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Für Helene war die Zeit der Erwartung bis zum Eintreffen von Rother's Antwort eine große Geduldsprobe. Ihr banges Harren war mit jener Scheu vermischt, die sich des Aufschubs freut, weil sie vor der Bestätigung des Vermutheten zittert. Sie schwankte zwischen der Befürchtung, entweder dem Geliebten durch Zweifel oder Mißtrauen Unrecht zu thun, oder anderseits durch die eigene Liebe sich blenden und täuschen zu lassen.
Helene würde ihre innere Unruhe noch mehr empfunden haben, wäre nicht, wie es oft in der Welt geht, ein Uebel der Balsam für das Weh des andern geworden. Die Frühlingszeit, die stets für Herbert Asten sich schädlich erwiesen hatte, übte auch in diesem Jahre ihren schlimmen Einfluß aus. Man mußte zu dem bisher noch wirksamen Mittel einer möglichst schnellen Uebersiedelung in wärmeres Klima seine Zuflucht nehmen. Dem Grafen erschien jedoch das wiederholte Fernbleiben von seinem Heim lästig, und so war es sein Wunsch, daß nur Helene dem Bruder in der Ferne Gesellschaft leiste. Wenn er auch bei seinen Leiden nicht allein gelassen werden durfte, war er jetzt in einem selbständigen Alter, so daß er als der Schwester Schutz gelten konnte. Graf Asten beabsichtigte, seine Kinder nach dem gewählten klimatischen Curorte im südlichen Frankreich zu begleiten, sie dort zu etabliren und dann den alten Ebert bei ihnen zurückzulassen.
Helene empfand bei aller Liebe zum Bruder diese Anordnung als ein schweres Opfer. Sich so weit zu entfernen, während sie in solcher Ungewißheit schwebte, erschien ihr qualvoll. Der Gedanke, daß jedes Wiedersehen dadurch für lange Zeit hinausgerückt werde, beunruhigte sie, und mehr noch die Möglichkeit, daß Holdern ihre Entfernung so auffassen könne, als wolle sie das Band ihrer Liebe lösen. Doch, wie schwer es ihr auch wurde, sie hatte ihr Herz zu gut geschult, als daß sie eigensüchtig den Wünschen desselben hätte Gehör geben sollen, und sie war stark genug, niemanden merken zu lassen, welchen Kampf die Erfüllung ihrer Pflicht sie koste.
Des Grafen Entschluß bezüglich der Entfernung Helenens war nicht ohne Nebenabsicht gewesen. Nach de Bussy's Abreise hatte Henny sich nicht enthalten können, dem Vater über die Ursache von Helenens fortgesetzter Sprödigkeit einige Aufklärung zu geben. Nichtsdestoweniger vermochte er nicht, eine Einladung auszuschlagen, welche Carry Holdern gerade in jenen Tagen an Helene richtete. Carry Holdern hatte die Pflege der Freundschaft mit Helene die letzten Jahre hindurch nicht vernachlässigt, wenn auch ihre zunehmende Kränklichkeit sie zwang, ihre Besuche in Asten sehr zu beschränken. Ihre Correspondenz war um so eifriger gewesen, und die Zärtlichkeit, die sie Helenen von Anfang an bezeugt, schien sogar zugenommen zu haben; nur glaubte diese zu finden, daß Carry seit einiger Zeit weniger von ihrem Bruder rede, obgleich sie dessen Ankunft oder Abwesenheit regelmäßig erwähnte. Helene meinte aus ihren Briefen eine gewisse Sorge und Unzufriedenheit über seine Bauten und Pläne herauszufühlen.
Holdern selbst hatte, wenn auch in der zartesten Weise, Andeutungen über seiner Schwester Reizbarkeit fallen lassen. In den letzten Wochen aber war jeder Brief Carry's ausgeblieben, was Helenens Unruhe noch vermehrt hatte. Daß Fräulein von Holdern von ihrem bedeutend verschlimmerten Leiden sprach, gab dafür eine ungesuchte Erklärung. Die schnellzüngige Fama, die auch auf dem Lande aller Entfernungen spottet, hatte ihr die Kunde von Helenens bevorstehender Abreise zugetragen, und daher bat sie auf das dringendste, sie vorher aufzusuchen, indem sie die Besorgniß durchblicken ließ, daß dieses Wiedersehen das letzte sein dürfte. Ihres Bruders Abwesenheit erwähnte sie in einer Weise, als wolle sie ein Hinderniß aus dem Wege räumen.
Helene war noch nie in Holdernheim gewesen, denn Carry's gastliche Pläne waren nicht zur Ausführung gekommen. So lag für sie ein eigenthümlicher Reiz darin, den Ort kennen zu lernen, mit welchem der Geliebte so eng verbunden war und der deshalb in der letzten Zeit mehr wie je ihre Phantasie beschäftigt hatte. Die Einladung schien ihr jetzt ein tröstliches Zeichen.
Fräulein Carry von Holdern empfing ihre Gäste mit den ihr eigenen demonstrativen Liebeserweisen; sie überschüttete Helene sogar in fast beängstigender Weise mit Zärtlichkeit. Das Erregte, Fieberhafte in ihrem Benehmen schob Helene auf ihren körperlichen Zustand, da ihr Aeußeres die Fortschritte ihres Leidens unverkennbar verrieth. Fräulein von Holdern sprach auch von ihrem Bruder in ganz erregter Weise und verhehlte nicht ihre Unzufriedenheit über seine Unternehmungen, als wolle sie alle Verantwortung dafür von sich abweisen. Auch über seine fortdauernde Abwesenheit klagte sie, gab aber dem Uebermaß von Beschäftigung die Schuld. Ueber seinen augenblicklichen Aufenthaltsort und die Zeit seiner Rückkunft schien sie selbst im Ungewissen oder wollte sich nicht darüber äußern. Den großen Bauten und der kostspieligen Einrichtung stand sie nicht allein fremd gegenüber, sondern hatte eine sichtliche Abneigung dagegen. Ihre Wohnung hatte sie auf den einzigen davon unberührten Flügel beschränkt, dessen Einfachheit seltsam gegen den Luxus abstach, den man rings umher sich entfalten sah.
Aber während Carry die neue Einrichtung tadelte, heftete sie ihre Blicke scharf auf Helene, um den Eindruck zu sehen, den alles das auf sie hervorbringe. Mit erneuter Zärtlichkeit wandte sie sich dann ihr zu, von dem trefflichen Einfluß redend, den sie, Helene, auf ihren Bruder stets gehabt habe. Sie erinnerte daran, wie oft er sie seinen guten Engel genannt, und beschwor sie fast, ihm dies zu bleiben, was auch kommen möge.
Die Rede war besonders in diesem Augenblick für Helenens Gefühl schwer zu ertragen. Stolz und Liebe stritten einen heißen Kampf in ihrem Herzen. Wie stark sie sich auch im voraus dagegen gewappnet, gewann das Gefühl doch so sehr die Oberhand, daß sie sich kaum mehr zu beherrschen vermochte. Wenn auf der einen Seite Carry Holdern ganz deutlich eine Beziehung zwischen ihr und ihrem Bruder annahm, vermißte Helene doch in Carry's Worten die einfache Versicherung, daß Holdern ihr eine Neigung entgegenbringe. Dabei empfand sie noch einen andern Rückschlag: die neu entfaltete Pracht übte eine ganz erkältende Wirkung aus sie aus. In der übermäßigen Ausschmückung, die überall angebracht war, lag etwas Prunkhaftes, was dem einfachen, soliden Geschmack des Landes widersprach. Helene verstand nicht, wie dieser übertriebene Prunk Holderns Schöpfung sein könne. Daß ihr Vater es übernahm, mit einigen höflichen Phrasen seine Bewunderung über das rasche Entstehen von so viel Neuem auszusprechen, erleichterte sie sehr, da sie selbst keine Worte dafür zu finden vermochte.
Helene kehrte sehr unbefriedigt von der Fahrt zurück; die Unruhe ihres Herzens war nur gesteigert worden. Wenige Tage später reiste sie mit Vater und Bruder nach dem südlichen Frankreich ab. Als Rother's Brief sie erreichte, war sie schon geraume Zeit an ihrem neuen Aufenthaltsorte. Der Graf hatte die Geschwister auf das comfortabelste eingerichtet, unter der Sorge bewährter Dienstboten zurückgelassen; der tüchtige Arzt, dem er Herbert anvertraut, hatte ihn bei der Abreise ganz beruhigt. Ein lebhafter Briefwechsel mit der Heimath ließ Helene die Entfernung weniger empfinden. Herbert aber schien dieses Mal den Anfall der Krankheit schwerer zu überwinden; sein Zustand verlangte viele Pflege, und die erhöhte Thätigkeit für ihn, die fremde Umgebung und die zauberhafte Gegend lenkten Helenens Gedanken unwillkürlich ab.
Die Bestätigung der Eröffnung de Bussy's, welche Rother's Brief ihr brachte, traf sie aber doch auf das grausamste. Sie hatte sich noch den Trost gegönnt, zu zweifeln an dem, was sie gehört; ja, je länger Rother's Antwort ausgeblieben, desto mehr hatte sie sich der süßen Illusion hingegeben, daß sie sich getäuscht habe. Aber nun war keine Täuschung mehr möglich! Ihr Stolz nicht minder wie ihre Liebe war verwundet. Rother hatte ihr nichts zu ersparen vermocht, da Klarheit durchaus nothwendig war. Aus tiefster Seele flossen ihm die Worte, die er seinem Berichte anfügte. »Verzeihen Sie, Gräfin, wenn ich sage, daß ich weiß, wie sehr diese Nachrichten Sie schmerzen werden. Das Menschenherz ist unerforschlich und unberechenbar, und der Herr selbst hat dem Gefühl große Macht über uns gegeben. Ruft doch ein ernster Denker aus: »Was dem Menschen während dieses kurzen Lebens wichtig ist, ist, daß er liebe und daß er geliebt werde.« Mögen wir aber dabei niemals vergessen, daß das menschliche Herz mit seinem Fühlen und Empfinden ein irdisch Ding ist, jeder Täuschung und jedem Wechsel unterworfen. Das Auge kann sich täuschen, des Menschen Sinn kann irren, und menschliche Liebe kann es auch. Doch wer geirrt hat, möge nicht zögern, ehrlich einzugestehen, daß sein Herz einem Irrthume erlag. Nicht Treue dürfen wir es nennen, uns zum Sklaven eines Gefühls zu machen; wahre Liebe kann nicht leben, wo wir nicht achten können. Sie ist dann nicht mehr, was jede echte, reine Liebe sein soll: ein Frühlingshauch, der durch das Herz zieht und es zu neuem Leben erweckt; sie gleicht dann dem todtbringenden Hauche des Samum: sie dorrt das Herz aus und verwandelt es in trostlose Wüste. Gräfin Helene, Sie, die ich als Bild echter Weiblichkeit verehrte, in deren Herz der Strahl der göttlichen Lehren sich senkte: möge Ihnen jetzt die Kraft nicht fehlen, einen großen Irrthum zu erkennen! Hadern Sie nicht mit sich, hadern Sie nicht mit der Vorsehung, die es zuließ. Gottes weiser Rathschluß will uns oft unsere Schwäche zeigen, damit wir uns beugen lernen in Demuth. Aber wenn wir der Schwäche inne geworden, dann liegt es in unserm freien Willen, uns dagegen zu erheben. Insofern liegt Glück und Leid, Schmerz und Freude in des Menschen eigener Hand. Wer aber mit einem Irrthume nicht brechen, mit einem Schmerze sich nicht abfinden will, sei es aus Stolz, sei es aus Uebermaß der Leidenschaft, der hat das Leid zum Begleiter sich erwählt, und dereinst wird ihm vielleicht sein zerstörtes Leben zur Anklage werden, weil nur ein frisches Herz zu wirken vermag. Möge Gott Ihnen helfen! Wie groß die Gnade ist, wenn Seine Lehre uns leuchtet, das vermag ich jetzt erst recht zu erkennen, da ich sehe, wie der stärkste Geist und die edelsten Anlagen nicht hinreichen, den rechten Pfad zu finden, wenn des Menschen Stolz den Zugang wehrt. Auch mir ist es eine tiefe Demüthigung, daß ich dieser Seele den Weg nicht eröffnen konnte, daß ich sie jetzt auf dem dunkelsten Irrpfade sehe, während ich sie dem rechten Ziele schon nahe glaubte. Sie sehen, wie sehr Sie irrten, da Sie hofften, meine Stimme könne Einfluß haben. Für Sie aber flehe ich zum Herrn, daß Er Ihren Schmerz lindern möge. Ihr Irren entstammte keiner unedlen Regung; jedem edlen Schmerze aber entsprießt ein Segen, der ihn aufwiegt.«
Die Augen starr auf Rother's Schreiben gerichtet, brauchte Helene lange Zeit, ehe sie den Sinn der Worte völlig zu fassen vermochte.
Helenens Herz war wohl kaum weniger leidenschaftlich als das Daniella's. Die Liebe, die darin Wurzel geschlagen, war nicht minder tief – die Demüthigung, die sie erlitt, war sogar ungleich größer als die, welche Daniella getroffen. Nicht um eines höhern Zieles willen – nur einer niedern Berechnung oder eines neuen Spielwerkes wegen sah sie sich verlassen; sie mußte erkennen, daß sie das Kleinod ihres Herzens weggeworfen hatte, ohne daß es nur gewürdigt worden war. Aber, wie Rother sagte, ihrem Herzen hatte der Strahl geleuchtet, der den bittersten Schmerz wie die tiefste Demüthigung in das rechte Licht zu setzen und zu verklären vermag. In den heftigen Sturm hinein klangen wie leise Glockentöne Rother's Worte. Er hatte recht gehabt, seinem Gefühle zu folgen und ihr Leid zu beschwören mit mildem, heilendem Zuspruch. Wohl will der Stolz, daß der Mensch einzig auf sich beruhe; aber des Herrn ewig wahres Wort sagt: Tröstet einander.
Tröstlich auch wehte es Helenen aus Rother's Brief entgegen. Kraft lag in dem Rathe des Freundes, das Uebel einfach und fest in's Auge zu fassen, nach neuer Gesundheit zu ringen, anstatt kraftlos das Unglück zu beklagen. Helenens Haupt senkte sich, als die innere Stimme ihr sagte, ihr eigener thörichter Wille habe sich das Idol aufgerichtet, von dem sie hätte wissen können, daß es nur aus unedlem Erz bestehe. Heiß brannte die Thräne, als sie, die eigene Schuld erkennend, sich sagen mußte, daß fürwahr diese Liebe ihr keine frohe Lenzesbotschaft gebracht, sondern stets nur wie ein Alp auf ihr gelastet.
Als Helene das Haupt wieder erhob, wunderte sie sich fast, daß sie sich nicht unglücklicher fühlte, daß die Welt ihr nicht finsterer dünkte, daß der blaue Himmel sie anlächelte, und daß sie die Pracht erkannte, welche die sinkende Sonne über Land und Meer ausgoß. Erleichterung lag darin, daß eine fremde Landschaft sie umgab, daß weder Henny's forschende Augen noch Tante Christianens mild fragende Blicke auf ihr ruhten. Was ihr so schwer geworden, diese Reise in die Ferne, gereichte ihr nun zum Segen. Hier in der Fremde, wo sie vor jeder Annäherung seinerseits sicher war, wo sein Name nicht ihr Ohr treffen konnte, war es leichter, den Schmerz zu überwinden.
Nur die Fragen ihres Bruders, der Rother's Brief gesehen, scheute sie in etwa. Aber ihre Sorge war unbegründet. Als sie die Veranda betrat, fand sie Herbert in ziemlich erregtem Wortgefecht mit seinem Arzte, welcher öfter kam, einige Zeit mit seinem Patienten zu verplaudern. Bei dem Eintritte der Dame unterbrach Monsieur Roussillon vielleicht nicht ungern den Streit, indem er Helene begrüßte, und empfahl sich dann, um sich seinen übrigen Patienten zu widmen, wie er sagte. Er hatte Herbert die neuesten politischen Nachrichten überbracht: die spanische Thron-Candidatur war eben am politischen Horizonte aufgetaucht und wirbelte viel Staub auf. Herbert's patriotisches Gefühl war auf das tiefste verletzt durch die anmaßende Versicherung des Franzosen, Frankreich werde nimmer gestatten, daß ein Deutscher, zumal ein Mitglied des Zollern'schen Hauses, diesen Platz einnehme.
»Nimmer gestatten? Als ob wir sie fragen würden!« wiederholte Herbert noch ganz zornig, nachdem der Arzt ihn schon verlassen hatte. »Diese Franzosen mit ihrer Arroganz, sich als die Herren der Welt zu geriren, können einen wahrlich in Harnisch bringen. Unsere letzten Kriegserfolge lassen die Herren nicht schlafen,« fuhr er voll Eifer fort. »Sonderbar, wie hier zu Lande die vernünftigsten und ruhigsten Menschen unzurechnungsfähig werden, sobald von uns Deutschen die Rede ist. Wenn sie dabei noch in ihrem eigenen Lande ideale Zustände hätten! Aber in Wirklichkeit sieht man bei ihnen nichts als Zerfahrenheit, wenn sie ihren Empereur auch zehn Mal wiederwählten. Monsieur Roussillon ist selbst ein eingefleischter Republicaner, der nur des günstigen Augenblickes harrt; er behauptet das Gleiche von dem ganzen Süden hier. Und nun uns maßregeln zu wollen! König Wilhelm wird sie wahrlich nicht erst um Erlaubniß fragen, was ein preußischer Prinz zu thun hat!«
Herbert redete sich eifriger in seinen patriotischen Zorn hinein, als für seinen Zustand zuträglich war. Bei seiner Schwester fand er weder Widerspruch noch Theilnahme. Sie unterbrach seinen Monolog nur, um ihn zu mahnen, er möge sich nicht länger der Abendluft aussetzen. Weder die spanische Thron-Candidatur noch die Wirrsale der Zeit vermochten jetzt Eindruck auf sie zu machen. Die Wirrsale ihres Herzens forderten für's erste allein ihr Recht.