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Asmus als Königsmörder und Galeerensträfling, als Tasso und Petrarca. Er erneuert eine gewisse, für die Folge nicht unwichtige Bekanntschaft.
Ob er den Freund in seinem andern Mithospitanten, jenem Jüngling mit der hebräischen Handschrift finden sollte, der seit einiger Zeit mit ihm denselben Weg zur Schule ging? Claus Münz war ein guter Kerl; aber er redete zu viel von seinen Muskeln. Er war nämlich vierschrötig und starkknochig wie ein Arbeitspferd, und wenn er Sempern die Hand gab, drückte er sie zum Beweise seiner Heldennatur so stark, daß Asmus das Gesicht verzog, und dann wieherte Claus Münz aus vollem Halse wie ein Roß. Er entblößte täglich einmal seinen Arm, um den Bizeps zu zeigen, und hatte den sehnlichen Wunsch, einmal mit einem Athleten vom Spezialitätentheater ringen zu dürfen. Es sei ein Jammer, sagte er, daß er als Schulmeister nur sechs Wochen dienen könne, sonst würde er zu den Gardehusaren kommen, und dann hätte er vielleicht einmal tüchtig in die Franzosen einhauen können. Er hatte als Knabe jenen Geschichtsunterricht empfangen, nach dem die Franzosen Lumpenhunde sind, die Deutschen hingegen bieder und treu. Asmus machte sich anfangs ein Vergnügen daraus, die Franzosen auf jede Weise herauszustreichen; aber bald ward ihm dieser Streit zu dumm. Claus Münz war auch in allen Muskeln und Knochen königstreu; Asmus hingegen war überzeugter Tyrannenmörder. Zwar konnte er kein Tier, geschweige denn einen Menschen leiden sehen, und sein schlimmster Feind hörte auf, sein Feind zu sein, sobald er litt; aber so sehr er Cäsarn bewunderte und liebte, an den Iden des März und bei Philippi hatte er's mit Brutus gehalten, sein Herz hatte den Möros, den Harmodius und Aristogeiton, den Tell und ihren Genossen gehört. Nun war es geschehen, daß ein Mann namens Nobiling aus den Kaiser Wilhelm geschossen und ihn verwundet hatte. Claus Münz war außer sich vor Entrüstung. Asmus, der in der Arbeitsstube der Zigarrenmacher den ersten Wilhelm kaum anders als »Kartätschenprinz« hatte nennen hören, hatte ein lebhaftes Mitgefühl mit dem alten Manne, wenn er ihn sich auf seinem Schmerzenslager dachte, und beklagte die Tat des Mörders; aber er ersuchte doch auch den mit allen Muskeln wütenden Freund, gefälligst nicht zu vergessen, daß Wilhelm I. und Bismarck Tyrannen seien. Er war der Meinung, daß es Fürsten und Minister, Herrschende und Besitzende durchaus in der Hand hätten, dem Volke Brot und Freiheit zu geben, und daß nur Herrschsucht und Habsucht sie daran hinderten. Die Erkenntnis, daß wir alle unter dem Zwange der Notwendigkeit stehen und daß es keine abhängigeren Menschen gibt als die Herrschenden, daß wir alle an Händen und Füßen, die Herrschenden aber an jedem Finger und jedem Haar von Fäden gezogen und geleitet werden, die auf dem Unendlichen kommen, es sollte noch lange währen, bis ihm diese Erkenntnis aufging. Die Geschichtsstunden des Herrn Stahmer hatten wohl ein leises Ahnen von der ehernen Verkettung der Dinge in ihm erweckt; aber dieser Unterricht war zu kurz gewesen und hätte wohl auch, wenn er länger gewährt, auf den jungen Keimen einer Jünglingsseele – einer Kindesseele fast – keine Bäume machen können. Die Geisteskräfte des guten Claus Münz aber waren vollends nicht dazu geschaffen, den jungen Semper zu überwältigen; dieser gab es sogar vollständig auf, zu streiten, weil Claus Münz immer nur muskulöse Behauptungen vorbrachte, und Asmus schleppte geduldig, aber gemartert, jeden Morgen den Geist des Claus Münz hinter sich her wie die Kugel eines Galeerensträflings.
Aber wie schon oft, so sollte er auch jetzt Erquickung und Trost finden bei den Frauen. Die Schule, an der er jeden Morgen hospitierte, hatte sich vergrößert und unter anderen Lehrkräften auch drei neue Lehrerinnen bekommen. Unter diesen war eine musikalische Dame von einer weichen und sanften Schönheit, und es dauerte natürlich keine zwei Tage, bis Asmus sie heimlich besang und in seinem Gedicht versicherte, daß die heilige Cäcilie unter den Irdischen wandle. Sie hatte oft eine Gefährtin bei sich, der Asmus eines Tages »die bezauberte Rose« von Ernst Schulze lieh, die ihm das Buch aber schon am folgenden Tage zurückgab, weil sie es nicht lesen könne, so fromm und tugendsam war sie. Asmus war empört und schwärmte ihr nun recht zum Trotz von Rousseau und Voltaire. Morieux hatte den beiden Damen mit Grimassen und schlenkernden Armen verraten, daß Semper Gedichte mache, »wunderbare, großartige Gedichte!« Und nun, wenn die Schule vorüber war, saßen die beiden Damen auf dem Pult wie auf einem Thron, und Morieux und Semper saßen auf den Kinderbänken zu ihren Füßen; Morieux geigte und Asmus las, fremde Gedichte und eigene; er hatte der Ballade vom ertrunkenen Fischer noch eine Ballade von einer gespenstischen Burgruine hinzugefügt, und Asmus dachte: So war es am Musenhof zu Ferrara oder Avignon.
Noch einen stärkeren Widerhall aber fand Asmus bei einer Frauenseele, von der man kaum begriff, daß sie in ihrem Körper Platz habe. Das war die Seele des Fräulein Wieselin, einer 38jährigen Jungfrau, Lehrerin und Dichterin. Sie war so klein und dünn, daß sie sozusagen nur eine Nadel war, in die der Herrgott einen Lebensfaden gezogen hatte, und diese Nadel fuhr unablässig auf und ab und verarbeitete ihren Lebensfaden mit einem rührenden Eifer und Opfersinn. Im Gesicht sah sie aus wie ein Geheimrat, der immer in einem überheizten Zimmer gesessen hat und darum etwas eingetrocknet ist. Tausend Mark Gehalt erhielt sie im Jahr, und davon ernährte sie sich und ihre Mutter und unterstützte sie die Familie eines kranken Bruders. Sie war damals schon fünfzehn Jahre Lehrerin und war es noch zwanzig Jahre hinterher, und Jahr für Jahr übernahm sie die Kleinsten der Kleinen; die Kleinsten zu lehren ist aber größte Mühe und größte Kunst. Die Bücher, die sie las, mußte sie sich leihen; denn kaufen konnte sie sich keine; aber als sie nach fünfunddreißig Jahren der Mühsal ihr Ende nahen fühlte, da sagte sie: »Ich kann ja zufrieden sterben; ich habe ja ein reiches Leben gehabt.«
In ihren seltenen Mußestunden machte sie auch Verse, kleine, unbedeutende Gelegenheitssächlein; aber da Asmus sie nicht loben konnte, so sprach er nie von ihren Dichtungen. Sie dagegen sprach viel von den seinigen, rühmte sie und sprach ihre Verwunderung darüber aus, daß er gleich mit epischen Gedichten anfange, während die jungen Leute sonst immer mit allgemeinen Gefühlsergüssen anfingen, was auch viel leichter sei. Und sie schloß gewöhnlich mit den Worten: »Ich habe immer das Gefühl, daß Sie kein Lehrer werden, daß wir Sie noch 'mal auf ganz anderen Pfaden wandeln sehen!«
»Vielleicht heirate ich auch die!« dachte Asmus.
Die dritte der neuangestellten Damen hieß Hilde Chavonne, war eine schlanke Brünette mit großen, schmachtenden braunen Augen und einem sanften Stolz der Bewegungen und trotz alledem eine Hamburgerin. Sie und Asmus schenkten einander zu Anfang nur wenig Beachtung, unvergleichlich viel weniger als später. Aber doch mußte er darüber nachdenken, wo er sie schon einmal gesehen habe. Richtig, das war die »Dame in Trauer«, die Seminaristin, die einmal ganz zu Beginn seiner Präparandenzeit mit ihm und einem Bekannten ein Stück Weges zusammen gegangen war. Daß er ihr schon viel, viel früher einmal begegnet war, das konnte er nicht mehr wissen.