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7

Der Sommer war von Baron Holdern als die Zeit bezeichnet worden, wo die Familie Asten heimkehren werde.

Doch der Frühling rief sie schon zurück. Die drohenden Zeichen am politischen Horizont wurden so bedenklich, daß Graf Asten vorzog, den nahenden Sturm in der Heimath sicherm Port abzuwarten, statt in der Ferne ihm zu trotzen. Es war der Frühling jenes Jahres, das für Deutschland so ereignißvoll werden sollte, wo seine Geschicke plötzlich auf der Waage zitterten, auf der nur das Schwert den Ausschlag gibt. Es nahten Stunden blutiger Entscheidung, wie die Hand des Herrn sie von Zeit zu Zeit den Völkern schickt.

Der erste Maitag aber, der die Familie von Bornstadt aus ihrem alten Wohnsitz wieder zuführte, war still und friedlich und ließ Herz und Gemüth zur Wiedersehensfreude frei.

Mag des Menschen Auge auf noch so reizvollen Gegenden geruht, mag die Ferne ihm noch so liebliche Bilder vorgeführt haben, der Zauber der Heimath vermag doch siegreich mit allem in die Schranken zu treten. Lieblich, wie zum Willkommgruß, lachte die Gegend in ihrer frischen, stillen Schönheit den Zurückkehrenden entgegen. Die ausgedehnten Feldmarken prangten in der Fülle sprießenden Kornes, die massigen Wälder im lichtesten Maiengrün, der leichte Nebelduft, der vom Lenz wie vom Herbst in dieser Gegend Mitteldeutschlands unzertrennlich ist, tauchte die kahlen Hügel und fernen Berge in weiches Blaugrau.

Dem Grafen und seiner Familie klang es wie der süßeste Wohllaut, als der erste landesübliche Gruß wieder an ihr Ohr klang, und nichts heimelte sie so an, wie das freundlich stille Lächeln, das sich auf all' den blonden, derben Gesichtern zeigte, deren die Heimkehrenden ansichtig wurden. Man ist nicht demonstrativ dort zu Lande; aber man freute sich aufrichtig im Volke über die Rückkehr der Gutsherrschaft, deren Abwesenheit man in vielen Beziehungen empfunden hatte, wie es stets geschieht, wenn Gutsherr und Volk im richtigen Verhältniß stehen.

Auf dem Schlosse selbst herrschte indessen der regste Willkommseifer. Velden und Rother, die schon einige Tage früher eingetroffen, um die Familie zu begrüßen, waren einem wahren Verschönerungsfieber verfallen. Sie leisteten das Mögliche, ihre Freude recht sichtbar darzulegen und die lange der Heimath Entfremdeten mit allem Festesglanze zu empfangen.

Velden durchwanderte immer wieder die Räume, hausväterlich die Kaminfeuer in erneutes Lodern zu bringen, um den letzten Hauch der langen Unbewohntheit zu verscheuchen, und Rother hatte die Ausschmückung, welche sein künstlerischer Sinn erdacht, noch immer nicht beendet, als der Wagen der Erwarteten schon nahte, begleitet von dem jauchzenden Zuruf der aus dem Dorfe herbeieilenden Leute.

Obgleich Velden eben noch im Innern des Hauses beschäftigt gewesen, war es doch seine kräftige Hand, die allen andern zuvor kam, den Wagenschlag zu öffnen. Sein Auge leuchtete warm hinein, wie eifersüchtig auf den ersten Gruß der Heimkehrenden.

Es liegt etwas Rührendes in dem chaotischen Gewirre solcher Wiedersehensfreude, wenn unberechnet und unberechenbar jeder dem Gefühl der Augenblickes sich hingibt.

Fraglich war es nur, wer lauter und toller seine Freude ausdrückte, Henny oder ihre Lieblinge Stips und Schnips, die rücksichtslos sich Bahn brachen, um jedem sein Theil ihrer wilden Begrüßung zukommen zu lassen. Tante Christiane tauschte Händedrücke mit allen. Hermann's Blicke sagten mehr wie seine Zunge, die vielleicht auch mehr gesagt hätte, wenn die jungen Damen ihm nicht so gar verändert vorgekommen wären.

Als nach einer Weile alles wieder in ruhigere Bahnen lenkte, fand man Zeit und Blicke für nähere Beobachtungen. Rother's graciöse Ausschmückungen, Velden's sorgliche Anordnungen und der Dienerschaft thätiger Eifer wurden gebührend bewundert.

Gegenseitig schaute man sich dann an, der Aenderungen bewußt zu werden, welche die Zeit hervorgerufen.

Herbert fand man um vieles gekräftigt. Henny warf Rother vor, er sehe durchaus nicht künstlerisch genug aus für seinen jetzigen Beruf; nur Velden, erklärte sie, habe einen vernünftigen Gebrauch von der Zeit gemacht und sich fabelhaft verschönert, – eine Behauptung, die dem Betreffenden sehr wohl zu thun schien. Allgemein stimmte man dem jungen Mädchen bei; denn in Wahrheit stand der krause braune Backenbart, der seitdem entstanden, Hermann vortrefflich zu Gesicht, und er hatte einen gewissen Schliff städtischen und studentischen Lebens gewonnen, der ihn sehr wohl kleidete.

Das Compliment wurde aber Henny zurückgegeben; auch sie hatte sich sehr vortheilhaft geändert. Die Zierlichkeit ihrer Gestalt, sowie die rosige Frische ließen das allzu kecke Stumpfnäschen fast vergessen, und das röthlich krause Haar umgab jetzt sehr kleidsam ihr schelmisch munteres Antlitz. Von Helene sprach man seltsamer Weise am wenigsten, obwohl ihr der größte Antheil der Bewunderung hätte zufallen dürfen. Es gibt eine Art von Schönheit, welche die Bewunderung mehr zurückhält als herausfordert, und die durch ihre vollkommene Harmonie für den ersten Augenblick etwas von ihrem Reiz einbüßt. Die hohe Gestalt Helenens, die sich so vollkommen entwickelt hatte, die klassischen Züge, in denen alles bis auf Haar- und Augenfarbe im Einklang stand, gaben ihrer Erscheinung etwas Unnahbares, so lieblich sie auch allen sich zuwandte – wenigstens dünkte es Hermann so, dessen überwallende Freude bei dem Eindruck in's Stocken gerieth. Eine andere Weise, ihr Haar zu tragen, wie sich zu kleiden, mochte zu dem Befremden beitragen.

Fast schien es auch, als sei sie die Gemessenste bei dem lauten Willkommjubel geblieben, als habe ihr Auge am wenigsten dabei gestrahlt. Dennoch konnte keiner, Hermann gewiß nicht, über Mangel an Theilnahme ihrerseits klagen, so herzlich trat sie ihm entgegen, so viele Fragen hatte sie nach allem, was ihn und seine Mutter betraf. Weniger ausgesprochene Theilnahme würde Hermann vielleicht lieber gewesen sein. Es wollte ihn bedünken, als sei ihre Aufmerksamkeit etwas förmlich und als horche sie mit gleichem Antheil hinüber nach dem, was Rother eben von seinem Leben in der Residenz erzählte. Baron Holdern, so berichtete er, hätte ihm die letzten Grüße der Familie gebracht und hoffentlich die seinigen eben so pünktlich bestellt.

Der Name Holdern schien den Ankömmlingen überhaupt sehr geläufig geworden, da er so oft in ihren Erzählungen vorkam. Helene zwar erwähnte fast nur seiner Schwester, mit der sie die Winter zusammen verlebt hatten; der Bruder mußte diese aber oft dort aufgesucht haben.

Dieser Name, ein Mal angeschlagen, sollte an dem Abend noch weiter fortklingen. Kaum hatte der Kreis in früherer Weise um den Theetisch sich geschlossen, der Erinnerung wie der behaglichen Gegenwart sich freuend, als der Diener mit einer Anmeldung von Seiten des Barons Holdern eintrat, der für einen Augenblick seine Aufwartung zu machen wünschte, – sehr zum Staunen aller, die ihn noch nicht in der Nähe vermutheten.

»Auf der Durchfahrt, von einer Reise kommend, auf eine Reise gehend,« zischelte Henny, bei welcher er auch jetzt noch am wenigsten in Gunst zu stehen schien, nach Hermann hinüber, dem die Unterbrechung durchaus nicht behagte. Nur in dem Wort »für einen Augenblick« fand er einigen Trost.

Henny's spöttische Behauptung sollte sich aber bewahrheiten. Aus der nordischen Residenz kommend, hatte Baron Holdern auf dem Bahnhof von der Rückkehr des Grafen Asten und der Seinigen gehört, und nicht ermangeln wollen, sie gleich hier zu begrüßen, – was man sichtlich als sehr freundliche Aufmerksamkeit aufnahm.

Hermann hatte freilich nicht übel Lust, den Besuch als Aufdringlichkeit zu bezeichnen, da der erste Abend der Rückkehr dadurch gestört wurde. Helene war seit des Barons Ankunft ziemlich schweigsam geworden, trotzdem Holdern sich zuerst und hauptsächlich an sie wandte. Er überreichte ihr einen Brief seiner Schwester, indem er ihr gleichzeitig mittheilte, daß Carry ihn beauftragt habe, ihr auszusprechen, wie glücklich sie sei, bald ihrer Nachbarschaft sich erfreuen zu können, da sie selbst nach Holdernheim überzusiedeln gedenke. Sie hoffe, daß die Freundschaft der beiden Häuser sich immer mehr befestigen würde.

Holdern setzte in kalt ironischer Weise hinzu, sein armes Haus sei kaum noch angethan, Damenbesuche zu empfangen, und er müsse seiner Schwester gastliche Vorschläge mehr anstaunen, als er sie vertreten könne, wenn seine Hoffnungen auch die gleichen wären.

Waren seine Worte oder der Inhalt des Briefes dabei die Veranlassung, daß Helenens Antlitz mit so dunkeler Röthe übergossen wurde? Das war nicht zu entscheiden, da ihr Blick auf das Papier geheftet blieb.

Holdern hatte fast für jeden irgend eine besondere Mittheilung. Rother überbrachte er die angelegentlichsten Grüße von seiner »schönen Freundin«, wie er sagte, mit einer Mahnung ihrerseits, das Concert nicht zu vergessen, welches für sein erstes öffentliches Auftreten ausersehen war.

Diese Mahnung verbesserte Velden's Stimmung nicht. Er konnte sich nie recht mit dem Gedanken an Rother's Künstlerberuf aussöhnen, besonders da Holdern fortfuhr, mit augenscheinlicher Absichtlichkeit bei Daniella's und Rother's Verkehr und Freundschaft zu verweilen. Die eigenthümlich selbständige Stellung, welche die junge Dame in der Residenz einnehme, hob er auffallend hervor, so daß selbst Helene zuletzt erstaunt aufsah, so sehr auch der Brief ihre Gedanken in Anspruch nahm.

Rother beantwortete zwar munter alle Anspielungen Holdern's und bestätigte Daniella's glückliche Entwickelung, auch ihrem Aeußern nach, ganz unbefangen. Er zeigte sich stolz darauf, daß seine Prophezeihung eingetroffen, und führte die errungenen Erfolge auf ihre geistige Kraft zurück. Doch war er sichtlich etwas gereizt durch Holdern's Art und Weise, während der Eifer des jungen Mannes den Baron nur zu amusiren schien.

Das nächste Thema, das der Baron anschlug, erregte aber aller Herzen so mächtig, daß alles andere zurücktrat. Er hatte aus der Residenz die neuesten politischen Nachrichten mitgebracht, die an dem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des Krieges nicht mehr zweifeln ließen. Die Befehle zur Mobilmachung der nothwendigen Streitkräfte waren in dem Augenblick wahrscheinlich schon erlassen. Diese Entscheidung, wenn auch jeder sie geahnt hatte, brachten einen mächtigen Eindruck hervor. Sie griff überdies auch direct in den kleinen Kreis ein, da die beiden jungen Leute aller Wahrscheinlichkeit nach mit ausrücken mußten.

Hermann hatte seiner Militairpflicht auf der Universität genügt und gehörte als Reserve-Offizier einem der nächstliegenden Cavalerie-Regimenter an. Mit Sicherheit konnte er sich auf baldige Einberufung gefaßt machen. Rother hingegen war, seiner künstlerischen Ausbildung zu Liebe, dieser Pflicht noch nicht nachgekommen. Seiner wartete nun sofortige Einstellung.

Allen großen Welt-Interessen zum Trotz überwogen daher für den Augenblick die persönlichen Rücksichten in den Empfindungen der Versammelten.

Was Holdern betraf, über dessen Zugehörigkeit zu dem einen oder dem andern Lande man nicht recht klar war, so erklärte er, allen Welthändeln kaltblütig gegenüber zu stehen, da seine Verabschiedung ihn aller Pflichten enthoben und er Kosmopolit genug sei, sich glücklich zu preisen, daß er überhaupt kein Vaterland besitze. Diese Bemerkung wurde von den meisten der Anwesenden nicht gerade günstig aufgenommen; doch nahm sie einen gewissen ängstlich gespannten Ausdruck von Helenens Zügen, der seit dem Beginne der Debatten über die Kriegsnachrichten sich gezeigt.

Holdern's Aufenthalt war übrigens wirklich von kurzer Dauer. Er hatte seinen Wagen nicht einmal ausspannen lassen. Dennoch war nicht zu leugnen, daß das frohe Gleichgewicht der ersten Stunden in der Heimath durch ihn gestört worden war. Jeder schien seinen besondern Gedanken nachzuhängen, und man trennte sich früher, als man sonst wohl gethan haben würde.

Rother überwand die trübe Stimmung am leichtesten. Niemals dem Wechsel abhold und, wenn auch von Liebe zur Kunst erfüllt, so doch durchaus nicht nach deren Ruhm in dem Grade dürstend, wie Daniella es wünschte, sah er der bevorstehenden militairischen Episode, so weit sie ihn anging, mit Ruhe entgegen. Durch die allgemeine Weltlage läßt man sich in jenem Alter ja noch nicht anfechten.

Hermann schien es schwerer zu empfinden; wenigstens wähnte dies Rother, da er dessen Vorschlag zu einer gemüthlichen Plauderei auf seinem Zimmer entschieden ablehnte und trotz der späten Stunde einen einsamen Spaziergang vorzog.

Anton sah ihn bald darauf unter den hohen Bäumen der Allee verschwinden.

Dennoch war es fraglich, ob es Gedanken des Krieges oder des Friedens waren, die den jungen Mann beschäftigten, als er so eifrig dahin schritt in die Maien-Nacht hinaus. Ein tiefer Ernst lag auf seinen kurz vorher noch so angeregten Zügen. War die erste Freude zu mächtig gewesen, daß sie solchen Rückschlag erfuhr?

Aber auch andere mußten an dem Abende ihre Gefühle wieder in's Gleichgewicht bringen, ehe die Ruhe ihnen wurde.

Helene stand noch lange auf dem Balcon, der an das Schlafzimmer der Schwestern stieß. Ihre glühenden Wangen schienen die herbe Lenzfrische kaum zu empfinden. Was sie dort festbannte, war wohl nicht die Freude, nach langer Abwesenheit den Anblick der heimathlichen Umgebung wieder zu genießen, die in der Mondscheinbeleuchtung so lieblich sich vor ihr ausbreitete. Weit darüber hinweg schien ihr Blick einen fernen Punkt zu suchen. Ihre Gedanken waren so in Anspruch genommen, daß sie sich über die Balustrade hinauslehnte, als trüge der spielende Maiwind ihr süße Laute aus der Ferne zu. Die Hände über der Brust gefalten, den Ausdruck eines träumerischen Glückes in den schönen Zügen, zeigte sie in ihrer Haltung eine weiche Hingebung, welche das Unnahbare fortnahm, das ihr heute eigen gewesen war.

Nicht unnatürlich war es, daß Hermann's Fuß stockte, als er sie bemerkte, daß er seinen Blick an diesem schönen Bilde weidete, obwohl sein einfacher Sinn nur ihre Liebe zu dem alten, liebgewohnten Heim darin sah. Seinem Gefühl nach war es selbstverständlich, den ersten Abend in der Heimath sich kaum satt trinken zu können an heimischer Luft, an dem süßen Gefühl des Daheimseins – der Mensch urtheilt ja stets nach sich selbst.

Noch natürlicher war es vielleicht, daß Hermann diese Begegnung als ein glückliches Omen ansah. Er hatte aber den ungeduldigen Ausdruck nicht gesehen, der plötzlich über Helenens Züge ging und mit dem sie sich zurückzog, als sein knirschender Tritt ihr verrieth, daß der Freund sie erspäht hatte.

Nach dem unsteten Leben der letzten Jahre empfanden die Bewohner von Asten die heimathliche Ruhe jetzt doppelt wohlthuend und erquickend. Die Unruhe, welche die Welt bewegte, ließ den Frieden des heimathlichen Herdes um so tiefer empfinden. So freudig die Familie von allen Freunden und Nachbaren in der Heimath begrüßt wurde, war doch die Zeit nicht angethan für geselligen Verkehr. Man beschränkte sich daher auf den häuslichen Kreis. Mit einer gewissen Genugthuung gab jeder sich den altgewohnten Beschäftigungen hin.

Graf Asten warf sich mit Feuereifer auf die Bewirthschaftung von Feld und Wald. Das lange Entbehrte hat doppelten Reiz. Unter der Oberherrschaft Tante Christianens glitt das häusliche Leben in seiner einfach großartigen Weise dahin, wie es das glückliche Privilegium solcher stattlichen Hauswesen ist, in welchen die wohlgeübte Leitung die Kleinigkeiten des Betriebes allen Nichtbetheiligten verborgen hält, und weder der Luxus stört noch jemals eine Einschränkung fühlbar wird.

Der jugendliche Kreis war ziemlich auf sich angewiesen. Velden wie Rother waren beide zu Asten geblieben, ihre Einberufung erwartend. Baron Werthern, als nächster Gutsnachbar, und Holdern, der dem Wort seiner Schwester gemäß die nachbarlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten sich bemühte, waren die Gäste, die zeitweilig den Kreis vergrößerten, so daß er immerhin anregend genug war.

Henny flatterte nach Art sechszehnjähriger Mädchen in emsiger Müßigkeit durch das Haus, froh, aller Schulbande ledig, ihre Zeit zu genießen und ihre Pferde und Hunde wieder zu haben. Alle ihre Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Baron Werthern war nicht so langweilig gewesen, zu heirathen, noch hatte er seine Leila verkauft; auch stellte er nicht minder willig als einst dem Kinde, der jungen Dame sein Eigenthum zur Verfügung. Die beiden Jahre ihrer Abwesenheit hatten ihn zwar etwas tiefer in seine besten Jahre hineingeführt und angefangen, seinen Haaren einen leichten silbernen Anflug zu geben. Aber das bestritt Henny auf das heftigste. Das kleine Fräulein hatte übrigens dem ältern Freunde sichtlich imponirt, als sie zum ersten Mal in ihrer Würde als Erwachsene ihn begrüßte. Ganz förmlich hatte er die kleine Hand, die sich ihm so lebhaft entgegenstreckte, an die Lippen führen wollen, so daß Henny, erschrocken ob so viel Feierlichkeit, sie zurückzog. Ihr lustiges Lachen brach aber sofort wieder den Bann und stellte das zutrauliche Verhältniß her, obschon er dabei blieb, es etwas ehrfurchtsvoller aufzufassen.

Im Gegensatz zu Henny führte Helene äußerlich ein viel ruhigeres Leben, wenn es auch innerlich um so bewegter war. Ihr Tätigkeitsdrang, der besonders zu geistiger Anstrengung hinneigte, schien durch die Reise noch gesteigert. Selten sah man Helene unbeschäftigt; in ihrer ruhigen Weise umfaßte sie einen großen Kreis von Bestrebungen. Vorzugsweise huldigte sie, wie schon früher, der Malerei, zu der sie stets nicht geringe Befähigung gezeigt; während der Reise hatte sie zu ihrer Ausbildung noch viel gethan.

Die stille Arbeit, die Geist und Hände so gleichmäßig beschäftigt, paßte besonders gut zu ihrem Wesen. Nie sah sie so anziehend aus, als wenn sie an ihrem Maltische saß, in ihre Arbeit vertieft. Hauptsächlich war sie mit dem Ordnen und Vollenden der von der Reise mitgebrachten Skizzen beschäftigt. Die überwiegende Zahl ihrer Aquarelle stammte aus den Tagen, wo sie am Meere geweilt, an dem vorzugsweise gern ihre Erinnerung zu haften schien.

Helene war übrigens selten allein an ihrem Maltische. Die Malerei ist eben die liebenswürdige Kunst, die nicht eigensüchtig von andern sich abzuschließen strebt, noch anspruchsvoll deren Aufmerksamkeit heischt. Helenens Platz war deshalb auch trotz ihres Fleißes stets im Salon.

Der Salon zu Asten mit den anstoßenden kleinern Gemächern bot einen günstigen Vereinigungspunkt. Nach dem Goethe'schen Grundsatz: »Bring' vieles und du wirst jedem etwas bringen,« bot er jedem das, was ihn ansprach. Das mächtige Etablissement der Mitte war für den geselligen Kreis, und die Seitengruppen des behaglichen Ameublements lockten zur vertraulichen Plauderei: die mit Büchern und Journalen überdeckten Tische boten den Freunden der Lectüre und der Politik Gelegenheit zur Beschäftigung, indeß die dicht an das Gemach stoßende Terrasse die Natur fast in das Wohngemach zog. Links war der Musiksalon, rechts fanden Billardspieler und Raucher ihr Genügen, und die tiefen Fensternischen boten Licht und Raum für den, der sich emsiger beschäftigen wollte. Jeder konnte seiner Neigung nachgehen, ohne sich von der Gemeinsamkeit zu trennen. Die Nische, in der Helenens Maltisch sich befand, zählte, wie gesagt, fast immer Gäste. Neben Velden, der mit Vorliebe den Platz aufsuchte, wenn er auch meist nur schweigender Zuschauer blieb, war es Rother, der, wohl als Vertreter der Schwesterkunst, sich sehr behaglich dort zu fühlen schien.

Keiner in dem kleinen Kreise genoß diese Zeit so wie Rother. Nach dem langen Aufenthalte in der Residenz schien er ordentlich wieder aufzuathmen in der ländlichen Stille. Nicht, daß er das Leben in Berlin nicht genossen hätte; alle seine Mittheilungen zeigten, wie reich es ihm gewesen. Aber erst hier schien er zu empfinden, was er dort vermißt, vielleicht richtiger gesagt, was ihm dort zu viel gewesen. Es mochte ihm in etwa gehen, wie jemand, der einer herrlichen künstlichen Beleuchtung beigewohnt hat und dann, wieder an das Tageslicht tretend, eine Art von Erleichterung empfindet. Sehr geistvolle Kreise haben etwas, das man mit dem narkotischen Duft der Hyacinthen vergleichen könnte, der auch, in der Vielheit und auf die Länge genossen, so köstlich wie er an und für sich ist, etwas Ueberreizendes und Abspannendes hat.

Dem einfachern, natürlichern Leben wiedergegeben, fühlte Rother sich so wohl, wie selten. Es war ihm ein hoher Genuß, Helenen von all' seinen Eindrücken Rechenschaft zu geben, alles mit ihr durchzusprechen, was die neue Lebensphase ihm gebracht. Auch Helene schien dadurch sehr erfreut; an Rother's Bestrebungen nahm sie den wärmsten Antheil. Sie war, wie alle ernster angelegte Naturen, stets geneigt, das Leben in seinen Tiefen zu ergründen, was ihre Unterhaltung meist über das gewöhnliche Niveau hob, wenn auch nicht in dem reichen, sprudelnden Maße, wie dies bei Daniella der Fall war.

Rother aber gab sich jetzt Rechenschaft über eine Empfindung, die er in der Hauptstadt nur unklar gehabt hatte. Wohl waren es köstlich belebte Stunden gewesen, die er Daniella verdankte. Er hatte ihre mächtige Fassungskraft, ihre Vielseitigkeit bewundert, wie auch die Weltbildung, die sie mit so viel Glück sich angeeignet, daß er kaum jemals einen Verstoß hatte wahrnehmen können. Aber wenn die Weltbildung auch im vollkommensten Maße sich aneignen läßt, gibt es eine Seelenbildung, die nicht allein aus eigener Kraft zu erringen ist. War es Rother doch oft gewesen, als ob in der reichen Scala von Danielles Geist und Wissen ein Ton fehle, ein Ton, der die andern vermitteln und harmonisch herabstimmen und der selbst auf ihr Aeußeres hätte einwirken müssen. Grell und leuchtend wie die Farben, die sie liebte, trat ihr Geist mit seinem Wissen und Wollen hervor – nicht in kleinlicher Selbstüberhebung, aber in kühlem Selbstvertrauen, wie es der Anbetung der eigenen Geisteskraft entquillt.

Der Inbegriff der Lebens-Auffassung gibt dem Menschen auch das äußere Gepräge. Dem schrankenlosen Aufsichberuhen gegenüber, das ihn bei Daniella eigenthümlich berührt hatte, fand Rother den höhern Reiz des Weibes wieder, das nach anderm als nach der Macht des Geistes ringt, das dort sein Ziel sucht, wo das Ich sich beugen muß, anstatt sich zu erheben, wo ihm das Bewußtsein seiner Unzulänglichkeit mehr nutzt als seine Kraft, und das Haupt des Weibes sich stets noch etwas tiefer neigt als das des Mannes, in der Erkenntniß des Platzes, den des Herrn Wort ihm anwies.

War es dieser Hauch christlicher Auffassung, der Rother in Asten anheimelte, in Helenens Reden sowohl wie in Tante Christianens stillem Thun und selbst in Henny's kindlicher Fröhlichkeit? Wie verschieden auch die Richtungen sein mochten, überall machte sich der gleiche Maßstab geltend, bei der Bedeutendsten im Kreise am meisten hervortretend.

Uebrigens blieben Rother wie Velden durchaus nicht die einzigen Hospitanten an jenem Tischchen; ein dritter nahm mit gleicher Vorliebe dort Platz.

Selten vergingen einige Tage, ohne daß das leichte Gefährt des Barons Holdern mit seinen buntscheckigen Ponies am Schloßportal hielt. Mit einer gewissen vornehmen Ruhe, die ihm nicht übel kleidete, warf Holdern stets schweigsam dem herantretenden Diener – er kam stets ohne eigenen Diener – die Zügel zu, und trat mit kurzem Gruß in den Salon, wo er gewöhnlich in jener Nische bei den jungen Leuten sich niederließ.

Helene blieb dann scheinbar ungestört bei ihrer Beschäftigung. Ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte aber herausgefunden, daß ihre Ruhe etwas Erzwungenes hatte, und daß schon, wenn das Rollen des Wagens nur nahte oder der Schritt Holdern's auf dem Flur hörbar wurde, ihre Aufmerksamkeit abgelenkt war, mochte sie vorher noch so sehr gefesselt gewesen sein durch Arbeit oder Unterhaltung.

Was Holdern anging, so verharrte er stets in der ihm eigenen Abgeschlossenheit und bewies Helenen kaum jemals eine andere Auszeichnung, als daß er den Platz in ihrer Nähe zu bevorzugen schien.

Eigen war es übrigens, daß trotz Holdern's Wortkargheit die Unterhaltung an jenem Tischchen nie lebhafter wurde, als wenn er anwesend war, und oft sogar einen gewissen gereizten Charakter annahm. Freilich war es eine Zeit getheilter Meinungen, erregter Ansichten, wo noch keine Partei festen Boden gewonnen, eine Zeit der Wortstürme, die gleich den Aequinoctialstürmen in den Uebergangsperioden eintreten. Weniger die Beurtheilung der Ereignisse des Augenblickes als die Speculation über das, was aus ihnen hervorgehen würde, wohin Furcht oder Hoffnung zu lenken sei, rief die gährenden Meinungen zum Streit.

Graf Asten liebte im ganzen nicht, daß politische Erörterungen in seinem Salon gepflogen wurden. Principienfragen und Anschauungen socialer wie religiöser Natur traten daher zumeist in den Vordergrund. Dem Baron schien es besonders Freude zu machen, Rother zum Wortstreit zu verlocken, obschon es gewöhnlich Velden's Ansichten waren, die er angriff, selbst wenn seine Rede direct an Rother gerichtet schien. Mit einer kalt hingeworfenen Aeußerung gelang es ihm auch immer, bei Rother zu zünden und die lebhafteste Entgegnung hervorzurufen.

Schwer zu sagen wäre es gewesen, was eigentlich Holdern's Standpunkt in der Politik war, da er ein großes Talent besaß, den Maßstab der Kritik an die Meinungen anderer Leute zu legen, ohne die eigenen aufzudecken. Vielleicht hatte er überhaupt nur sehr unklare Anschauungen; dennoch gab ihm diese Art zu streiten, ein gewisses Uebergewicht.

Nur eines trat deutlich zu Tage; sein religiöser Standpunkt war ein ziemlich negativer. Die Offenheit, womit er seine vollständige Gleichgültigkeit gegen alles religiöse Leben kundgab, sie aber auf angeblich bittere Erfahrungen zurückzuführen suchte, war ganz dazu angethan, in einem frommen Herzen eher Mitleid und Theilnahme als Abneigung zu erwecken. Ein gläubiges Gemüth findet etwas so Trauriges in der Glaubenslosigkeit, daß die innigste Sehnsucht, zu helfen und zu retten, dadurch wachgerufen wird – für ein weibliches Herz vielleicht die gefährlichste Theilnahme, da sie so edel und rein dünkt.

Solcher Theilnahme entstammte wohl der geängstigte Blick, der bei den zweifelnden Aeußerungen Holdern's aus Helenens braunen Augen brach, und der sich oft fast flehend auf die seinigen heftete. Die Widerlegung überließ sie gewöhnlich Rother, der dann im Feuereifer mit den kräftigsten Beweismitteln stritt und darin wenigstens zeigte, daß die alte Begeisterung bei ihm nicht abgenommen hatte.

Holdern schien trotzdem Wohlgefallen an Rother zu finden. Aller Gegensätze ungeachtet kamen sie gut zusammen aus. Henny hatte einst die beiden scherzweise als Engel des Lichts und Engel der Finsterniß bezeichnet, und Helene als die arme Seele, um die sie kämpften. Holdern hatte sichtlich Gefallen an dem Scherz gefunden, während derselbe der »armen Seele« durchaus nicht zu behagen schien.

Weniger gut als zwischen Rother und Holdern gestaltete sich das Verhältniß zwischen Velden und Holdern; der erstere machte kaum ein Hehl aus seiner Abneigung, der andere zeigte ihm kühle Gleichgültigkeit. Velden stand dabei Holdern gegenüber im Nachtheil.

Beide waren stattliche, aristokratische Erscheinungen; aber Holdern's dunklere Färbung und ausdrucksvollere Züge erweckten mehr Interesse als Velden's einfach offenes Antlitz, und neben Holdern's vollkommen weltmännischer Haltung sah Velden steif und landjunkerhaft aus. Beide hatten etwas Schweigsames, aber Holdern sah aus wie jemand, der absichtlich etwas verschweigt, und das zieht die Menschen ungleich mehr an. Velden hatte klare Ansichten, feste Grundsätze; Holdern, wie gesagt, nur eine schneidende Kritik, die aber meist als Anzeichen größern Verstandes gilt. Velden urtheilte sozusagen instinctmäßig richtig über die Menschen; Holdern wußte die Menschen geschickt zu behandeln. Der eine in seiner frischen Jugendkraft sah aus wie ein Mann, dem eine Zukunft bevorsteht, der andere wie einer, der eine Vergangenheit hat; in den Augen der meisten Menschen hat das erstere den größern Reiz.

Velden, Rother's lebhafter Dialectik entbehrend, verharrte meist in schweigender Verurtheilung oder zog sich bei den geistreichen Discussionen ganz zurück, was ihn in keinem vortheilhaften Lichte zeigte.

In Helenens Augen war der Freund nie so pedantisch und wenig liebenswürdig erschienen. Selbst seine guten Seiten erregten ihre Ungeduld, vielleicht wegen des Gegensatzes zu jenem andern.

Holdern hatte durch sein fremdartiges Aeußere gleich bei der ersten Begegnung ihr Interesse erregt. Der Eindruck, den er auf sie gemacht, würde sich aber wohl schnell verflüchtigt haben, hätten nicht andere Umstände mitgewirkt, ihn dauernd zu erhalten.

Während des Aufenthaltes im Süden hatte die Familie Asten auf Grund der künftigen Nachbarschaft die Bekanntschaft der Schwester des Barons gemacht. Carry Holdern suchte augenscheinlich die Astens auf; denn sie wählte zwei Mal mit Absicht denselben Aufenthaltsort wie sie. In der Ferne und Fremde sind aber auch die entferntesten Beziehungen werthvoll; schon die gleiche Sprache gibt Anlaß, sich einander anzuschließen. Carry Holdern hatte von vornherein große Vorliebe für Helene gezeigt und sie geflissentlich heranzuziehen gesucht. Obschon an Alter wie Gefühlsrichtung von ihr verschieden, war Helene durch Carry's ausgesprochene Freundlichkeit angezogen worden. Ueberdies war Fräulein von Holdern leidend, der Pflege bedürftig und rührend in der Liebe zu dem einzigen Bruder. Er war ausschließlich Gegenstand ihres Denkens und Trachtens und er bildete auch stets das Thema ihrer Unterhaltung mit Helene.

Holdern war oft in Gesellschaft der beiden Damen, wenn er bei seiner unsteten Weise auch nie längere Zeit bei seiner Schwester sich aufhielt. Henny's Wort, daß man ihn nur im Reise-Anzug und auf der Durchfahrt sehe, datirte von daher. Er wußte stets mit Astens zusammenzutreffen, wenn auch nur flüchtig.

Die Rücksicht und Aufmerksamkeit, mit der er seine Schwester umgab, hatte etwas sehr Gewinnendes und ließ auf viel Gefühl und Herz schließen. Die Schwester trug das Ihrige dazu bei, ihn in Helenens Augen zu heben, und er war ganz der Mann, der im Spiegel eines reinen Mädchen-Auges mit etwas romantischer Färbung sich wunderbar verklären konnte; seine ruhige, ernste Art stach dabei sehr vortheilhaft neben der überschwänglichen Weise der Schwester ab.

Helene hatte damals eine trübe Zeit durchzumachen, da man von Tag zu Tag für Herbert's Leben zitterte. Doppelt süß waren ihr daher nach bang durchlebten Tagen die Erholungsstunden, welche sie mit dem Geschwisterpaare zubrachte und die meist mit einem Spaziergange am Meere schlossen. Holdern widmete sich dann ausschließlich Helenen, und in jener Zeit konnte man glauben, er befinde sich in dem süßen Banne der Liebe. Ein Mädchen, das so schön und anziehend war wie Helene Asten, und dabei fast ehrfurchtsvoll zu dem altern Freunde aufsah, konnte den blasirtesten Mann nicht ganz gleichgültig lassen. Holdern sprach wenig; aber er besaß dafür die gefährliche Kunst der halben Worte, die so viel ausdrücken können, wirklich aber in vielen Fällen wenig Bedeutung haben. Freilich wußte Carry's Eifer dieselben oft nachträglich vielsagend zu ergänzen.

Helene befand sich damals in jenem träumerischen Zustande, den vielleicht nur ein Mädchenherz kennt; einen Namen wagte sie ihren Gefühlen nicht zu geben, so tief dieselben auch bei einer Natur wie die ihrige gleich Wurzel gefaßt hatten.

Als Baron Holdern am Abende ihrer Rückkehr sogleich in Asten erschien, gab sie sich zum ersten Male halb unbewußt der süßen Gewißheit hin, daß er um ihretwillen komme. Das Gefühl, das bisher nur geschlummert, erwachte zu vollem Leben. Aber mit ihm erwachte eine große Sorge: die Ueberzeugung von der tiefen Kluft, welche in Bezug auf alles, was ihr hoch und heilig war, zwischen ihnen sich aufthat. In diesem Bewußtsein lag ein Schmerz für sie. Oft suchte sie sich zu überreden, es sei nicht so; am liebsten hätte sie diese Meinungsverschiedenheit vor den Augen der andern verdeckt. Was vermag die Liebe nicht zu überbrücken, und welches Frauenherz hält sich nicht für stark genug, auch die Seele des Geliebten zu gewinnen? Sie wußte so mancherlei Entschuldigungen für ihn zu finden, so vieles hoffte sie von der Zukunft; selbst in den Streitigkeiten mit Rother sah sie Gutes, indeß sie Holdern's stetes Kommen sie immer mehr in dem Glauben an seine Neigung bestärkte.

Bei ihrer Selbstbeherrschung und Holdern's sich immer gleich bleibender kühler Weise ahnte niemand in der Familie Helenens Neigung. In der Gunst des Grafen stieg Holdern fortwährend wie Helene freudig bemerkte, wenn er auch in vielen Punkten nicht mit ihm einverstanden war. Die nachbarliche Weise, in der Holdern auftrat, die Art, wie er den Grafen zu Rathe zog und wie er sich im Lande einzuleben schien, gefiel demselben, obgleich auch er oft gleich Henny sich wunderte, weshalb Holdern stets so viel abwesend, so viel auf Reisen sei, nun er doch einmal von seinem Gute Besitz genommen habe.

Velden empfand die Trennung, die durch Holdern zwischen ihm und Helene entstanden, mit dumpfem Mißbehagen. Die Freude, die er von der Rückkunft der Asten'schen Familie, der er mit so vieler Sehnsucht entgegengesehen, sich versprochen hatte, wurde ihm dadurch sehr beeinträchtigt.

Im politischen Leben hatte indeß der Streit in Worten längst sein Ende gefunden. Folgenschwere Thaten hatten sich mit großartigen aber blutigen Lettern in der Geschichte verzeichnet, ehe der dritte Monat seit der Rückkehr nach Asten begonnen.

Auch Rother und Velden waren, ehe der Monat zu Ende gegangen, zum Militairdienst einberufen worden. Da sie für's erste noch in Bornstadt stationirt blieben, hatte das aber kaum eine Aenderung in den Astener Kreis gebracht, indem sie jede freie Stunde für den Verkehr mit den Freunden ausnutzten, was bei der nur unbedeutenden Entfernung nicht schwer war.

Frau von Velden war auf des Grafen Einladung nach Asten gekommen, um des Sohnes Nähe noch so viel als möglich zu genießen. Die Verwendung im Felde ließ für Velden bedeutend länger auf sich warten, als man gedacht hatte. Der Tag, der ihn abrief, sollte aber nicht ausbleiben.

Der Augenblick des Abschieds hat etwas Ergreifendes auch für das Herz des ruhigsten Mannes, wenn er zum ersten Male dem vollen Ernst des Kriegslebens entgegentreten soll. Heiß war das Gefühl auch in Velden's jungem Herzen aufgewallt, als nun endlich in Wirklichkeit dieser Augenblick an ihn herantrat. Er hatte Rother, dessen Pflichten ihn nicht so fesselten, schon am Nachmittag nach Asten gesandt, um die Familie vorzubereiten. Ihm selbst blieb nur eine knappe Frist in den Abendstunden. In flüchtiger Eile legte Hermann, um noch eine kurze Weile mehr zu erobern, den Weg nach Asten zu Pferde zurück.

In solchen, fast geheiligt erscheinenden Stunden empfindet man nichts widerwärtiger, als jemand anzutreffen, der uns nicht sympatisch ist. Velden konnte kaum die Verstimmung verbergen, als er in dem Kreise, der sich schon zu seinem Empfange versammelt hatte, auch Holdern erkannte. Warum mußte er, der ihm die ganze Zeit verbittert hatte, auch diese Augenblicke ihm noch stören?

In etwa wurde er versöhnt durch die besondere Herzlichkeit, mit der alle ihm an dem heutigen Abend entgegenkamen, und die besonders bei Helene hervortrat. Sie hatte das Gefühl, daß sie bei dem Freunde etwas gut zu machen habe.

Aus Rücksicht auf Frau von Velden, die muthvoll ihre Fassung behauptete, wurden ernste oder gar wehmüthige Anklänge vermieden, und jeder suchte das Gespräch in flüssigem Lauf zu erhalten. Aber diese Gezwungenheit der Stimmung ließ keine rechte Gemüthlichkeit aufkommen. War Velden durch Holdern's Anwesenheit verstimmt, so schien Holdern in besonders aggressiver Stimmung. Eine erste Debatte über allerhand ernste Zeitfragen war schon durch Velden's Ankunft unterbrochen worden. Gern hätten die andern sie ruhen lassen, wäre Holdern nicht mit Hartnäckigkeit darauf zurückgekommen. War es, um das Gespräch im Gang zu halten, oder konnte er es sich nicht versagen, Velden zu reizen: er traf jedenfalls den empfindlichsten Punkt, indem er seine Zunge rücksichtslos gegen alles schießen ließ, was Velden als Eigenart seines Landes hochhielt. In seinen Streitigkeiten mit Rother hatte Holdern sich objectiv gehalten; heute aber schien es ihm Freude zu machen, so viel der gute Ton eben erlaubte, gegen Velden sich persönlich zu richten. Mit schneidenden Worten geißelte er die Richtung, die Hermann festhielt, und zeichnete scharf jenes theilnahmlose, schwerfällige, allem Neuen abholde, alle alten Vorurtheile anbetende, im eigenen Winkel haftende Wesen, es in's Lächerliche verzerrend, dabei freilich immer mit Geschick den Gegensatz Asiens dazu betonend.

Frau von Velden's Gesicht verzog sich schmerzlich; es lag manches in dem Bilde, das etwas Treffendes hatte. Graf Asten widersprach. Velden selbst, der am heutigen Abend wenig zum Wortstreit aufgelegt war, fühlte seinen Unmuth immer mehr steigen und würde wohl den Gegner sehr derb abgefertigt haben, wäre ihm nicht in dem Augenblick eine Parteigängerin erstanden, die er in der letzten Zeit wenig auf seiner Seite gesehen.

Hatte Helene den drohenden Unwillen auf Hermann's Stirne bemerkt und wollte dem Ausbruch vorbeugen? Verletzte es sie, den Freund gerade jetzt in eine so unangenehme Situation gedrängt zu sehen? Oder kränkte es sie selbst, heimische Anschauungen durch Holdern angegriffen zu hören? Vielleicht auch merkte sie, wie der Baron trotz aller Höflichkeit, mit welcher er ihre Familie stets als Ausnahme hervorhob, bei derselben doch anstieß, und wollte einen tiefergehenden, unangenehmen Eindruck verhüten. Genug, lebhaft wie fast nie, griff sie gegen Holdern den Streit auf.

Anmuthig wußte sie sich selbst als die Angegriffene hinzustellen, und mit feinem Verständniß begann sie das entgegengesetzte Bild zu entwerfen, alle Lichtseiten hervorhebend. Eine tiefere Veranlassung, als die Wendung des augenblicklich schwebenden Streites, ließ sie die treue Gesinnung, die Hingabe an den Glauben betonen und den festen Charakter, die ganze Tüchtigkeit des Volkes darauf zurückführen. Ihr Auge richtete sich dabei groß auf ihren Gegner – aber nicht in starrem Widerspruch: es lag die fast rührende Bitte darin, er möge sich überzeugen lassen. Sie sprach warm und gut, so daß es ihrer geistigen Entwickelung zur Ehre gereichte.

Niemand hörte ihr mit solchem Entzücken zu wie Velden; je unerwarteter ihr Eingreifen kam, desto mehr Freude und Genugthuung gewährte es ihm. Oft hatte ihn in letzter Zeit der Gedanke gedrückt, daß Holdern's Lebensansichten auf Helene Einfluß übten, und die Unmöglichkeit, ihnen entgegenzutreten, hatte ihn verdrossen. Alle seine Befürchtungen schwanden jetzt. Helene stieg in seinen Augen wie nie. Nicht allein darum, weil es Holdern war, dem sie entgegentrat, war er so entzückt, sondern weil er selbst beim Weibe eine kernige Meinung, eine bestimmte, feste Ueberzeugung liebte. Auch Rother, Graf Asten und Tante Christiane spendeten Helene den lebhaftesten Beifall.

Dessen ungeachtet brach diese plötzlich in ihrer Rede ab. Holdern war nicht der Mann, der von einer Frau, wenn sie die Grenze spielenden Wortkampfes überschritt, eine Entgegnung sich gefallen ließ. Das kalte, ironische Lächeln, mit dem er auf Helene blickte, war genügend, ihren Eifer zu dämpfen.

Es gibt Augenblicke im Gesellschaftsleben, die fast unbemerkt vorübergehen und in denen doch ein Drama gleichsam in zwei Worten zwischen den Betheiligten sich entwickelt.

Mit dem Scharfblick der Liebe erkannte Helene, daß sie mit eigener Hand ihrem Herzen einen vielleicht tödtlichen Stoß versetzt habe. Die kalte Verbeugung, mit der Holdern anscheinend scherzweise für die empfangene Lehre dankte, die spöttischen Worte, mit denen er die Streitbarkeit der Frauen im Lande der zähen Meinungen pries, zeigten ihr, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Helene war noch so jung, so unerfahren, daß eine Empfindung sie überkam, als habe sie eine Schuld auf sich geladen.

Holdern hatte auch keinen versöhnenden Blick, als er sich gleich darauf empfahl. Helene mußte sogar bei seinem plötzlichen Aufbruch glauben, sie habe seinen Abschied beschleunigt. Es war verabredet gewesen, der Baron sollte Rother nach Bornstadt zurückbringen, da er selbst den Nachtzug benutzen wollte, um wieder eine seiner Reisen anzutreten, von denen er selten oder nie Ursache oder Ziel angab. Doch wäre es noch nicht nothwendig gewesen, die Fahrt zur Bahn schon anzutreten. Helene hörte überdies, wie Holdern zu Graf Asten sagte, er werde sich auf längere Zeit verabschieden müssen. Ein bitteres Gefühl quälte das arme Kind, und mühsam drängte sie die Thräne zurück, die ihr heiß in's Auge stieg, als Hermann, noch entzückt und begeistert von ihrer Rede, sich ihr näherte.

Thörichter Knabe, der er war! Er glaubte, das Leid, das er in ihrem Antlitz sah, könne dem Abschiede von ihm gelten. Hatte sie denn einen treuem, ältern Freund als ihn? War sie nicht eben noch so warm für ihn eingetreten? Er mußte seinem Herzen Luft machen; er freute sich so sehr, daß der Baron sie endlich verlassen hatte, daß diese letzten Augenblicke ihnen im traulichen Kreise verblieben ohne Holdern, der mit seinen Anschauungen ihnen allen doch so fremd war. Der Groll, der all' die Wochen in Velden's Herzen sich angesammelt, brach jetzt hervor. Er fand die Ansichten Holdern's schrecklich, er kennzeichnete sie schonungslos, indem er die ganze gefährliche Tragweite derselben hervorhob, denn Abneigung sieht scharf.

Aber unglücklicher hätte Hermann den Augenblick nicht wählen können. Ein Weib erträgt nichts schwerer, als den Geliebten tadeln zu hören. Helenen's sonst so sanftes Auge flammte, ihre Stimme klang scharf. Zürnend wies sie ihn zurück. Sie fand es engherzig, einen Fremden gleich zu verurtheilen; sie nannte es vermessen, den Maßstab so scharf anzulegen, wenn jemand nicht die gleichen Anschauungen theile. Sie erklärte, sie hasse nichts so sehr, wie die Einseitigkeit, die nicht einmal in einen reichern, größern Geist sich hineinzudenken vermöge und nur den eigenen kleinen Horizont kenne. Scharfe, bittere Worte waren es, wie nur die Qual eines solchen Augenblicks sie auszupressen vermag, wie vielleicht nur die Ungerechtigkeit sie eingibt; denn in dem Moment sah sie in Velden nur den, um dessen willen sie noch vor wenigen Augenblicken den Geliebten beleidigt hatte.

Hermann erschrak über die Schroffheit ihrer Rede, die Kälte, mit der sie sich abwandte und ihn verließ. Er war zu betroffen, um gleich Worte zu finden. Der Moment des Abschiedes war für ihn gekommen. Seine Mutter umarmte ihn und flüsterte ihm noch herzliche Worte zu. Auf des Grafen Ruf traten alle Mitglieder der Familie, selbst die alten Diener des Hauses heran; alle wollten den jungen Baron, der ihnen fast als Kind des Hauses galt, scheiden sehen. Aber umsonst suchte Hermann im Abschiedstrubel nach Helenen. Herbert bemerkte der Schwester Abwesenheit und rief laut ihren Namen.

Hermann war aber schon zu Pferde gestiegen, als sie zu den andern heraustrat, die, auf der Schloßtreppe versammelt, ihm ihre Abschiedsgrüße zuwinkten. Helene sah bleich aus und ihr Auge war feucht. Die andern alle deuteten das zu Hermanns Gunsten; sie kannten ja der jungen Leute lange Freundschaft. Frau von Velden umfing sogar Helene doppelt zärtlich in dem Augenblick.

Hermann aber war schon nicht mehr der thörichte Knabe, zu denken, ihre Rührung gelte ihm. Er hatte den Schlüssel der Lage gefunden. Fort sprengte er, ohne den Blick noch zu wenden, nur ein grimmes Gefühl im Herzen: daß es wohlthuend sei, jetzt Kämpfen und Schlachten entgegenzugehen.

Helene war kaum weniger erregt zurückgeblieben. Sie hatte bemerkt, wie ihre Worte ihn verletzt, und der Abschied that ihr leid. Noch mehr irritirte sie die falsche Auslegung, die man ihrer Bewegung gab. In dem Familienkreise ihre Selbstbeherrschung zu wahren, kostete ihr daher große Anstrengung; und als sie endlich ihr Zimmer aufsuchte, wurde sie noch durch ihrer Schwester Geplauder gequält, die, von den Tagesereignissen angeregt, besonders redselig war.

Henny schien gerade heute eine besondere Laune dafür zu haben, den Unterschied zwischen den verschiedenen jungen Männern hervorzuheben. Sie war geneigt, Rother den Preis zuzuerkennen. Er bleibe sich immer gleich, meinte sie, und seiner Schönheit wie seiner guten Laune thue selbst der häßliche Recrutenrock keinen Eintrag. Helenens hartnäckiges Schweigen, als sie da stand und ihr langes Haar strählte, daß es wie ein dichter Schleier über ihr Gesicht fiel, legte der Kleinen endlich doch den Gedanken nahe, ihrer Schwester Herz sei schwer bedrückt, was sie natürlich nur der Abreise Hermann's zuschrieb. Reuig über ihr gedankenloses Geplauder barg sie das Köpfchen in die Kissen, was bei ihr gleichbedeutend mit augenblicklichem Einschlummern war.

Ihre ruhigen Athemzüge lösten den Bann, der auf Helene gelegen. Mit einer unbeschreiblich leidenschaftlichen Bewegung hob sie die Arme und barg das Antlitz in den Händen, während ein leiser Wehlaut sich von ihren Lippen löste.

Sie erschrak selbst vor diesem stürmischen Gefühl, das ihr Herz wie mit Flammen umfing und so gebieterisch allein darin herrschen wollte. Was liebte sie diesen Mann so innig, von dem sie kaum wußte, ob er ihre Liebe erwiderte! Warum gerade diesen Mann, der in allem ihr entgegenstand, dessen Zweifel ihr so tief in die Seele schnitten – und doch fühlte sie, daß sie um diesen Mann alles hintansetzen, alles andere vergessen könne! Den Freund ihrer Kindheit und Jugend hatte sie um seinetwillen heute gekränkt, ohne Gruß und Abschied hatte sie Hermann ziehen lassen in das ferne Kampfgefilde, von wo er vielleicht nimmer wiederkehrte, – und bloß weil er einen Tadel aussprach, den sie im tiefsten Innern gerechtfertigt finden mußte, hatte sie das gethan. Aber dennoch: was war ihr der Freund, was waren sie alle gegen ihn – gegen ihn!

Er aber, wie hart war er gewesen! Mit ihrem Herzblut hätte sie das kalte Lächeln auslöschen mögen, mit dem er sie gestraft. Ungerecht war es von ihm, und dennoch hätte sie vor ihm niederknieen mögen, gern jedes Wort zurückgenommen, das sie gesagt, nur um ihn zurückrufen zu können. Gab es denn keinen Damm gegen dies aufbrausende Gefühl, das sie fortriß, das sie verleugnen ließ ihren Stolz, ihre Ueberzeugungen, alles, was sie bisher hoch gehalten!

Ein Zittern unnennbarer Angst ging durch ihre Glieder. War das das Gefühl, wovon es heißt, daß der Mensch kein irdisches Geschöpf so lieben soll? War das die Uebermacht irdischer Leidenschaft, vor welcher Gott warnt, daß wir nicht ihr Sklave werden, – die erst so süß dünkt und dann uns in schwere Fesseln schlägt?

Helene sank auf die Kniee – eine dämmernde Erkenntniß durchrieselte sie; sie wollte sich demüthigen, sie wollte dagegen ankämpfen. Aber wild bäumte sich das Herz auf; ein leises Schluchzen, das sie nicht zu unterdrücken vermochte, entstieg ihrer Brust.

Da huschten leise Schritte heran, zwei Arme umschlangen sie, ein blondes Köpfchen schmiegte sich zärtlich an sie: »Helene, liebste Helene, sei nicht so grenzenlos traurig,« flüsterte Henny, athemlos erschrocken. »Hermann ist ja doch nicht gleich in Gefahr! Papa meinte sogar, wo man ihn jetzt hinbeordert, sei kaum noch Ernstliches zu befürchten. Härme dich doch nicht schon jetzt, – daß du Hermann so lieb hättest, habe ich nie gedacht.«

Es ist ein eigenthümlicher Rückschlag, wenn in hoch erregte Gefühle plötzlich solch' einfach nüchterne Worte dringen und aus dem Sturm der Empfindungen zur reellsten Auffassung zurückführen. Die Wirkung war im ersten Augenblick nicht gerade angenehm.

»Aber es ist ja gar nicht um Hermann's willen. Ich ängstige mich nicht. Geh' zu Bett, Henny. Laß mich allein; ich werde schon wieder ruhig werden,« versicherte Helene, die kleine Trösterin fast ungeduldig abwehrend.

»Ruhig werden, wo du solchen Kummer hast?« wiederholte Henny indignirt. »Ich wollte dich nicht belauschen, aber ich wurde wach und sah dich so. Helene, du bist schon seit längerer Zeit traurig und verstimmt – ich habe es bemerkt. Wenn du Hermann auch liebst, warum grämst du dich? Er liebt dich ja auch – das kann man schon sehen. Und warum warst du oft so wenig freundlich gegen ihn? Papa wird nichts gegen euere Liebe haben; er hat ja Hermann so gern. Reich ist er freilich nicht, und du könntest gewiß eine viel bessere Partie machen,« plauderte die Kleine weiter, in ihrem praktischen Sinne gerade auf das Ziel zugehend.

»Ich sagte dir ja schon, daß es gar nicht um Hermann ist,« flüsterte Helene, das Haupt jetzt an der Schwester Schulter lehnend, denn die Nähe eines liebenden Wesens that ihr doch wohl. »Hermann ist ja unser Freund, und weiter nichts.«

»Nicht um Hermann's willen?« fragte jetzt Henny ganz erstaunt. »Aber warum denn? – etwas ist es doch!« beharrte sie. »Du kannst es deiner Schwester doch anvertrauen, Helene. Sag' mir, was dir ist,« schmeichelte sie, sanft den braunen Scheitel streichelnd. »O, Helene!« fuhr sie plötzlich auf, von einer Eingebung getroffen, »doch nicht Rother? Rother war so viel mit dir zusammen in dieser Zeit – ihr sprachet fortwährend mit einander, und er ist so schön und gut. Aber, Helene, das wäre doch schrecklich! Denke dir, was das für Papa ein Kummer sein würde, – denke doch an den Unterschied – wenn er auch ein Künstler ist.«

»Sprich doch nicht so tolles Zeug, Henny. Das wird Rother gerade so wenig einfallen wie mir,« erwiderte Helene, sich ein wenig stolz erhebend. »Geh' zu Bett, Kind,« setzte sie hinzu, von der Schwester sich losmachend.

»O, dann denkst du an Holdern!« rief Henny geängstigt. »Helene …. ich bitte dich …. du wirst doch nicht an den schrecklichen Mann denken!«

Helenens Hand legte sich auf der Schwester Mund. »Sprich nicht weiter, sage nichts über ihn, – oder ich könnte dich nie wieder so lieb haben als früher!« sagte sie gebieterisch. »Ich weiß, er hat euch alle gestoßen, und ihr seid jetzt ungerecht gegen ihn,« fuhr sie erregter fort. »Ihr könnt nicht wissen, was für ein Mißgeschick ihn verbittert, wie die Welt sein warmes, fühlendes Herz umgewandelt hat, daß er an nichts mehr recht zu glauben vermag.«

»Andere Menschen leben auch in der Welt und haben auch ihr Theil Leid und Unglück, ohne zu werden wie er,« murrte Henny. »Aber ich begreife nicht, was dich so schmerzt und ängstigt, wenn du ihn lieben kannst. Er kann recht froh darüber sein. Oft genug ist er gekommen in der Zeit; aber daran habe ich nicht gedacht. Liebt er dich, Helene?«

»Als ob ich an so etwas dächte,« flüsterte Helene, tiefer ihr Haupt neigend.

»Du glaubst das nicht, und liebst ihn doch?« fragte Henny grenzenlos erstaunt.

Aber Helenens schönes Haupt hob sich wieder. »Ich weiß nicht, ob ich mich einst geirrt habe, als ich wähnte, daß er mich suche,« sagte sie mit einem reizenden Gemisch jungfräulichen Stolzes und kindlicher Demuth. »Ich weiß jetzt nur, daß ich ihn liebe, ohne weiter zu denken, ohne weiter zu fragen. Gebe Gott, daß ich nicht unrecht daran thue; gebe Gott, daß ich ihn genug liebe – nicht allein sein Herz, sondern seine Seele zu gewinnen! Ich habe schon oft geglaubt, ich könnte es, und dafür wollte ich alles gern tragen, – aber heute habe ich ihn gewiß zurückgestoßen, habe ihn durch meinen Eifer verletzt, den er so unweiblich fand. Du weißt nicht, wie wehe das thut!« seufzte sie schmerzlich.

»Du kannst ihm aber doch nicht in allen Dingen recht geben!« sagte Henny. »Wenn er dich liebt, wird er sich aus solcher Kleinigkeit nichts machen. Der Geschmack ist verschieden. Ich mag solche Menschen nicht, aus denen man nie recht klug wird. Ich halte es mit denen, die man durch und durch kennt,« und die Kleine schien ihre Nebengedanken dabei zu haben. »Aber alles schwärmt gleich für Holdern,« fuhr sie fort. »Lilly Maldinger neulich ebenfalls, obschon er sie kaum angesehen. Aber wenn du ihn liebst, Helene ….«

»Still,« unterbrach die Schwester sie, gleichsam abkühlend dadurch berührt, daß sie sich mit einer anderen auf eine Linie gestellt sah. »Sprich nicht mehr davon. Du hast mich einmal schwach gesehen, doch das wird nicht wieder geschehen. Laß es zwischen uns wie begraben sein. Bitte Gott, daß er mir das tragen helfe – daß er mein Schicksal lenke zum Guten. Liebe Henny, hilf mir beten – auch für ihn.«

Henny's Miene wurde bei der letzten Bitte ein wenig störrisch. »Auch den lieben Gott damit noch plagen!« rief sie, die rothen Lippen aufwerfend. »Als ob du mit deinen Augen und den langen Zöpfen nicht den sprödesten Ritter einfangen könntest,« setzte sie schelmisch hinzu. »Er wird schon froh sein, sich fangen zu lassen. Du bekehrst ihn, Papa sagt Ja und Amen – und schließlich gibt's eine Hochzeit. Das ist alles. Nur der arme Hermann thut mir schrecklich leid.«

Helene wollte ein empörtes Gesicht machen über der Kleinen leichtfertiges Geplauder, doch vermochte sie ein Lächeln nicht ganz zu unterdrücken. Der geheimnißvolle Bann, der auf ihrer Liebe gelegen, war durch die Aussprache hinweggenommen, – sie war in ein natürliches Licht gerückt. Mit einem Kuß auf Henny's Stirne wiederholte Helene die Bitte, endlich die Ruhe zu suchen, und Henny gab nach, da sie erkannte, daß die hochgehenden Wogen in Helenens Herz sich beschwichtigt hatten.

Aber auch sie fand jetzt nicht sogleich die Ruhe wieder, aus der sie aufgestört worden war. Die ganze Scene hatte ihr viel zu denken gegeben. Sie fand die Liebe entsetzlich, besonders so »in's Blinde hinein«, wie sie es nannte, und schlief ein mit dem Wunsche, von solchem Sturm verschont zu bleiben.


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