Alexander Dumas d. Ä.
Die Fünfundvierzig
Alexander Dumas d. Ä.

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Chicots Börse.

Chicot brachte die ganze Nacht träumend in seinem Lehnstuhl zu. Träumend ist das richtige Wort, denn in der Tat, es waren weniger Gedanken, als Träume, was ihn beschäftigte.

Zur Vergangenheit zurückkehren, mit einem Blicke eine ganze, beinahe im Gedächtnis verwischte Epoche am Feuer eines einzigen Blickes sich erhellen sehen, heißt nicht denken. Chicot wohnte die ganze Nacht in einer Welt, die längst von ihm verlassen und mit erhabenen oder anmutigen Schatten bevölkert war, die der Blick der bleichen Frau, einer treuen Lampe ähnlich, einen nach dem andern mit seinem Gefolge von glücklichen und schrecklichen Erinnerungen an ihm vorüberziehen ließ.

Als die Morgendämmerung die Scheiben seines Fensters versilberte, sagte er: »Die Stunde der Gespenster ist vorüber, wir müssen nun auch an die Lebendigen denken.«

Er stand auf, gürtete sein langes Schwert um, warf über seine Schultern einen Oberrock von weinhefenfarbiger Wolle und einem auch für den stärksten Regen undurchdringlichen Gewebe und prüfte mit der stoischen Festigkeit des Weisen den Grund seiner Börse und die Sohle seiner Schuhe.

Diese erschienen Chicot würdig, einen Feldzug zu beginnen, und jene verdiente eine besondere Aufmerksamkeit.

Chicot, der, wie man weiß, ein Mensch von erfindungsreicher Einbildungskraft war, hatte nämlich den Hauptbalken ausgehöhlt, der sein Haus von einem Ende zum andern durchzog und zugleich zur Zierat und zur Festigkeit diente, denn er war bunt bemalt und hatte wenigstens achtzehn Zoll im Durchmesser.

Aus diesem Balken hatte er sich durch eine Aushöhlung von anderthalb Fuß Länge und sechs Zoll Breite eine Kasse gemacht, in der tausend Goldtaler enthalten waren.

Chicot hatte folgende Berechnung angestellt: »Ich gebe jeden Tag den zwanzigsten Teil eines solchen Talers aus; ich habe also Mittel, zwanzigtausend Tage zu leben. Ich werde sie nie leben, aber ich kann die Hälfte erreichen, und dann vermehren sich, je älter ich werde, meine Bedürfnisse und folglich meine Ausgaben, denn die Gemächlichkeit muß mit der Abnahme des Lebens zunehmen. Somit habe ich zwanzig bis fünfundzwanzig schöne Jahre zu leben. Das ist, Gott sei Dank, genug.«

Als er diesen Morgen seine Kasse öffnete, um sich seine Rechnung zu machen, sagte er zu sich selbst: »Bei Gott! das Jahrhundert ist hart, und die Zeiten sind nicht für die Großmut geeignet. Ich habe kein Zartgefühl gegen Heinrich zu beobachten. Diese tausend Goldtaler kommen nicht einmal von ihm, sondern von einem Oheim, der mir sechsmal mehr versprochen hatte. Dieser Oheim war allerdings Junggeselle. Wenn es noch Nacht wäre, würde ich hundert Taler aus der Tasche des Königs nehmen, aber es ist Tag und ich habe keine andere Quelle mehr, als bei mir selbst und . . . bei Gorenflot.«

Der Gedanke, von Gorenflot Geld zu beziehen, ließ seinen würdigen Freund lächeln.

»Es wäre ja schön,« fuhr er fort, »wenn Meister Gorenflot, der mir sein Glück verdankt, hundert Taler seinem Freunde für den Dienst des Königs abschlüge, der ihn zum Prior der Jakobiner ernannt hat.«

»Ah!« sagte er, »er ist nicht mehr Gorenflot.«

»Ja, aber Robert Briquet ist immer noch Chicot. Doch der Brief des Königs, der Brief, der Navarra in Flammen setzen soll, ich sollte ihn vor Tag holen, und der Tag ist gekommen. Ah! dieses Mittel werde ich haben, und es wird sogar einen furchtbaren Schlag auf den Schädel Gorenflots tun, wenn mir sein Gehirn zu schwer zu überzeugen ist. Vorwärts also!«

Chicot fügte das Brett wieder ein, das sein Versteck schloß, befestigte es mit vier Nägeln und bedeckte es mit der Platte, auf die er gehörig Staub streute, um die Fugen zu verstopfen; dann schaute er, zum Aufbruch bereit, zum letzten Male dieses kleine Zimmer an, wo er seit vielen glücklichen Tagen undurchdringlich und bewacht war, wie es das Herz in der Brust ist.

So beruhigt schloß Chicot seine Tür, deren Schlüssel er mit sich nahm; als er sodann hinausging, um das Ufer zu erreichen, sagte er: »Ei! ei! dieser Nicolas Poulin könnte wohl hierher kommen, meine Abwesenheit verdächtig finden und . . . Ah! diesen Morgen habe ich nur Hasengedanken. Vorwärts.«

Indes Chicot seine Haustür nicht minder sorgfältig schloß, als er seine Zimmertür geschlossen hatte, bemerkte er an einem Fenster den Diener der unbekannten Dame, der, ohne Zweifel in der Hoffnung, so früh am Morgen nicht bemerkt zu werden, Luft schöpfte.

Dieser Mann war erwähntermaßen ganz entstellt durch eine Wunde an der linken Schläfe, die sich über einen Teil der Wange erstreckte. Durch die Heftigkeit des Schlages von der Stelle gerückt, verbarg eine von seinen Augenbrauen beinahe völlig das linke, in seine Höhle eingesunkene Auge. Dabei hatte er trotz seiner kahlen Stirn und seinem gräulichen Barte einen lebhaften Blick und eine auffallende Jugendfrische auf der Wange, die verschont worden war.

Beim Anblick Robert Briquets, der seine Türschwelle hinabstieg, bedeckte er sich den Kopf mit seiner Kapuze. Er machte eine Bewegung, um zurückzutreten, doch Chicot bedeutete ihm durch eine Bewegung, er möge bleiben.

»Nachbar,« rief ihm Chicot zu, »das Gelärm gestern hat mir mein Haus verleidet; ich will einige Wochen auf meine Meierei gehen; wäret Ihr wohl so gefällig, von Zeit zu Zeit einen Blick nach dieser Seite zu werfen?« – »Ja, gern,« antwortete der Unbekannte.

»Und solltet Ihr Diebe bemerken . . .« – »Seid unbesorgt, ich habe eine gute Büchse.«

»Ich danke. Indessen hätte ich Euch noch um einen Dienst zu bitten. Doch es ist zu zarter Natur, um es Euch von ferne zuzurufen, Nachbar.« – »Dann werde ich hinabkommen.«

Chicot sah den Unbekannten in der Tat verschwinden, und als er sich während dieses Verschwindens dem Hause näherte, hörte er seine Tritte im Hausflur schallen, dann öffnete sich die Tür, und sie standen einander gegenüber.

Diesmal hatte der Diener sein Gesicht völlig in seine Kapuze gehüllt.

»Es ist heute sehr kalt,« sagte er, um seine geheimnisvolle Vorsicht zu verbergen oder zu entschuldigen.

»Ein eisiger Nordwind, Nachbar,« erwiderte Chicot, der sich stellte, als schaute er den andern nicht an, um es ihm bequemer zu machen.

»Nun?« sagte der Unbekannte. – »Ich verreise.«

»Ihr habt mir schon die Ehre erwiesen, mir dies mitzuteilen.« – »Ich erinnere mich dessen vollkommen; aber indem ich abreise, lasse ich Geld zurück.«

»Desto schlimmer, mein Herr, desto schlimmer, nehmt es mit.« – »Nein, der Mensch ist schwerfälliger und minder entschlossen, wenn er seine Börse zugleich mit seinem Leben zu retten sucht. Ich lasse all mein Geld wohl verborgen hier, so wohl verborgen, daß ich nur das Unglück eines Brandes zu befürchten habe. Wenn mir das begegnete, wollt das Verbrennen eines gewissen dicken Balkens beobachten, von dem Ihr dort rechts das in Gestalt eines Drachenkopfes geschnitzte Ende erblickt . . . beobachtet, sage ich, und sucht in der Asche.«

»In der Tat,« entgegnete der Unbekannte, sichtbar ärgerlich, »Ihr belästigt mich ungemein. Diese vertrauliche Mitteilung wäre besser bei einem Freunde angebracht, als bei einem Mann, den Ihr gar nicht kennt, den Ihr nicht kennen könnt. Bedenkt, welche Verantwortlichkeit Ihr mir aufbürdet. Kann nicht diese lärmvolle Musik meiner Gebieterin ebenso ärgerlich sein wie Euch, und können wir nicht deshalb die Wohnung verändern?« – »Nun wohl! dann ist alles abgetan, und ich werde mich nicht an Euch halten, Nachbar.«

»Ich danke für das Vertrauen, das Ihr einem armen Unbekannten beweist,« sagte der Diener, sich verbeugend; »ich werde mich seiner würdig zu zeigen suchen.« Und er grüßte Chicot und ging wieder hinein.

Chicot grüßte ihn seinerseits liebevoll und sagte, als er sah, daß die Tür wieder hinter ihm geschlossen war: »Armer, junger Mann, diesmal ist es ein wahres Gespenst, und ich habe ihn doch so heiter, so lebendig, so schön gesehen!«



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