Theodor Däubler
Das Nordlicht (Genfer Ausgabe)
Theodor Däubler

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Lieder im Seelenschein

Was?

        Ist es wirklich wahr,
Ruft in jeder Stimme,
Wenn sie auch so leise klingt,
Ursprungslos und wunderbar
Gott in seinem Grimme:
Wenn dir das zu Herzen dringt,
Menschenkind, so glimme!

Was, o was? ich horche ja!
Horche manches Leben,
Bin dem Winde immer nah,
Winde mich zum Nichts zurück,
Selbst mich zu erheben:
Trachte, als von Gott ein Stück,
Frei vor Gott zu beben!

Stürme umarmen mich,
Halsen uns alle und rufen:
»Als mir noch niemand glich,
Blieb ich so still in dir;
Als wir uns schufen,
Wurden wir Wind und Tier
Und mußten verstufen.«

Böen, ereignet euch!
Höhen, vernehmt eure Höhe!
Dann heul ich euch nach. Ich der Geist.
Dann zerr ich an jedem Gesträuch
Und wehe: wehe, wenn ich entflöhe,
Dann würdet ihr, die ihr vereist,
Nicht wissen, daß ihr zerreißt.

Menschen, so fasset euch:
Lauscht in die stürmenden Stimmen: 540
Helft mir, begreift einen Schrei!
Die Seelen durchfegt ein Gekeuch!
Ihr löscht nicht das Gottesergrimmen:
Ach, würde ein einziger frei,
So müßten wir klimmen, erglimmen!

Der Wirrwarr verwirbelt nicht mehr.
Wir waren vielleicht nie beisammen.
Wie schwer wird der Geist unserm Meer,
Und dem Geiste die Schöpfung – wie leer!
Wir müssen uns fliehend verdammen:
Jungfräulich doch immer entstammen:
Zusammen geht alles ursprünglich einher. 541

 

Vollmond

        Es ist der Mond der Gott des Todes aller Wesen.
Schwer schleppt die Erde ihn als Leiche durch den Raum.
Wir gleichen seiner Bleichheit, wenn wir kaum verwesen,
Und großes Schweigen drängt sich um den Glaubenstraum,

Wer sah noch nie Verblichene, in Silbermilde,
Zum weißen Eiland, hoch und nordergriffen, ziehn?
Du hältst sie wohl für sichtbar eigne Schwangebilde,
Von seltnen Träumen unsrer Träumlichkeit verliehn!

Doch glaubt es nur, das ist der Toten Glaubensglauben:
So ist ihr tiefstes, eigenmenschlichstes Erschaun!
Wohl will ein dunkler Ruf sie ihrer selbst berauben,
Daß sie so panisch rasch im Morgengrau ertaun.

Von welcher Sehnsucht sind die Toten uns enthoben?
Im Leben, schon von aller Monde Mond bewohnt,
Beginnen wir das Ungewohnteste zu loben
Und werben überraschend klar um unsern Mond.

So zeigt der Vollmond bloß die weiße Scheidungsscheibe,
Die andre Seite hält er, als der Tod, versteckt:
Doch sichelt er dahin, erblaut auf seinem Leibe
Der Erde Lebensglanz, der sich hinüberstreckt.

Dem Monde folgen auch die großen Weltenwogen:
Mit geilem Weiberlachen stürzt die Flut daher:
Die Wellen glucksen, hopsen kindisch ungezogen
Und sind der Tod vom Monde und die Brunst im Meer.

Ein Ölbaum steht allein im Mondenscheine.
Der frühe Tau umzittert sacht die Zweige. 542
Du glaubst, daß sich die Nacht herniederneige,
Und ihre Seele fürchtet, daß sie weine.

Die Ur- und Sterbensschönheit heller Haine,
In deren Wesenswidmungen ich schweige,
Durchzittern mich, wo ich mich sinnig zeige,
Und wittern, daß ich tiefes Wünschen meine.

Ich greife in das schleiernde Geäste:
Die Tollheit ist der Baumwucht nun verbunden,
Der Schreck so herb, als ob er jetzt die Nacht durchnäßte.

Die Schönheit, die uns tötet, herzt mich innig.
Ihr Mondlichtschleier hält mich bleich umwunden:
Du meine Braut um mich, wie bin ich minnig!

 

Der blaue Wahnwitz in den stillen Silberstunden
Entwägt sich unerbittlich aller Wesen Glaubenslauschen.
Wir seufzen auf: der Glaube hat sich doch entwunden –
Und du verträgst des Urvertrauens Unterrauschen.

Die Herzerlebnisse entsilbern rings den Auen.
Die Schleierbräute wundern sich in Nordlichthainen.
Um dich ereignet sich ein ungeheures Schauen,
Und alle Nordgeister versuchen zu erscheinen.

Der Takt der Herzen ist der Flügelschlag der Erde.
Steil tragen sie die Leidenden durch reine Himmel:
Wie leicht die Heimat ist – das Sein ohne Gebärde!
Das bloße Gute im verkindlichten Gewimmel!

Der Tod ist weiß! Er liebt die Bräute und die Greise.
Der Mond ist rein! Und seine Weiße ist ein Engel. 543
Der Tote schweigt! Der Stumme aber kennt die Reise.
Wir horchen doch, und immer stirbt die Flucht der Mängel.

Verwurzle dich, wo du auch bist, in deinem Norden.
Der Vollmond kommt, mit Schönheit dich zu schminken.
Er naht, er kommt zu dir, das Sonnenbild zu morden:
Im Schlund der Wonnenwelt, in dir, mußt du versinken. 544

 

Neumond

        Die Saat der Sterne überwältigt alle Geister.
Es wagt nicht ein Komet dem Schicksal zu entschleichen,
Und auch die Erde überläßt sich ihrem Meister.

Wer ahnte jetzt den Flug der fernen Sternenleichen?
Der Mensch, ein dauernder, dort mordideeumkreister
Gedanke seiner selbst, mag nur ein Maß erreichen.

Der Geist wird starr, in seiner Dinglichkeit vereister:
Statt aus der Unausschöpflichkeit hervorzuquellen,
Versetzt er sich in sich, und um sich selber kreist er.

Die Seher können Schlangenschicksale erhellen,
Der strengen Einsicht mag die Seele sich versichern:
Was stirbt, versucht das Sterbenswissen festzustellen.

Auf Erden sah die Nacht sich nie in schauerlichern
Eröffnungen über das innerste Erkalten,
Doch alle Kindlichkeiten fangen an zu kichern.

Das Wasser kann am allerselbstgläubigsten walten.
Der Ozean ist frei. Und freier noch sind Quellen.
Und Seele strömt aus allen starren Ausdrucksspalten.

Jetzt werden die Gesetze urdurchschaut zerschellen!
Die Erde nimmt das Schicksal aus dem eignen Leibe
Und überflutet ihren Zwang mit Willenswellen.

Die Wellen aber sind ein Wink vom Weltverbleibe:
Die Weiblichkeit wird rein, und frei die Erde.
Ein Weiheschein entwallt dem leidgeheilten Weibe. 545

Der Schlaf wünscht, daß Erwachtsamkeit untötbar werde;
Das Träumen trachtet die Unsterblichkeit zu ahnen:
In beiden kreist das Ende der Geburtsbeschwerde.

Das Feuer loht, die stille Glutnacht anzubahnen:
Die Nacht, in der die Nächte aus sich selber tagen
Und kalte Wahrheitsflammen an die Allmacht mahnen.

Der Mond ist tot! Doch kann die Erde Monde tragen.
Es folgt dem Sohn, den ihre Mitte uns gespendet,
Das Kind der Höhe, das Gedanken überragen.

Die Nacht hat sich zum klaren Eigentag gewendet.
Das Fleisch ist frei und überstirbt das Sterbenssterben.
Vom Schlafe ward dem Tod der Traum emporgesendet.

Die Starre sieht sich schreckerstarrt in Gletscherscherben:
Ekstatisch liegt die Erde da, in bleichem Eise,
Und kann die Wahrheit aller Weltungen erwerben.

Die Erde weiß! Sie bleibt aus Freiheit im Geleise.
Sibiriens Hirn gebiert das stille Lichterfrieren.
Gebirge glühn und wandern plötzlich eignerweise:

Den Himmel, den sie schafft, wird keine Welt verlieren.

 

Die Erde liegt vereist und ohne Eisesleben:
Sie starrt mit ihren Gletschern in die Daseinsleere.
Sie fühlt den Glauben an die stillen Sternenheere
Und lockert ihren Wirkungswunsch in Glastgeweben.

Sie hat das Steingewand mit ihrem Kern umgeben.
Aus den erstarrten Meeren strahlen Flammenmeere. 546
Ihr Geist ergreift die reifen Ewigkeitsverkehre
Und sucht die Stille, nur um Stille zu durchschweben.

Die Erde hat sich selbst in jedem Hauch erfahren,
Und ihre Urerleuchtung starrt in kalten Flammen,
In denen andre Sterne ihren Schwesterstern gewahren.

Unsterblich sind die Garben, die sich selbst entstammen,
Die, ohne Gleichnisse, ihr Wesen offenbaren
Und die schon waren, als die Welten sie gebaren.

 

Verzückung flammt die Erde durch die kalten Sphären.
Ihr Blut und ihre Glut sind ohne Wunsch erfroren,
Denn sie ist rein, ein Zweifeln mag sie umgebären.

Der Neumond ward zwei Riesenfeuerohren
Für fremder Welten holdes Unsre-Welt-Belauschen,
Und nicht ein Wort, das hier erstand, geht wo verloren.

Der Neumond kann die Erde als ihr Herz berauschen,
Das tief die Gletscher sprengt und flammend sich erweitert
Und pocht, durch das Gehör die Einsicht einzutauschen.

Kein einziger Versuch, zu sein, ist da gescheitert.
Durch Junggeburten hat der Urmond sich vernommen
Und sein Erleuchten unsre Schicksale erheitert.

Der Erde Ewigkeit ist zu sich selbst gekommen!
Sie mag verglühen, denn ihr »Werde Wort« wird bleiben:
Der Fels und drum die Flut sind eisigdick erglommen.

Verzückt kann meine Erde Monde urwärts treiben:
Des Wortes Unaussprechlichkeiten dauern weiter:
Das Weiblichste wird sich dem Geiste einverleiben! 547

Die Ewigkeit ereilt sich nicht auf eigner Leiter.
Was sie gebiert, kehrt in sich ein, und andres scheidet:
Wir sind nur einmal tausendfache Weltbeschreiter.

Ein Mond, der ungeschöpft die Nachtgewalten weidet
Und nur der Sohn der Erde ist und durch die Seelen flimmert,
Tritt aus sich selbst, so daß die Mutter gar nicht leidet,

Und Er gebiert den Himmel, der uns tief durchschimmert. 548

 


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