnen. Nicht über sie hatte er gezürnt, sondern nur sich hatte er thöricht gescholten, seine Gedanken auf ein so junges Kind gelenkt zu haben, – er, über die Mitte des Lebens hinaus, sie mit all' den Ansprüchen rosiger Jugend. Er hatte sich selbst das härteste Zeugniß ausgestellt und sich verspottet über den Wahn, ein solches Wesen fesseln zu können. Daß sie ihm so deutlich gezeigt, wie weit er über das Ziel gegriffen, wenn er an etwas anderes als an kindliche Zuneigung gedacht, die sie dem Freunde des Vaters widmete, das hatte er vollauf verdient.
Aber wenn er auch alles gethan, den Traum recht in der Wurzel zu zerstören, hatte ihm das nicht gelingen wollen. Er hatte empfunden, daß den Jahren zum Trotz das Herz den Eindruck jugendkräftig ausgenommen, daß er sich von den süßen Banden fester hatte umschlingen lassen, als er gedacht. Henny's helle Stimme klang ihm nach wie vor in den Ohren, ihr heiteres Lachen war aus seiner Erinnerung nicht zu verscheuchen. Jedes Interesse, das er mit dem fröhlichen Mädchen getheilt, schien ihm nur ihretwegen entstanden; ohne sie war alles schal und nichtig geworden.
Wenn die Sonne scheint, ist es warm, einerlei ob es Maienmond oder Octoberzeit; wenn die Liebe kommt, glüht das Herz, einerlei, welche Jahreszeit im menschlichen Leben angebrochen. Baron Werthern war im Lenze seines Lebens eine viel umworbene und gesuchte Partie gewesen. Damals aber hatte er ein durchaus gestähltes Herz gehabt. Jetzt war seine Stunde gekommen, und das neckische Kind, das harmlos zu seinen Füßen aufgewachsen, hatte es ihm angethan. Doch er wollte dieser »Thorheit«, wie er seine Neigung unnachsichtig bezeichnete, männlich entgegentreten. Eine längere Abwesenheit sollte ihn der Versuchung entheben, ihn seine thörichten Wünsche vergessen lassen. Er mochte sich aber nicht eingestehen, wie gern er diese »größere Reise« noch hinausgeschoben und warum er stets nach wenigen Tagen heimgekehrt war. Freilich hatte er nicht geahnt, daß die Versuchung ihm so buchstäblich den Weg kreuzen würde: – jedenfalls sah es jetzt um seine Ruhe wie um seine Vorsätze wieder bedenklich aus. Der helle Sonnenschein bei dem Wiedersehen hatte ihn allzu warm angestrahlt, als daß er denselben bloß auf Rechnung des »väterlichen Freundes« hätte setzen können. Als er gar klein Henny vom Pferde hob, wie er seither so oft gethan, fühlte er da nicht deutlich, wie sie zitterte in seinen Armen, und sah er nicht die verrätherische Röthe, die plötzlich heiß ihr Gesichtchen bedeckte!
Nicht besser wurde es, als er seine Gäste in seinem Wohngemach installirt hatte. Er hätte glauben können, sein kühnster Traum sei schon zur Wahrheit geworden, als Henny, einer kleinen Hausfrau gleich, so würdevoll auf dem Sopha thronte. Sie schien auch in den drei Wochen um vieles ernster und gesetzter geworden zu sein; denn sie war schweigsam heute, und fast etwas Schüchternes lag in der Weise, mit der sie ihre Fragen an ihn richtete.
Nur als man zum Aufbruch rüstete, gewann sie ihre frühere Lebendigkeit wieder und behauptete, alles Neue noch beschauen zu müssen, – gerade als seien Jahre vergangen, seitdem sie zuletzt hier gewesen.
Der Baron hatte wirklich viel zu thun, sie überall herum zu führen. Bei den Rosen begann sie zu schelten, daß er ihr dieselben so lange vorenthalten und daß er so sonderbar gewesen. Sie warf ihm vor, wie er sie all' die Zeit vernachlässigt habe. Das alles klang hastig und verworren. Als sie dann gar von dem »abscheulichen Reisefieber« sprach, das ihn nun auch befallen habe, eine schwere Thräne ihr dabei in's Auge trat, und ihre Stimme stockte, da war dem Baron zu Muthe, … er wußte nicht wie. Er meinte, ein schwerer Alp habe ihn die letzten Wochen gedrückt, irgend etwas müsse ihm den Sinn verwirrt haben, daß er so sein Glück beinahe von sich gewiesen. Gar gern hätte er etwas geantwortet – aber Henny war ihm entlaufen, ehe er zu beginnen vermochte.
So blieb ihm nichts übrig, als jetzt beim Abschied auf des Grafen erneutes Schelten zu versichern, er werde jedenfalls in Asten vorsprechen, ehe er die Reise antrete. Und als er der jungen Dame beim Abschied in den Bügel half, nahm er die Gelegenheit wahr und flüsterte ihr zu: er hoffe, ihr erklären zu dürfen, warum sein Benehmen so sonderbar gewesen.
Da wurde es Henny selbst etwas sonderbar um das Herz. Im Stillen aber nahm sie sich vor, ihm jedenfalls ihr Benehmen nicht zu erklären: es war ja nicht nöthig, gerade alles zu erörtern.
Der Graf überzeugte sich bald, daß seine Vorwürfe Eindruck gemacht hatten. Als er am andern Morgen zufällig von seinem Schreibtisch aufblickte, sah er des Freundes Pferd, das im Hofe herumgeführt wurde: ein unzweifelhaftes Zeichen der Anwesenheit seines Herrn. »Werthern muß es doch eilig haben mit der Reise, daß er schon heute kommt,« dachte der Graf. Dabei entsann er sich, daß sein Freund den Salon wohl wider Erwarten leer gefunden haben würde, indem Henny denselben in letzter Zeit stets gemieden.
Der kleinen Comtesse war es aber am heutigen Morgen durchaus nicht unangenehm gewesen, den Salon für sich zu haben. Sie hatte viel zu denken und hatte vielleicht auch eine Ahnung davon, daß Baron Werthern schon heute kommen würde, um »zu erklären, warum er so sonderbar gewesen«. Die achtundzwanzig Jahre waren es jetzt nicht mehr, was sie schreckte; aber der Gedanke, was der Vater dazu sagen möge, war ihr plötzlich aufgetaucht. Sie war nicht sicher, ob die Antwort des Grafen am Ende gar dem Baron die Reiselust wiedergeben würde.
Des Barons Schuld war es also nicht, daß er, ungeachtet des Vorsatzes, den er in der Nacht noch feierlich gefaßt, seinem Freunde die Erörterung der Sache anheimzugeben, im Salon zuerst auf klein Henny traf. Henny lief dies Mal nicht fort, wie am vorigen Tage, und die Sache nahm allen Vorsätzen zum Trotz eine ganz unerwartete Wendung.
Der Graf wußte gar nicht wie ihm geschah, als sein kleines Mädchen auf der Treppe ihm ganz unmotivirt in die Arme flog. »Du sagst doch ja, Papa!« bat sie dabei so eindringlich und hastig, daß der Vater sich gar nicht erklären konnte, was sie mit den mystischen Worten meine. Ehe er sie zu befragen vermochte, war sie ihm wieder entschlüpft; dennoch sollte er nicht lange im Unklaren bleiben. Auch sein Freund kam ihm jetzt entgegen, und zwar mit bedeutend feierlicherer Miene, als selbst ein Abschied auf lange Zeit gerechtfertigt hätte.
Grenzenlos war des Grafen Staunen, als er den Freund, dem er seinem so jungen Kinde gegenüber stets nur eine väterliche Rolle zugewiesen, plötzlich in der Eigenschaft des Freiers vor sich sah. Seit Henny's Kindheit hatte er sich so an die Freundschaft zwischen beiden gewöhnt, daß ihm nie die Ahnung gekommen war, das Verhältniß könne sich anders gestalten. Die tückischen achtundzwanzig Jahre hätten daher beinahe doch einen bösen Streich gespielt, ohne Hennys vorsichtige Worte, die dem Grafen des Mädchens innigste Wünsche kundgaben und ihm den Ausweg in etwa abschnitten.
Trotzdem aber und der Zuneigung ungeachtet, die er für den Baron hatte, ja obschon alles andere so paßte, wie der anspruchsvollste Vater es nur wünschen konnte, nahm der Graf die Sache durchaus nicht leicht. Er trug der Tochter alle seine Bedenken mit vollem Ernste vor, wies sie auf den Unterschied der Jahre hin und rieth ihr, die Freiheit sich zu bewahren, um ihr Herz erst zu prüfen und kennen zu lernen.
Henny vermochte trotz ihrer herrlichen Waffe den Papa nicht so leicht zu besiegen; doch blieb sie fest. Sie sehe nicht ein, erklärte sie, warum sie auf den zweiten Freier warten solle, wo der erste ihr so überaus gut gefalle, – ein Mann, den sie kenne, liebe und ehre seit ihrer Kindheit Tagen. Sie habe es mit der Trennung versucht, aber das habe sie nicht ertragen können, gestand sie dem Papa jetzt thränenden Auges. Henny hatte genug an Liebesweh gehabt; ihr war die Lust vergangen, sich weiter damit einzulassen. Tante Christianens Geschichte war jedenfalls sehr lehrreich gewesen.
Der Tante wenigstens wurde jetzt klar, wohin alle die Fragen ihrer Nichte gezielt hatten. Als sie segnend die Locken des blonden Kindes streichelte, das so selig dreinschaute, froh der Zukunft, die an der Seite eines ehrenwerthen, erprobten Mannes so gesichert erschien, da dachte sie, es seien wohl die glücklichsten Naturen, die das Leben einfach und bestimmt auffassen und dessen tragische Conflicte scheuen.